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Riga II

Zur Gesellschaft der Schwarzköpfe erzählt man eine liebe Geschichte, die die Kultur in der ganzen christlichen Welt beeinflusst hat. Sie sollte im Jahr 1510 geschehen. Die Attraktion in den nördlichen unendlichen Winternächten war eine Verbrennung eines Baumes am Tag der Wintersonnenwende. An diesem Abend (man konnte bereits am Nachmittag beginnen, da sich hier die Sonne nicht lange zeigt) wurde am Ufer von Daugava ein großer Baum angezündet und dann in den Fluss geworfen. Die Schwarzköpfe haben einen Baum im Wald gefällt und in die Stadt gebracht. Als sie ihn auf die Uferpromenade brachten, begannen sie zu streiten. Manche von ihnen waren der Meinung, dass so ein schöner Baum auch eine andere Verwendung haben könnte, dass es schade ist, ihn zu vernichten. Weil die jungen Kaufleute nicht draußen in der Kälte streiten wollten, begaben sie sich in ihre Residenz, die in unmittelbarer Nähe stand und setzten dort ihren Streit bei Glühwein fort. Die Beratung zog sich in die Länge, der Glühwein war süß und gut und niemand hatte Lust wieder in die Kälte zu gehen. Inzwischen haben Kinder den Baum entdeckt und begannen ihn mit allem, was sie zur Hand hatten, zu schmücken. Mit Bändchen, Papierchen, mit Obst. Als die Herren zum Baum zurückkehrten, trauten sie ihren Augen nicht. Jetzt tat es ihnen noch mehr leid, den Baum zu verbrennen. Sie riefen den Bürgermeister und er entschied, den Baum aus den Stadtmitteln weiter zu schmücken und dann ihn vor dem Rathaus aufzurichten. So entstand angeblich die Tradition der Weihnachtsbäume mit der wir bis heute leben. Ich weiß nicht, ob diese Legende wahr ist (es gibt sicher viele andere Städte, die sich Erfindung dieser Tradition für sich beanspruchen), sollte sie aber nicht wahr sein, ist zumindest gut erfunden und damit auch wert, geglaubt zu werden.

            Gott sein Dank, passierte es noch vor dem Einmarsch der Reformation, zu der die Bürger von Riga im Jahr 1522 konvertierten. Sonst wäre das Beschmücken des Weihnachtsbaumes in Rom sicher zu einer ketzerischen Heidentradition erklärt und durch die höchste päpstliche Instanz verboten worden und demzufolge würden heute die Weihnachtsbäume nur die Protestanten schmücken.

            Die enge Beziehung zu Bremen als der Mutterstadt symbolisiert die hinter der Kirche des heiligen Petrus positionierte Statue der „Bremer Musikanten“ beinahe ident mit der, die in Bremen steht. Es ist ein Geschenk der Stadt Bremen aus dem Jahr 1993 und sollte symbolisieren, dass die deutsche Mutterstadt ihre schöne und ein bisschen extravagante Tochter im Norden nie vergessen hatte.

            Von der Stadtmauer blieb in Riga – in Gegensatz zu Tallin – nicht viel übrig. Nur Pulverturm und Schwedentor, die während ihrer hundert Jahre dauernden Herrschaft über die Stadt die Schweden bauen ließen. Gerade bei dem zweitgenannten Tor haben wir ein fantastisches Lokal mit einem nicht gerade verlockenden Namen „Garaža“, was auf Lettisch tatsächlich „Garage“ bedeutet, gefunden. Lettische, estnische aber auch die litauische Küche ist nicht wirklich einfallsreich, sie steht grundsätzlich auf Schweinfleisch, Sauerkraut und Kartoffeln. In „Garaža“ haben sie allerdings die Blutwurst wie in einem Spitzenlokal zubereitet und serviert, eine echte Haubenküche. Und das für 7.50 Euro, also für einen Preis, der in dem sonst eher teuren Riga einfach märchenhaft war. Auch das dort servierte lettische Bier war durchaus trinkbar, zwar mit viel Malz und damit süßlich, das gewöhnliche Sodbrennen bekam ich aber danach nicht. Ich hoffe nur, dass dieses Restaurant noch existiert und auch die Coronakrise überlebt hat. Es wäre schade, sollte es nicht so sein.

            Das wahre Juwel von Riga ist sein „Jugendstilviertel“. Es ist ein Stadtteil, in dem sich die reichen Bürger ihre Häuser am Ende des neunzehnten Jahrhunderts bauen ließen. Und das im Stil, den die Französen „Art nouveau“ nannten, die Österreicher, die Deutschen und die Bürger von Riga nennen es „Jugendstill“, in Tschechien zum Beispiel wird dieser Stil nach dem Gebäude am wienerischen Naschmarkt „Secession“ genannt.

            In den letzten Jahren wurden diese wunderschöne Häuser privatisiert (die Form erinnert an eine Art Kuponprivatisierung, von der allerdings russische Bürger ausgeschlossen waren) rekonstruiert und sind heute wirklich prachtvoll. Sie sind in erster Linie eine Erinnerung an den genialen Architekten Michail Osipovic Eisenstein, der seine Handschrift an der Mehrheit dieser Häuser hinterlassen hat. Michail Eisenstein verließ nach der Oktoberrevolution Riga und starb im Jahr 1920 in Berlin, sein Sohn blieb aber im kommunistischen Russland und wurde berühmter als sein Vater. Der Name des Regisseurs Sergej Eisenstein ist allgemein bekannt. Der Regisseur, der sich voll in die Dienste der Propaganda der stalinistischen Regierung gestellt hat, kreierte Filme wie „Kreuzer Potemkin“, „Oktober“ „Ivan der Schreckliche“ oder „Alexander Nevskij“. Er konnte Massenszenen frei erfinden, die nie stattgefunden haben und er machte es so überzeugend, dass heute niemand an dem Sturm der Bolschewiken auf den Winterpalast zweifelt, obwohl in Wirklichkeit hier nur eine kleine Einheit durch den Hintereingang mit Hilfe von zwei Handgranaten eingedrungen ist. Die Besucher des Marinski Theaters, wo an dem besagten Abend 7.November 1917 eine Vorstellung stattgefunden hat, haben die Revolution gar nicht bemerkt. Sie wunderten sich, warum die Polizisten auf den Straßen so komisch aussehen. Bald sollten sie sich noch viel mehr wundern. Auch die furchtbare Schlacht auf dem zugefrorenen Peipussee mit der Szene einer Attacke von tausenden gepanzerten Rittern des Deutschen Ordens, obwohl es in Wirklichkeit nur fünfzig gab, ist atemberaubend. Nicht umsonst wurde Sergej Eisenstein von Stalin persönlich ausgezeichnet, obwohl sonst Stalin und die Kommunisten allgemein die Juden nicht ausstehen konnten. In einem der Jugendstilpalästen, die sein Vater baute, hat heute die russische Botschaft in Lettland ihren Sitz – natürlich in einem der schönsten Häuser am Ufer von Daugava.

            Wer Riga besucht, darf natürlich nicht vergessen, den Markt zu besuchen, angeblich einer der größten Märkte der Welt. Ich will es glauben. Der Markt befindet sich in fünf riesigen Hallen.

Diese kaufte die Stadt im Jahr 1922, ursprünglich handelte sich um Flugzeughallen, also kann man sich die Ausmaße gut vorstellen. Der Markt ist auch überall in Freiem um die Hallen, es wird hier alles nur Denkbare verkauft, von Fleisch, Fischen (ein echter Kaviar für lediglich 200 Euro per Kilo, das aber nur wenn man das ganze Kilo kaufen würde, in kleineren Portionen kann der Preis bis zu 600 Euro per Kilo klettern), Kleider, Obst, Gemüse und Pilze. Frische, schöne, direkt aus dem Wald und das bereits Ende Juni! Ich wollte die wunderschönen Pilze fotografieren, aber die Verkäuferin vertrieb mich mit ihrem Stock. Ich flüchtete schnell genug, um nicht mit dem Stock geschlagen zu werden. Aus Frust kaufte ich eine kleine Packung des Kaviars und meine Frau hörte auf, mit mir zu sprechen. Ich stellte dabei fest, dass bei den Verkäufern in den Ständen draußen russisch herrscht, in den Hallen kann man sich mit den Verkäufern aber nur auf Englisch unterhalten. In der Halle ignorierte die Verkäuferin meinen Versuch, den Kaviar auf Russisch zu kaufen, mit einem missachtenden Schweigen (ich kann allerdings nicht ausschließen, dass es auch deshalb sein konnte, weil ich eine lächerliche Menge von 40 Gramm zu kaufen beabsichtigte) – nur dank meines Russisch konnten wir andererseits ein Kleid für unsere Enkeltochter Veronika kaufen. „Girl of age one and a half year“ sagte der Verkäuferin absolut nichts, aber auf „devočka vo vozraste odin s polovinoj goda“ reagierte sie sofort und wir haben das Kleid tatsächlich kaufen können.

            Riga hat also tatsächlich seinen Zauber, es ist multikulturell, musikalisch und schön. Es hat eine ereignisreiche Geschichte und in der Nähe gibt es den schönsten Strand in Lettland namens „Jurmala“. Wir hatten keine Zeit ihn zu besuchen, ich glaube aber nicht, dass wir dort gebadet hätten. Viel wärmer als im estnischen Parnü war das Meer hier sicher nicht. Wer aber gegen Kälte abgehärtet ist, kann hier einen schönen Urlaub erleben.

            Wenn man schon einmal dort ist, sollte man den Besuch des Schlosses Rundale nicht vergessen, den Sitz der Herzöge von Kurland südlich von Riga in Richtung Litauen.

Das Schloss ließ die Zarin Anna Iwanovna (die Nichte Peters des Großen) für ihren Liebhaber Ernst Johann Biron, den sie zum Herzog von Kurland machte, bauen. Das Schloss wird mit Versailles verglichen und das zurecht, es ist aber viel besser gepflegt als die französische Königsresidenz. (Um gerecht zu sein, seine Rekonstruktion ist eine ziemlich neue Angelegenheit und deshalb strahlt noch die Frische der neu bemalten Fassaden). Der Vergleich mit Versailles ist aber gerecht, (vielleicht noch mehr als der Vergleich Rigas mit Paris) dort sieht man, wie sich ausgezahlt hat, ein Liebhaber der russischen Zarin zu sein. Einer Herrscherin im Land, wo das Wort „Samoderžaví“, also „Alleinherrschaft“ noch ernst genommen wird. Damals wie heute.

Sollte die Impflicht gegen Coronavirus kommen?

Ein Plädoyer für eine Impfpflicht

               Es gibt neue Regeln seit Montag, diesmal wirklich fies. Die Österreicher nicht ins Wirtshaus und auf die Piste zu lassen ähnelt der Schlachtung einer heiligen Kuh in Indien. Die Kontrollen werden verschärft, die Polizei hat langsam nichts anderes zu tun, als die Einhaltung der 2G Regel zu kontrollieren. Aber wieder einmal ist das nicht fair und offen. Durch die Diskriminierung der Ungeimpften schafft man lediglich ihre schwer begründbare Benachteiligung. Die Krankenhäuser füllen sich mit ungeimpften Menschen und die geimpften und covid negativen warten vergeblich auf ihre notwendige Behandlung, weil die Abteilungen von den Patienten mit viralen Lungenentzündungen besetzt sind. Der Ratschlag „Dann halt behandelt sie nicht“ ist irrelevant. So lange die Impfung freiwillig ist, sind wir verpflichtet, diese Leute gleich wie alle andere kostenlos zu behandeln und die Österreichische Gesundheitskassa kann sich nicht der Pflicht entziehen, die dadurch entstandene Kosten zu tragen. Die Argumentation, durch die Verpflichtung der Ungeimpften die Therapiekosten mitzutragen, eine Pandora Kiste zu öffnen, weil in Zukunft das gleiche die Raucher oder adipöse Personen betreffen könnte, ist derzeit noch richtig. Das könnte sich nur durch Erlass eines entsprechenden Gesetzes ändern.

               Die einzige juristisch saubere Lösung wäre eine Impfpflicht. Entweder durch ein im Parlament aufgenommenes Gesetz oder durch einen Erlass der Regierung. Die erste Möglichkeit ist natürlich besser. Die Befürchtungen, dass so ein Gesetz die Verfassung verletzt werden könnte, wurde von dem Obersten Gerichtshof widerlegt und sogar der Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gab für so ein Gesetz grünes Licht. Bestimmte Einschränkungen der persönlichen Freiheiten sind zulässig, wenn dadurch eine allgemeine Bedrohung der Gesellschaft minimiert werden könnte. Was könnte man also durch so ein Gesetz erreichen?

  1. Durch die Einführung einer Impfpflicht müsste der Staat die Verantwortung für mögliche ernste Nebenwirkungen der Vakzine übernehmen. Diese müssten im Gesetz genau definiert werden. In einem Todesfall oder im Fall einer schweren Erkrankung (Thrombotische Thrombopenie, Thrombose des Sinus cavernosus, Thrombosen und Embolien, Myokarditiden und Perikarditiden, natürlich, wenn sie in einem direkten Zusammenhang mit der Impfung entstanden sind) würde ein Anspruch auf eine finanzielle Entschädigung entstehen. Ich bin überzeugt, dass es trotzdem finanziell für den Staat weniger belastend wäre als die derzeitige Situation mit den halbherzigen Lösungen. Natürlich müsste man auch mit Querulanten rechnen, die klagen würden, weil ihnen die Schulter weh getan hat oder sie „impotent durch die Impfung“ wurden. Oder andere Probleme, die aber mit der Impfung keinen Zusammenhang haben.
  2. Die Menschen, die sich nicht impfen lassen würden, würden dadurch das Gesetz oder den Erlass der Regierung (je nachdem, wer die Anordnung erlassen würde) verletzen. Dadurch müssten sie für ihre Handlung persönlicher Verantwortung übernehmen. Für die Gesundheitskassa wäre damit die Möglichkeit eröffnet, die Kosten der Behandlung der ungeimpften Personen nicht zu bezahlen. Die Arbeitgeber hätten dann die Möglichkeit, das Bezahlung von Krankengeld zu verweigern.
  3. Freiwillig könnte dann das Tragen des Mund- und Nasen Schutzes werden. Gleich wären damit die Kontrollen in Restaurants und bei Konzerten oder im Kino überflüssig. Wenn derzeit mit dem Schutz der Ungeimpften argumentiert wird, wenn sie nicht in die gemeinsamen Räumen eingelassen werden, ist das einfach eine Heuchelei. Nach dem Erlass des Gesetzes wäre das nur ihre persönliche Entscheidung – für die sie aber auch persönliche Verantwortung tragen müssten. Heute ist es nicht so. Sie verweigern die Maßnahmen, die ihnen EMPFOHLEN werden, die Folgen, dass sie diese Empfehlungen ignorieren, trägt aber die ganze Gesellschaft. Erstens, weil wir alle ihre Behandlung zahlen müssen, zweitens, weil es nicht möglich ist, die Patienten ohne Covid zu behandeln, die ihre Therapie dringend bräuchten. Durch Missachtung einer ANORDNUNG wäre die Situation juristisch in einer anderen Ebene. Vergleich mit Rauchen oder Übergewicht wäre sofort irrelevant (solange das Rauchen oder zu viel zu essen nicht per Gesetz verboten wäre).
  4. Die Hetzerei in den Sozialnetzen oder auf den Versammlungen der Antivaxern gegen Epidemiologen und Ärzten, die impfen oder das Impfen empfehlen, wäre dann eine Straftat der allgemeinen Gefährdung. Dieses Problem ist in unseren Nachbarländern (Slowakei und Tschechien) bereits aktuell und die Epidemiologen werden mit dem Tod bedroht und es wird vor ihren Häusern und Wohnungen demonstriert. Durch die Versuche, die impfwilligen Ärzte einzuschüchtern, geht es dann nicht nur um eine Bedrohung der konkreten Personen, sondern um die Behinderung eines gesundheitlichen Programmes und Bedrohung der Gesundheit der gesamten Bevölkerung.  Dass die Hetzer auf Facebook nicht auffindbar wären, ist nur eine Ausrede der Exekutive, die nicht bereit ist, sich mit diesem Problem zu beschäftigen. Obwohl es von einer zentralen Bedeutung ist. Im Moment des Verlustes der Anonymität, die den Hetzern ein Sicherheitsgefühl bietet, kann man mit Sicherheit von einer massiven Reduktion dieser Attacken ausgehen. Die Hetzer sind keine Helden, schon weil sie so eine furchtbare Angst vor der Nadel haben. Sie sind nur in einer Menschenmasse tapfer, wo sie glauben, nicht entdeckt werden zu können.

Das Schlimmste ist die derzeitige Unsicherheit, die alle Regierungen zeigen. Die Aggressivität der Impf- und Respiratorverweigerer eskaliert derzeit besonders in der Slowakei. Wenn die Regierungen keine juristisch sauberen Lösungen erlassen, wird die Situation immer schlimmer. Wenn sie davon deshalb zurückschrecken, weil sie um die Stimmen der Wähler bei der nächsten Wahl bangen, kann ich sie versichern, dass diese Leute Rechts- oder Linksextreme wählen würden, egal, welche Maßnahmen die Regierungen anordnen.

Die Einführung der Impfpflicht nur für bestimmte Berufe kann zu Abgang der Impfverweigerer aus diesen Berufen kommen (besonders im Gesundheitswesen könnte zu einer kritischen Personalreduktion kommen, die kontraproduktiv wäre). Eine verpflichtende Testung ist keine gute Lösung. Die Teststraßen sind nicht überall und nicht durchgehend verfügbar, besonders an den Wochenenden nicht, und auf das Ergebnis der Testung muss man 24 Stunden warten. Am Montag könnte also keine ungeimpfte Krankenschwerster ihren Dienst antreten. Die Stationsschwester wird dann lieber ihre Mitarbeiterinnen nicht kontrollieren, um den Dienstplan nicht umgestalten zu müssen. Im Fall der allgemeinen Impfpflicht müsste sie nichts mehr kontrollieren. Wenn dann eine Krankenschwester oder ein Arzt krank wird und nicht geimpft wäre, würde für ihn das gleiche gelten, wie für jeden anderen Bürger. Seine Krankenversicherung dürfte die Zahlung der Kosten seiner Behandlung ablehnen und der Arbeitsgeber müsste ihm kein Krankengeld zahlen.

Ich bin überzeugt, dass für eine gesetzliche Regulierung ein breiter Konsensus einer großen Mehrheit der Bevölkerung erreicht werden könnte. Die Zeit ist reif. Die Politik müsste endlich Mut zeigen – also „Eier haben“.

               Bisher hat sie keine.

Riga I

            Vielleicht ist daran mein Akzent schuld. Angeblich habe ich einen typischen tschechischen Akzent, egal ob in Englisch oder in Russisch (In Deutsch habe ich ihn übrigens trotz aller Bemühungen auch nicht abbauen können). Aber wenn ich in einer Bar in Riga auf Englisch bestellt habe, habe ich den richtigen Wein nur bekommen, wenn ich meinen Wunsch dem Kellner auf Russisch erklärte. Beim Einkaufen musste ich in Riga im Gegenteil schnell von Russisch zu Englisch wechseln, um zu bekommen, was ich kaufen wollte. Also weiß ich wirklich nicht, wo der Fehler lag. Während meines ganzen Aufenthaltes in Riga verfolgte mich die Unsicherheit, mit welcher Sprache ich den Verkäufer (Kellner oder die Frau an der Kassa) ansprechen sollte. Die Erklärung liegt nicht darin, dass die Letten die Russen so lieben würden, sondern darin, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung der lettischen Hauptstadt Russen sind.

            Die alte Generation reagiert noch ähnlich wie die Flamen in Brüssel – wenn die Menschen das Gefühl haben, dass der Angesprochene nicht lettisch kann, gehen sie aisch zu Russisch über (gleich wie der Flame von Brüssel zu Französisch). Junge Letten beherrschen aber Russisch nicht mehr, sie lernen fleißig Englisch, da sie ohnehin vorhaben nach Schulschluss nach Großbritannien, Irland oder in die USA auszuwandern. Zwischen den Jahren 2008 – 2014, also nach der Wirtschaftskrise schrumpfte die Bevölkerung Lettlands von 2,4 Millionen auf 1,9 Millionen. Kein Wunder, die lettische Regierung reduzierte die Gehälter der Staatsangestellten sowie auch die – ohnehin schon bescheidenen – Pensionen um 20%, schaffte aber keinen einzigen der 100 Angeordneten oder 22 Ministerien (für knappe 2 Millionen Bewohner!) ab.

            In dem Sprachchaos wurde überhaupt vergessen, dass man in Riga ganze Jahrhunderte Deutsch sprach – es war doch eine Hansastadt, sie wurde von Bischof Albert von Bremen gegründet und jahrhundertelang vom Deutschen Ritterorden regiert. Der Bischof von Riga zählte immer zu Bischöfen der deutschen Nation und auf dem Konzil von Konstanz spielte er als ein Mitglied der deutschen Nation, Berater und enger Verbündete Kaisers Sigismunds eine wichtige Rolle. An Riga hatte immer irgendjemand ernstes Interesse, was für die Stadt nicht immer von Vorteil war. Ein langer Machtkampf zwischen dem Bischof von Riga und dem Deutschen Ritterorden wurde anscheinend durch einen Schiedsspruch des neuen deutschen Königs Rudolf von Habsburg, der dringend Verbündete für seinen Kampf mit dem tschechischen König Premysl Ottokar suchte, im Jahr 1274 zur Gunst des Ordens entschieden. Die empörten Bürger von Riga stürmten demzufolge die Burg des Ordens, der Komtur wurde mit seinen Rittern gefangengenommen und anschließend alle gemeinsam hingerichtet. Der Krieg mit der unbeugsamen Stadt dauerte bis 1330, erst in diesem Jahr gelang es den Rittern den Widerstand der Stadt zu brechen. Im Jahr 1484 unternahmen die Bürger der Stadt den nächsten Versuch, eine Unabhängigkeit zu erlangen. Den Erzbischof, der zugleich auch Mitglied des Ordens war, vertrieben sie nach der Burg Césis und es dauerte weitere sieben Jahre, bis der Orden die Bürger im Jahr 1491zu Gehorsam zwang. Im Jahr 1558 drangen in Livonia das erste Mal Russen des Zaren Ivan des Schrecklichens ein, sie verwüsteten das Land, konnten aber Riga nicht einnehmen. Riga nutzte die Kämpfe in der Region zur Unabhängigkeitserklärung und trieb in der Zeit des Livonischen Krieges seine eigene Politik. Im Jahr 1581 beschlossen aber die Bürger von Riga, dass ein Schutz eines weitentfernten Königs nicht schaden konnte. Ein Geschäft ist übrigens immer ein Geschäft und so unterwarfen sie sich dem polnischen König Stephan Bathory. Im Jahr 1605 schafften es die polnischen Soldaten, die schwedische Invasion von den Mauern der Stadt abzuwehren, im Jahr 1621 musste aber die Stadt vor dem „Löwen des Nordens“, dem schwedischen König Karl Gustaf, kapitulieren. Die schwedische Herrschaft war für die Stadt ein Segen, sie erlebte  goldene Zeiten. Die dauerten aber nicht ewig. Im Jahr 1709 standen wieder einmal die Russen vor der Mauer der Stadt. Die Stadt leistete ganze acht Monate Widerstand und verlor – ich hoffe noch immer, dass diese Angabe im historischen Stadtmuseum ein Schreibfehler war – 94% ihrer Bevölkerung. Sollte es aber kein Schreibfehler gewesen sein, ging im Jahr 1710 eine entvölkerte und verwüstete Stadt in russische Hände über. Der Besitz der Stadt wurde den Russen in dem Friedensvertrag von Nystad im Jahr 1721 bestätigt und Riga blieb bis zum Jahr 1918 russisch.

            Möglicherweise gerade wegen seiner bewegten Geschichte traf ich in Riga die beste Verkäuferin der Welt. Natürlich punktete sie schon damit, dass sie jung und hübsch, lächelnd und positive Energie ausstrahlend war. Sie sprach fließend Deutsch, Russisch, Englisch, natürlich auch Lettisch, slowakische Kunden konnte sie auf Slowakisch zumindest begrüßen und sich bei ihnen für ihren Einkauf auf Slowakisch bedanken. Als ich ein bisschen zaghaft fragte, ob sie auch Briefmarken für die Postkarten hätte (normalerweise werden die Briefmarken in Souvenirgeschäften nicht angeboten, was immer meine Bemühung, meinen Eltern Postkarten zu schicken, zu einer komplizierten Mission mutieren ließ) sagte sie, dass es selbstverständlich wäre, und sie legte mir sofort einige auf die Bank. Sie bot mir sofort auch einen Kugelschreiber an und sagte, dass ich mir mit dem Abschicken keine Sorgen machen müsste. Wenn sie von der Arbeit nach Hause gehen wird, geht sie an der Post vorbei und wird sie ins Postkästchen einwerfen. Ich schaute sie wie eine Erscheinung an. So etwas muss man in dem fernen Norden suchen! Die Postkarte kam bei meinen Eltern tatsächlich an.

            Riga wird auch „Paris des Nordens“ genannt. In meinen Augen ein bisschen übertriebener Vergleich für die lettische Metropole am Ufer des riesigen Flusses Daugava. Nördliche Ströme haben unvorstellbare Ausmaße, ein Mitteleuropäer, der an Elbe, Donau oder Moldau gewöhnt ist, schaut verzückt auf Neva oder Daugava.

Riga gewann den Ruf einer pulsierenden Stadt. Von dem Puls war ich ein bisschen enttäuscht. Um die Gefäße zum Pulsieren zu bringen, muss in ihnen Blut strömen. Das Blut in den Straßen einer Metropole ist das Geld. Und an dem mangelt es den Letten verzweifelt. Bei einem durchschnitten Einkommen 750 Euro (Stand 2015) und bei den Lebensmittelkosten, die mit den österreichischen vergleichbar sind (die Miete ist zwar billiger, aber auch nicht wirklich billig) darf man sich darüber nicht wundern. Die Touristen allein können die Stadt nicht retten (und in der Zeit von Corona schon überhaupt nicht). Besonders für die durstigen Finnen ist Tallin doch näher und sprachmäßig mehr verwandt. Trotzdem ist Riga, diese alte Hansastadt, sehr schön und besuchswert. Übrigens am späten Sommerabend, der nur um wenig dunkler als in Tallin ist, wird hier überall gefeiert. Wir sahen Lokale, wo Letten spontan ihre Nationaltanze getanzt haben (physisch ziemlich anstrengend) aber auch Bars auf dem Platz unter dem freien Himmel, wo man Chansons oder Jazz hören konnte. Eine junge Dame hat Saxofon gespielt. Es wird behauptet, dass das Spiel auf dem Saxofon jeden Mann sexy machen kann (auch der ehemalige Präsident der USA Clinton liebte das Spiel auf dem Saxofon, vielleicht hatte er deshalb auch seine Probleme), aber auch eine junge Dame, die in der Dämmerung Saxofon spielt, hat etwas an sich. Was mich aber meistens schockierte, waren die Kajaks, beleuchtet mit kleinen Lichtern, deren Besatzungen um ein Uhr nach Mitternacht auf der nächtlichen Daugava paddelten. Ich hoffe, dass die Kajakfahrer zumindest Rettungswesten anhatten. Sollten sie nämlich in dem Strom kentern und aus dem Kajak rausfallen, würden sie die Rettungsmannschaften irgendwo im Baltischen Meer herausfischen.

            Riga hat natürlich seine Altstadt mit einigen Kirchen, besonders der Dom, gegründet noch vom Bischof Albert im Jahr 1201 und die Kirche des Heiligen Petrus, sind imposant.

Imposant ist aber auch das Eintrittsgeld, das dort verlangt wird und das bereits damals zwischen 3,50 und 7 Euro betrug. Und das in protestantischen Kirchen, wo der Bildsturm im sechzehnten Jahrhundert die Kirchen ihrer Innenausstattung beraubte. Es zahlt sich aus am Mittag in den Dom zu gehen, wenn es dort ein Konzert gibt – der Eintritt kostet sowie so sieben Euro, aber es gibt dort dann für das Geld zumindest ein schönes Erlebnis. Die Musik ist in Riga so gut wie überall. Ob es sich um die Musiker in den Nachtbars handelt, aber es gibt Musik auch überall auf den Straßen. Es sind keine Bettler mit Ziehharmonika, sondern zum Beispiel drei hübsche junge Mädchen mit Blumenkränzen auf den Häuptern, die direkt vor den Häusern der Schwarzköpfe auf dem Rathausplatz spielten. Genauer gesagt, die Kränze hatten zwei von den drei Musikerinnen auf, es waren wahrscheinlich die, die in der stürmischen St Johannesnacht am 23. Juni ihre Jungfräulichkeit verloren hatten. Warum nur zwei von drei, weiß ich nicht, hübsch waren alle drei.

            Die Schwarzkopfhäuser sind unglaublich schön.

Sie wurden im Jahr 1334 von der Gilde der unverheirateten Kaufleute gebaut. Weil die jungen und reichen Männer niemanden zu Hause hatten, der ihre Geldbeutel kontrolliert hätte, konnten sie es sich leisten. Aus diesem Grund musste jedes Mitglied nach seiner Hochzeit die Gilde verlassen. Die wunderschönen Häuser erinnern an das Rathaus in Bremen (übrigens steht vor ihnen, gleich wie in Bremen vor dem Rathaus, eine Statue von Roland, des Beschützers der Stadt), sie wurden in dem zweiten Weltkrieg zerstört und das sowjetische Regime hatte kein Interesse, sie zu erneuern. Deshalb begannen die Letten mit der Rekonstruktion gleich nach der Unabhängigkeitserklärung und sie vollendeten den Wiederaufbau dieser architektonischen Juwelen im Jahr 1999. Gleich nebenan steht aber eine furchtbare Erinnerung an die Jahrzehnte der sowjetischen Herrschaft. Ein schreckliches „modernes“ Gebäude in schwarz, das von den Bürgern von Riga „Schwarzer Sarg“ genannt wird – nach dem Jahr 1991 wurde hier kreativ ein „Museum der Okkupation“ einquartiert. Wie ich schon schrieb, die Balten machen zwischen der nazistischen und kommunistischen Okkupation keinen Unterschied, beide werden in den gleichen Sack geworfen. 

Tallinn II

            Die Obere Stadt protzt mit einigen monumentalen Gebäuden. Hier gibt es den höchsten Turm der Stadtbefestigung „Der lange Hermann“ an den der ehemalige Palast der russischen Zarin Katharina II. angelegt ist, in dem heute das estnische Parlament seinen Sitz hat. Der Gegenpol zum „Langen Hermann“ ist die „Dicke Margarethe“ in der unteren Stadt, soviel also zu den estnischen Vorstellungen, wie ein echter Mann und eine echte Frau aussehen sollten. Gleich gegenüber dem Parlament steht eine monumentale orthodoxe Kathedrale des Alexanders Newski.

Die Esten hielten diese Kirche immer für einen Beweis der Bemühungen des zaristischen und später kommunistischen Regime um die Russifizierung Estlands. Es war nämlich gerade der Fürst Alexander Newski, der die Expansion der deutschen Ritter, die damals die Herren von Reval waren, in Richtung Osten in der Schlacht auf dem zugefrorenen Peipussee im Jahr 1242 aufgehalten hat. Nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands wurden Stimmen laut, die verlangt haben, die Kathedrale abzureißen, letztendlich hat aber doch der Hausverstand gesiegt und das großartige Gebäude durfte stehen bleiben. Es ist jetzt der Zufluchtsort der in Tallinn lebenden Russen (sie machen in der Stadt 44% der Bevölkerung aus), die viel religiöser als die protestantischen Esten sind. In Estland lebenden Russen wurde lange Zeit nach der Unabhängigkeit die estnische Bürgerschaft verwehrt, nur vor dem Eintritt in die Europäische Union wurde Estland gezwungen, der russischen Minderheit die Bürgerschaft zu verleihen. Die Folge dieser Entscheidung ist, dass ein Russe, der die estnische Bürgerschaft angenommen hat, jetzt vor der russischen Botschaft lange Schlangen stehen muss, um ein Visum nach Russland zu bekommen. Ein Russe, der die Bürgerschaft abgelehnt hat, setzt sich nur einfach ins Auto und überquert irgendwo bei Narva die Staatsgrenze, ohne dabei Probleme zu haben. Bei der Einreise in die EU ist das umgekehrt.

Die evangelische Kathedrale von Tallinn – der Dom – ist überraschenderweise nicht die größte Kirche in der Stadt, die Kirche des heilige Olafs sowie auch die Kirche des heiligen Nikolaus (beide stehen allerdings in der unteren Altstadt, wo es auch Geld gab) überragen den Dom wesentlich.

Unter dem Boden des Doms sollte nach einer Legende der legendäre Urvater des finnisch-estnischen Volkes Kalev begraben sein. Die Finnen und die Esten haben einen gemeinsamen Urvater, offensichtlich hatte er aber Angst vor dem Meer und so blieb er auf dem südlichen Ufer des Finnischen Meerbusen – in Tallinn, das es damals noch nicht gab. Heute trägt seinen Namen, also Kalev, die bereits erwähnte berühmteste Konditorei in der Stadt. Unter dem Dom soll auch Heinrich Matthias Thurn begraben sein, der Anführer der tschechischen Stände im Aufstand gegen den Kaiser Ferdinand II. Er führte die Rebellen bei dem berühmten Prager Fenstersturz am 23.Mai 1618 und gab damit den Anlass zum Beginn einer der größten Tragödien in Europa – zum Dreißigjährigen Krieg. Er starb weit von seiner Heimat (Er zählte zu den Tschechen, obwohl er als gebürtiger Tiroler angeblich tschechisch nur fluchen konnte) im Jahr 1641 im Exil in Tallinn.

            In der oberen Stadt gibt es mehrere Aussichtsterrassen mit faszinierenden Blicken auf die Altstadt, den Hafen und das Meer sowie auch auf die modernen Bauten im „Rotenman Kvartal“.

Sonst herrscht hier aber abendsTotenstille. Als wir uns hier abends für ein Glas Wein setzen wollten und die Blicke auf den Sonnenuntergang über dem Meer genießen wollten, fanden wir hier kein einziges offenes Lokal und so verstanden wir, warum die obere Stadt abends wie ausgestorben ist. Man lebt in der unteren Stadt und man lebt hier teuer.

            Die untere Altstadt schaut wie ein Freilichtmuseum aus. Die neu reparierte mittelalterliche Stadtmauern strahlen durch rote Dächer ihrer Türme, um die alten krummen Gassen stehen Häuser der Hansakaufleute, von denen, gleich wie in Amsterdam, unter dem Hausgiebel Balken mit Rollen aus der Fassade ragen. Die Kaufleute lebten im Erdgeschoß, die Warenlager waren aber am Dachboden, deshalb die Haken, um die Ware in das Lager transportieren zu können. Überall gibt es dann Restaurants, Bars, Kaffeehäuser und weitere Touristenfallen, die von Studenten in mittelalterlichen Kostümen überwacht werden, die die Passanten, die nur für eine einzige Sekunde vor dem Eingang stehen bleiben, um in die Speisekarte einen Blick zu werfen, erbarmungslos hinein treiben. Wir flüchteten vor ihnen in  Panik bis in den oberen Teil der Stadtbefestigung oberhalb der Kirche des heiligen Nikolaus.

Im Turm Neitsitorn ist ein Restaurant mit einem Blick auf die Altstadt. Das Problem bestand in der Tatsache, dass man hier Eintritt zahlen musste. Drei Euro für den Eintritt in ein Restaurant habe ich noch nirgends zahlen müssen und ich war dementsprechend überrascht. Es wurde mir erklärt, dass es sich um ein Museum handelte. Also zahlte ich, obwohl ich das Museum danach nicht gefunden habe, lediglich ein Restaurant und ein Kaffeehaus auf drei Ebenen. Wenn wir aber schon einmal dort waren, entschieden wir uns dort mittags zu essen und den zauberhaften Blick auf die Altstadt dabei zu genießen. Zu unserer lieben Überraschung wurden uns dann die drei Euro pro Person von der Rechnung abgezogen. Eigentlich eine gescheite Maßnahme, damit die Leute im Restaurant nicht umsonst bummeln, nur um auf die Stadt unter ihnen Füßen zu glotzen.

            Das älteste Kaffeehaus in der Stadt heißt Maiasmokk, ist aber abends nach neun Uhr geschlossen! Besuchswert ist das Gebäude der „Großen Gilde“, wo sich ein Museum der estnischen Geschichte befindet und wo der Eintritt zufällig kostenlos war. Die Gilden waren Gesellschaften ähnlich den Zünften, aber doch anders. In der Großen Gilde waren die Kaufleute, also die reichsten Bürger, die auch den größten Einfluss auf das Geschehen in der Stadt hatten. In der „Kleinen Gilde“ waren dann die Handwerker unterschiedlicher Fachrichtungen versammelt, diese gab es hier aber eher für die Arbeit als fürs Reichwerden – wer ist schon einmal durch eine Arbeit reich geworden? Und ihr Einfluss in der Stadt war dementsprechend bescheidener. Zu einem Museum wurde auch die älteste Apotheke auf dem Rathausplatz aus dem Jahr 1433, in dem Souvenirgeschäft wird versucht, die Touristen zu überzeugen, dass der Liquor „Vanna Tallinn“ ein Medikament sei. Die menschliche Fähigkeit Alkohol so gut wie aus allem machen zu können, habe ich im Freilichtmuseum in Tallinn in dem Stadtviertel „Rocca al Mare“ kennenlernen können.

Der estnische Wein „Lossi“ wird nämlich aus Heidelbeeren produziert. Die erreichen hier im Norden dank der Feuchtigkeit und langer Sommertagen eine außergewöhnliche Größe, der Wein aber (ich bin ein neugieriger Mensch und so habe ich diese örtliche Spezialität gekostet) kann man nur mit einer äußersten Überwindung und unter dem Schutz der magensäurehemmenden Medikamente trinken. Sonst würde das Getränk in meinen nicht mehr ganz jungen Magen wahrscheinlich ein Loch durchbrennen.

            Vor dem Stadttor Viru befindet sich ein Blumenmarkt, einer der wunderschönsten, die ich in meinem Leben sah.

Der Blumenmarkt in Amsterdam war zwar größer, aber die Blumen auf dem Markt von Tallinn waren einfach schöner (obwohl sie großteils aus den Niederlanden importiert waren) Die Esten lieben Blumen. Zu einem Besuch in Estland zu gehen, ohne einen Strauß mitzubringen, ist einfach undenkbar und der Geliebten oder sogar der Gattin einen Mercedes ohne einen Strauß Blumen zu schenken ist ein absolutes „faux paix“ und ein Grund zur Trennung. Wahrscheinlich aus diesem Grund ist der Blumenmarkt auch noch lange nach Mitteernacht offen. Was wäre, wenn der Mercedesspender den Strauß vergessen hätte und ihn ganz dringend bräuchte?

            Tallinn hat einfach sein Zauber, obwohl man Glück beim Wetter haben muss. Die Sonne geht zwar im Sommer sehr spät unter, strahlt aber meistens gedämpft durch Wolken. Menschen in Estland hatten eindeutig mehr Angst vor Wasser als vor Feuer. Ich habe sonst nirgends gesehen, dass die Bauern Getreide in den Wohnräumen trocken würden, wo man auf offenem Feuer kocht. Der Dachboden wurde nur durch Balken von dem Wohnraum getrennt und zwischen die Balken wurde die Ernte gesteckt. Im Falle des Brandes konnte sich der Mensch offensichtlich immer darauf verlassen, dass ein Regen kommt, der dem Malheur ein Ende macht. Die körperliche Hygiene wurde gleich wie in Finnland in der Sauna gemacht. Das Wasser, das vom Himmel fiel, war doch ein bisschen zu kalt.

            Das estnische Volk ist aber gegen Kälte abhärtet. Das haben wir in dem Badeort Parnü gesehen.

Obwohl das Meereswasser lediglich 13 (in Worten DREIZEHN!!!) Grad hatte, badeten im Meer sogar die Kinder! Also – eines von den Kindern hatte einen Neoprenanzug angehabt und es handelte sich in diesem Fall offensichtlich um einen Ausflug Väter mit Kindern ohne Mütter. Trotzdem lief mir bei diesem Anblick die Kälte über den Rücken. Wir haben im Meer nur unsere große Zehe gebadet. Das hat gereicht. Es musste reichen! Estland ist nicht wirklich ein Land für einen sommerlichen Badeurlaub. Es hat andere Reize.

            Weil aber in der oberen Stadt die Totenruhe herrschte, die untere Stadt unchristlich teuer war und nach zehn Uhr wurde uns verweigert armenischen Cognac zu verkaufen, der mit seinen fünf Sternen sehr verlockend aussah, badeten wir nicht einmal im Meer und verließen Estland in Richtung Süden nach Lettland.

Tallinn I

            Tallinn ist eine Stadt weit in Norden (mit Betonung des Wortes „weit“) eigentlich auf der Höhe von St. Petersburg. Deshalb geht die Sonne im Sommer nur knapp vor Mitternacht unter und im Winter kommt sie wieder kaum über den Horizont. Trotzdem ist die Stadt sehenswert – natürlich im Sommer, wenn hier die Temperaturen manchmal sogar die Marke von zwanzig Grad Celsius knacken.

            Tallinn (das doppelte „ll“ wird lang ausgesprochen, ähnlich dann das doppelte „nn“. Die Esten nämlich schreiben nämlich jede Silbe, die sie lang aussprechen wollen, einfach doppelt) und diese langen Silben geben dem Namen der Stadt eine rührende, fast melancholische Schönheit.

            Die Stadt trug aber nicht immer diesen Namen. Als erste, abgesehen von der ursprünglichen mit einer ugrofinnischen Sprache sprechenden Bevölkerung, erschienen hier die Dänen. Der dänische König Waldemar II. gründete hier im Jahr 1219 eine Festung, die den Namen „Castrum Danorum“, also „Dänische Burg“ bekam, was man ins Estnische „Taanni – linna“ übersetzt. Als die Stadt im Jahr 1227 die Kreuzritter eingenommen haben, gaben sie der Stadt den Namen Reval, und so hieß sie bis zu estnischer Unabhängigkeitserklärung im Jahr 1918. In diesem Jahr riefen die Esten das erste Mal ihren nationalen Staat aus. Tallinn hat eine interessante Lage. Der wichtigste Stützpunkt war natürlich immer der Hafen. Interessanterweise ist der Hafen in einer Meeresbucht gebaut. Beinahe alle nördlichen Hafenstädte liegen an den Flüssen nahe ihrer Mündung. Ob es schon St Petersburg an dem Ufer der Neva, Riga an der Daugava[AP1] , Klaipėda am Nehmen, Stettin an der Oder, Lübeck an der Tarve, Hamburg an der Elbe, Bremen an der Weser oder London an der Themse. Die Ursache ist offensichtlich die Tatsache, dass das nördliche Meer sehr oft zu stürmisch ist, um eine ruhige Verankerung der Schiffe und das Ausladen der Ware möglich zu machen. In diesem Punkt ist Tallinn eine Ausnahme und die Bucht, in der sich der Hafen von Tallinn befindet, musste ein Phänomen sein, dem man nicht widerstehen konnte. Und ein hoher Felsen über dem Meer, im flachen Land ebenso eine Rarität, rief wortwörtlich danach, dass auf ihm jemand eine Festung baut. Die Dänen konnten nicht widerstehen und taten es.

            Als sie die Festung von den Kreuzrittern im Jahr 1248 wieder übernommen hatten, gründeten sie hier eine Stadt, die im Ostbaltikum das übliche Stadtrecht nach dem Muster von Lübeck bekommen hat. Die Bindung an Lübeck ist auch heute noch auf jedem Schritt und Tritt merkbar. Nicht nur an dem Rathaus, aber auch in der Kirche des heiligen Nikolaus, in der den Totentanz der gleiche Autor Bernt Notke malte, der dieses Fresco auch in der Kathedrale von Lübeck schuf. Deshalb sind diese zwei Werke beinahe identisch. Die Kapelle, in der sein Totentanz ausgestellt wurde, ist bei der russischen Eroberung der Stadt im zweiten Weltkrieg zugrunde gegangen, die Fragmente des Gemäldes sind heute in der Kirche ausgestellt und demzufolge muss man hier eine Eintrittsgebühr zahlen. Unsere Reiseführerin hat uns geraten, uns für Senioren auszugeben, in mir gewann aber der Stolz (oder die Eitelkeit) und ich zahlte dafür einen doppelten Eintritt. Aus Lübeck kam auch die Marzipanerzeugung hierher, weil gerade durch die Produktion von Marzipan Lübeck berühmt ist (wovon, wie es eine aus Lübeck stammende Freundin meines Sohnes melancholisch sagte, wissen nur die Lübecker). Nicht einmal die Esten wollen über die Berühmtheit ihrer Partnerstadt in der Hansa etwas wissen und halten Marzipan für ihre eigene Erfindung. Heutzutage wird Marzipan in Tallinn in der Firma Kalev produziert, die ihre Konditorei direkt im Stadtzentrum in der Straße Pikk hat. Diese Straße hatte eine große historische Bedeutung.

            Das lübecker Stadtrecht galt nämlich nur in der Stadt, nicht in der Burg. Tallinn behielt bis heute viel von seinem mittelalterlichen Charakter und deshalb gibt es auch heute noch eine Trennung in die Untere und die Obere Stadt. Beide waren voneinander durch eine Mauer getrennt und nur mit einem Weg namens Pikk verbunden. In der oberen Stadt saß die adelige Elite (heute ist sie der Sitz der estnischen Regierung und Parlaments) in der unteren Stadt lebten Kaufleute und Handwerker. Reval, wie die Stadt hunderte Jahre hieß, war eine Hansastadt und die Mitgliedschaft in dieser Handelsgesellschaft garantierte der Stadt ihre Prosperität. Durch Reval lief der Großteil des Handels mit russischer Ware, besonders mit Pelzen und nach Russland wurde durch Reval westliche Ware importiert, vor allem Waffen.

            Im mittelalterlichen Reval gleich wie im neuzeitigen Tallinn sagt man, dass die Macht von oben auf das Geld hinunter schaut. Die Macht saß in der oberen Stadt, das Geld wurde in der unteren Stadt verdient, wohin es aus dem Hafen strömte. Dass diese Geschäfte nicht ohne Risiko waren und das Baltische Meer sehr heimtückisch sein konnte, davon zeugt die Statue von „Rusalka“, der kleinen Meeresnixe, die an dem Ufer im Stadtviertel Kadriorgu steht und in die Weite des Meeres schaut. Sie sieht nach den Matrosen des gleichnamigen russischen Schiffes, das im Finnischen Meerbusen im Jahr 1893 unterging.

Das Denkmal schuf der estnische Bildhauer Amandus Adamson im Jahr 1902, also ein Jahr nachdem der tschechische Komponist Antonín Dvořák die Oper gleichen Namens uraufgeführt hatte, die ihn weltweit berühmt machte. Rusalka ist eine Meeresnixe aus der slawischen Mythologie und ihre Statue auf dem Strand in Tallinn zeugt von einem starken russischen Einfluss in dieser Stadt. Ein weiterer Zeuge der russischen Macht in dieser Region ist der Palast der Zarin Katharina I., nach der das Viertel außerhalb der historischen Stadt seinen Namen bekam. Der Palast ließ Peter der Große für seine zweite Gattin Katharina bauen. Katharina war also einer der wenigen Menschen, die von der Annexion von Livland durch Russland profitierten. Die Bevölkerung Estlands schrumpfte während des blutigen und vernichtenden „Großen nordischen Krieges“ in den Jahren 1700 – 1721 von 350 000 auf 150 000. Katharina wurde im Städtchen Aluksne im Nordlettland nahe der estnischen Grenze als eine Tochter eines polnischen Bauern namens Skowronski geboren. Mit siebzehn Jahren trat sie in den Dienst bei dem deutschen evangelischen Pastor Glück – dem ersten Übersetzer der Bibel in die lettische Sprache – so viel also zu der Zusammensetzung der Bevölkerung in dem damaligen Livland. Im Jahr 1702 wurde sie von den Russen nach Moskau verschleppt, wo sie als Waschfrau arbeitete. Dort erblickte sie Fürst Menschikov und machte sie zu seiner Geliebten (sie gebar ihm angeblich zwei Kinder). Menschikov protzte aber ein bisschen zu viel mit seiner schönen Geliebten und so traf sie einmal den Zaren Peter. Der Zar war von der Schönheit Katharinas angetan, Menschikov saß plötzlich auf dem kürzeren Ast und musste seine geliebte Schönheit „gerne“ an den Zaren abtreten. Peter machte Katharina im Jahr 1707 zu seiner Geliebten und nachdem sie ihm zwei Töchter geboren hatte, heiratete er sie im Jahr 1712. Im Jahr 1718 ließ er für sie in ihrem Geburtsland Livland in der Nähe von Reval ein wunderschönes Schlösschen inmitten eines riesigen Parks bauen, im Jahr 1724 machte er sie zu seiner Nachfolgerin (seinen Sohn Alexej aus der ersten Ehe ließ der Zar im Gefängnis zum Tode foltern) und sie betrat als erste Frau in der russischen Geschichte nach dem Tod des Zaren den Thron. Und das, obwohl sie niemals lesen und schreiben gelernt hatte (in welcher Sprache sollte sie es auch tun? Lettisch, Estnisch, Russisch, Französisch, was die offizielle Sprache an dem Hof in St Petersburg war oder Deutsch?). Die Schönheit und lockere Moral sind nicht selten genug für eine steile Karriere. Damals wie heute. In Tallinn blieb mit ihrem Schlösschen eine schöne Erinnerung an sie. Der Präsidentenpalast, der an Kadriorg grenzt, schaut im Vergleich mit der russischen Zarenpracht mehr als bescheiden aus.

            So wie das Viertel voller Parkanlagen und stolz auf seine Rusalka nach der russischen Zarin seinen Namen trägt, so liegt in der unmittelbaren Nähe der Altstadt (der unteren Stadt) das „Rotenman kvartal“. Ein Viertel, das seinen Namen nach einem Unternehmer deutscher Herkunft, bekam der hier im neunzehnten Jahrhundert einige Fabriken bauen ließ, die zum Grundstein der Industrialisierung Estlands wurden. Heute werden die alten Fabriken eine nach der anderen abgerissen und an ihrer statt wachsen Banken, Hotels und Hochhäuser mit Büros, ein Paradebeispiel der modernen estnischen Architektur, die mich wirklich angesprochen hat. Es ist ein bisschen melancholisch, wenn zwischen schönen modernen Gebäuden verlassene Schornsteine stehen (die reißen die Esten überraschenderweise nicht ab, vielleicht sollten sie ein Denkmal des Unternehmers Rotenman bleiben), es hat aber etwas an sich.

Besonders wenn über ihnen und hinter dem Horizont am Meer knapp vor Mitternacht die violette Sommersonne untergeht. Ich hatte die Gelegenheit, dieses großartige Spektakel vom Balkon meines Zimmers im sechsten Stockwerk des Hotels „Park Inn“ zu beobachten. Mit einem Glas Rotwein in der Hand ist das ein wunderschönes Erlebnis. Aber passen Sie auf! Den Alkohol muss man vor zehn Uhr abends kaufen, obwohl die Geschäfte bis elf und manche sogar bis Mitternacht offen sind – die Straßen sind zu dieser Uhrzeit noch immer hell und lebhaft, aber der Alkoholverkauf hat seine Sperrstunde bereits um zehn Uhr! Fragen Sie mich nicht warum, vielleicht verließ gerade zu dieser Stunde den Hafen von Tallinn die letzte Fähre nach Helsinki. Die Finnen sind für 35% des Alkoholverbrauches in Estland verantwortlich. Sie fahren hierher über den Finnischen Meerbusen zu alkoholischen Ausflügen, weil es hier für sie billig und die Sprache so gut wie ident ist. Ich will gar nicht wissen, wieviel ein Bier in Finnland kostet, wenn einem Finnen ein Bier um 6,60 Euro (das war auf dem Rathausplatz im Zentrum von Tallinn, aber auch sonst habe ich – im Jahr 2014 – kein Bier unter 4 Euro gesehen) leistbar erscheint. Sie werden nicht einmal von allanwesenden Anschriften „Saddam“ abgeschreckt. Es ist nämlich nicht der Ausdruck der estnischen Sympathien zum ehemaligen irakischen Diktator, sondern einfach das estnische Wort für „Hafen“.


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Lucca II

Also, wie ich meinen ersten Teil des Artikels über Lucca beendet habe, nicht nur von den Kirchen lebt ein Mensch. In Lucca gab es genug reiche Menschen, die wussten gut zu leben. Für die Öffentlichkeit ist der „Palazzo Mansi“ zugänglich mit innerer Ausstattung im Stil des Rokokos, wo sich die „Pinacoteca Nazionale“ befindet und der „Palazzo Pfanner“ mit einem wunderschönen Garten, der mit zahlreichen Marmorstatuen geschmückt ist.

Felix Pfanner stammte aus dem österreichischen Vorarlberg, seine Familie kam aber aus Bayern und betrieb Bierbrauerei. Im Jahr 1844 wurde der junge Pfanner nach Lucca von Herzog Leopold II. eingeladen. Der Herzog hatte Lust auf gutes Bier, das die Italiener damals noch nicht zu brauen vermochten. Der junge Felix begann mit der Produktion im Keller eines prächtigen Palastes am Rande der Stadt, den sich im siebzehnten Jahrhundert ein Seidenhändler bauen ließ (Lucca war traditionell bekannt durch Erzeugung von Brokaten und später von Stoffen aus Seide). Der Erfolg war groß, die Italiener fanden Vorliebe für das neue Getränk. Pfanner wurde reich und er kaufte später den Palast inklusiv des Gartens (den Garten kann man von der Stadtmauer gut sehen, also nur für seinen Besuch muss man die Eintrittskarte nicht unbedingt kaufen). Die Brauerei Pfanner war im Betrieb bis zum Jahr 1923. Felix selbst starb im Jahr 1892 und beide seine Söhne verließen die familiäre Tradition und wurden Ärzte. Ein wurde zum Psychiater und der zweite zum Chirurgen, aus diesem Grund gibt es heute im Palast eine Ausstellung der historischen medizinischen Instrumente, bei deren Besichtigung einem die Kälte über den Rücken läuft.

               Im Palast Pfanner spielte sich eine schöne obwohl ein bisschen traurige Geschichte ab (noch bevor Felix Pfanner nach Lucca kam). Im Jahr 1692 wohnte hier bei seinem Besuch der Stadt Lucca der dänische Kronprinz Frederik und er verliebte sich in eine einheimische Adelige namens Maria Maddalena Trenta. Im Schlafzimmer, das man besuchen kann, erlebten die zwei Verliebten eine wilde Romanze, leider ohne Happy End. Frederiks Vater Christian V. starb und Frederik wurde nach Hause berufen, um die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Er wurde zum König Frederik IV. von Dänemark und Norwegen. Eine Ehe mit einer Italienerin, obwohl vom Adel, war in der neuen Situation undenkbar. Frederik heiratete Luise von Mecklenburg und Maria Maddalena Trenta trat in ein Kloster ein und wurde None. Die schöne romantische Geschichte hat nur einen Schönheitsfehler. Der dänische König Christian V. starb nämlich im Jahr 1699. Vielleicht flüchtete also der dänische Prinz vor der leidenschaftlichen Maria Maddalena aus anderen Gründen – aber WENN INTERESSIERT ES SCHON?

               Besuchswert ist sicherlich auch der Botanische Garten, der sich in einer Ecke der Altstadt befindet.

Hier gibt es ein Lehrpfad und man kann hier die Zeder von Libanon oder amerikanische Sequoien bewundern, die höchsten Bäume der Welt. Die Sequoie in Lucca ist lediglich zweihundert Jahre alt, also sie ist noch ein Baby. Trotzdem ist es der höchste Baum im Botanischen Garten. Über den See in der Ecke des Gartens erzählt man eine Legende über die schöne Lucida Mansi. Lucida war sehr hübsch, sie stammte aus einer adeligen Familie Samiati. Sie heiratete Vincenzo Diversi, sie wurde aber bald Witwe und heiratete das zweite Mal – den alten und reichen Casparo de Nicolao Mansi. Ihr Leben floss in Partyrausch mit vielen Liebhabern darin, bis sie einmal im Spiegel, in den sie täglich schaute, in ihrem Gesicht eine erste Falte sah, das Zeichen des Altwerdens. Verzweifelt bat sie den Teufel um Hilfe, damit sie weiterhin jung und schön bleiben konnte. Er versprach ihr weitere dreißig Jahre Jugend, wollte dafür aber, wie es schon sein Brauch war, ihre Seele. Als die dreißig Jahre vorbei waren, versuchte Lucida vor dem Teufel zu flüchten, aber nach einem Lauf auf der Stadtmauer holte er sie ein und riss sie in den See im Botanischen Garten. Jedes Jahr am 31.Oktober taucht aus dem Wasser eine brennende Kutsche und man hört furchtbare Schreie Lucidas, bis die Kutsche wieder in Flammen im See untertaucht. Die Legende ist schön, die wirkliche Lucida starb aber nachweislich im Jahr 1649 im Alter von 43 Jahren und wurde im Kapuzinerkloster in der Nähe des Botanischen Gartens, das es heutzutage nicht mehr gibt, begraben. Also stellt sich die Frage – wer taucht eigentlich zu Haloweenzeit aus dem See auf.

               Was wäre allerdings Lucca ohne Giacomo Puccini? Einer der bekanntesten Komponisten wurde hier geboren und blieb mit seiner Geburtsstadt lebenslang verbunden. Sein Geburtshaus ist nur ein paar Schritte von der „Piazza San Michele“ entfernt. Puccini wuchs mit seinen Geschwistern in einer bescheidenen Wohnung in der zweiten Etage des Hauses auf, später kaufte er das ganze Haus. Heute gibt es in seiner damaligen Wohnung ein Museum, das ihm und seiner Schöpfung gewidmet ist. Es gibt hier sein Klavier, sein Diplom aus dem Musiklyceum in Mailand, wo er seine Ausbildung abschloss. Es gibt hier Teile seiner Korrespondenz und seine Bilder und Büsten aus der Zeit als er bereits berühmt war, also nachdem ihm mit der Oper Manon Lescaut der Durchbruch gelungen war – er war damals 35 Jahre alt. Bereits sieben Jahre früher fand er seine Lebenspartnerin. Elvira Bonturi war in dieser Zeit verheiratet, als sie eine leidenschaftliche Affäre mit Puccini hatte und diese blieb nicht ohne Folgen – ein Sohn Antonio kam zur Welt. Elvira verließ wegen des damals noch unbekannten Komponisten ihren Mann, mit der Hochzeit musste sie aber bis zum Jahr 1904 warten, bis ihr erster Mann starb. Elvira hätte die Hochzeit mit Puccini beinahe nicht erlebt. Ein Jahr früher hatte nämlich der leidenschaftliche Autofahrer Puccini einen schweren Unfall, den er nur nach einer mehrmonatlichen Behandlung überstanden hat.

               Es gibt aber nicht nur Puccini. Im Städtchen Collodi, ungefähr siebzehn Kilometer von Lucca in Richtung Pistoia entfernt (Also hinter Montecarlo) begegnet man eine Märchenfigur, die wir alle kennen. Pinocchio, das Männchen aus Holz, dem die Nase wuchs, wenn er log. In Collodi gibt es der „Parco Pinocchio“ als eine Attraktion, wenn man in diese Gegend mit Kindern reist. Es war mir nicht ganz klar, warum sich dieser Park gerade in Collodi befindet. Der Autor von Pinocchio Carlo Lorenzini wurde in Florenz geboren, in Florenz starb er und in dieser Stadt brachte er auch seine legendäre Figur im Jahr 1878 zur Welt. (In Florenz gibt es angeblich auch ein Pinocchio Park, nur bei der Menge anderer Attraktionen in der toskanischen Hauptstadt geht er irgendwie verloren). In Collodi gibt es nichts anderes – die Einheimischen wussten das Pseudonym des Autors, der unter dem Namen Carlo Collodi schrieb, weil in diesem Dorf seine Mutter geboren wurde, zu nutzen. Es handelt sich also im Prinzip um ein Fake, aber die Italiener sind in der Sache PR sehr geschickt. Und wenn es regnet und man weiß nicht, wohin mit den Kindern zu fahren…

               Lucca ist also schön und lieb. Und alt. Nicht nur das römische Forum, auf dem San Michele steht, erinnert an seine uralte Wurzel. Einer der berühmtesten Plätze ist das römische Amphitheater, den die kreativen Italiener mit Häusern bebauten Sie nutzten die Bausubstanz des alten römischen Amphitheaters – jetzt bildet es einen Platz mit Form einer Ellipse.

Damals – also in den römischen Zeiten, schrieb man den Namen der Stadt nur mit einem „c“, also Luca. Bereits im Jahr 177 vor Christi Geburt war Luca eine römische Kolonie, aber nur der Schutz der Kaiser Ludwig IV. und Karl IV.. brachte es unter die bedeutesten Städte der Toskana.

Lucca I.

               Wie alle anderen Kommunen erklärte Lucca nach dem Tod der letzten Markgräfin von Toskana Mathilde im Jahr 1165 ihre Unabhängigkeit. Und wie alle anderen Kommunen wurde sie sofort in die Kämpfe um die Macht und das Geld in der Region verwickelt. Im Jahr 1314 wurde Lucca für eine kurze Zeit von dem mächtigen Nachbarn Pisa beherrscht, dann aber übernahm die Macht in der Stadt Castruccio Castracani. Zuerst half er zwar den Pisanern seine Stadt einzunehmen, er verfolgte aber dabei seine eigenen Ziele. Zwei Jahre später stellte er sich dem pisanischen Stadtverwalter und wurde von ihm sogar eingesperrt. Die Bevölkerung von Lucca holte ihn aber aus dem Gefängnis und er wurde zum Herrscher der Stadt. Als ein überzeugter Ghibellin, also ein Anhänger der kaiserlichen Macht, entschied er sich richtig für die Unterstützung des Kaisers Ludwig IV. von Bayern bei seinem Feldzug nach Italien. Dank dieses Verbündeten beherrschte er nicht nur Pistoia und für eine kurze Zeit sogar Pisa, am wichtigsten war die Einnahme von Carrara, wo bis heute der schönste Marmor abgebaut wird. Man sieht es in Lucca auf jedem Schritt. Seine unzähligen Kirchen sind mit Marmorfassaden geschmückt und im Inneren mit Säulen. Mit Marmor sparte man hier wirklich nicht – letztendlich hatte man es nur für den Preis der Arbeit ohne Zuschlag erwerben können. Das Ergebnis war, dass zum Beispiel die Kirche San Michele mit ihrer Fassade wie eine etwas übertrieben geschmückte Sahnetorte ausschaut.

Bei dem Blick auf jede weitere mit weißem Marmor (aber auch gelblichem oder grauem, wer sollte schon so viele Fassaden aufrechthalten?) strahlende Fassade zahlreicher Kirchen in der Stadt kann ein informierter Mensch nicht widerstehen, sich an den berühmten Condotiere Castracani zu erinnern, dass er davon vielleicht in seinem Grab Schluckauf bekommen müsste.

               Castracani starb im Jahr 1328 unmittelbar nachdem er die Florentiner bei Pistoia in die Flucht geschlagen hatte und Lucca musste um seine Stellung fürchten, besonders aber um seine Marmormienen. Die Stadt wählte eine Lösung, die sich nicht gerade als die glücklichste erwies. Lucca bat um Schutz den tschechischen König Johann von Luxemburg, der gerade dabei war, im Norditalien ein kleines Imperium zu errichten und aus Lucca machte er sogar die Hauptstadt seiner städtischen Konföderation. Damit war zumindest ein Problem von Lucca erledigt, nämlich die Überschüsse des Stadtbudgets. Die waren definitiv dahin. Seinen Sinn konnte allerdings dieser königliche Schutz schon erfüllen. Es ist doch klar, dass eine reiche und wehrlose Stadt mögliche Angreifer viel mehr als eine zwar ausgeplünderte, aber bis auf die Zähne bewaffnete, lockt. Johann von Luxemburg litt bekanntlich an permanenten finanziellen Problemen, er verkaufte seine italienischen Städte und behielt lediglich Lucca. Lucca blieb luxemburgisch bis zum Jahr 1369. Damals erkaufte sich die Stadt von dem Johanns Sohn Kaisers Karl IV. für 100 000 Gulden die Freiheit und wurde zu einer freien Republik. Der wissenschaftliebende Kaiser Karl (in Zusammenarbeit mit Papst Urban V.) schenkte der Stadt wie eine Kirsche auf der Torte auch das Recht eine Universität zu gründen. Lucca verstand dieses Privilegium nicht ganz, weil die Universität wurde – für eine sehr kurze Zeit – lediglich im Jahr 1790 gegründet. Karl schrieb sich in die Geschichte der Region um Lucca auch anders ein – und zwar durch Gründung der Burg Montecarlo ungefähr 13 Kilometer östlich von Lucca. Heute ist die Burg nur eine Ruine, aber unter ihr wuchs eine Stadt, die zum Zentrum des Weinanbaus in der nordwestlichen Toskana wurde. Den Wein habe ich ausprobiert und er ist durchaus trinkbar.

               Lucca blieb eine freie Republik bis zum Jahr 1797, es wurde also nicht ein Teil des toskanischen Großherzogtums der Familie Medici und anschließend der Habsburger. Dadurch konnte es leider nicht von der Reformen Franz Stephans und seines Sohnes Leopold profitieren.

               Im Jahr 1804 krönte sich Napoleon Bonaparte zum Kaiser. Mitglieder seiner Familie bekamen Prinzentitel mit Ausnahme seiner Schwestern Karoline und Elisa, verheiratet Bacciochi. Beide Damen machten dem frischgebackenen Kaiser so eine Szene, dass er schnell verstand, dass er einen falschen Weg gewählt hatte und er entschied sich mit ihnen zu versöhnen. Karoline wurde an der Seite ihres Mannes des Generals Murat die Königin von Neapel und Elisa zur Herzogin von Lucca. Elisa nahm die Sache in die Hand und sorgte dafür, dass die ein bisschen zurückgebliebene Stadt neue Impulse für ihre Entwicklung bekam. Neben der Züchtung von Seidenraupen und damit verbundener Seidenproduktion, reformierte sie das Schulwesen, gründete den bis heute existierenden Botanischen Garten und holte nach Lucca den jungen, noch unbekannten, aber sehr talentierten Nicolo Paganini. Nach dem Fall Napoleons übernahmen die Macht über Toskana und Lucca Bourbonen, die neue Herzogin Marie Luisa setzte aber die Arbeit ihrer Vorgängerin nahtlos fort. Lucca verdankt also seine Entwicklung in eine moderne Stadt diesen zwei Damen.

               Lucca ist ein liebes Städtchen zwischen Bergen, die es von drei Seiten umgeben. Die Stadtmauer tut es dann von allen vieren. Die Stadtmauer wurde im sechzehnten Jahrhundert gebaut, als der alte mittelalterliche Mauerring (von dem zwei Tore übrigblieben) nicht mehr den Anforderungen entsprach, die die Einführung der Artillerie verlangte. Und weil die Stadt niemandem mehr einer Belagerung wert war, erlitt die neue Mauer keinen Schaden. Nicht einmal dann, als die Stadt für offen erklärt wurde. Auf dem Glacis, also in der Entfernung eines Kanonenschusses, durfte nicht gebaut werden. Nach Öffnung der Städte wurden gerade diese Grundstücke zu den wertvollsten für den Bau neuer Stadtviertel. Nicht so in Lucca. Die Mauer blieb unversehrt (wenn wir nicht ein neues Tor Porta Elisa zählen, die Napoleons Schwester in die Mauer schlagen ließ) und wurde zum Park umgewandelt.

Ein Spaziergang auf der Mauer um die ganze Stadt herum ist ein schönes Erlebnis, auf der bis zwanzig Meter dicken Mauer wurden Bäume eingepflanzt, die Schatten spenden und es gibt hier sogar Restaurants – wir sind in Italien, natürlich. Das Glacis ist ein Teil dieses Parks, ohne Bäume mit einem breiten Ring von Rasen Man kann also in Lucca wirklich sehen, wie so eine Befestigung in der Zeit des Barocks ausgesehen und wie sie gedient hat.

               Also Lucca, das sind, wie ich bereits erwähnte, vor allem Kirchen. Angeblich gibt es einhundert von ihnen hier. Ich zählte sie nicht, diese Zahl hat aber auch ihre Vorteile. Zahlreiche der Kirchen sind geschlossen oder zu Museum oder Bibliothek umgebaut, vor jeder Kirche muss aber logisch zumindest ein kleines Plätzchen (oder ein großer Platz) sein und auf jedem Platz in Italien dann eine Trattoria, Osteria oder zumindest eine Bar. Also keine Angst, vor Hunger oder Durst stirbt man in Lucca sicher nicht.

               Die größte Kirche in der Stadt ist natürlich die Kathedrale, die dem heiligen Martin gewidmet ist.

Es ist ein atemberaubendes – natürlich mit Marmor bekleidetes – Gebäude mit einem hohen Campanile, den man besteigen kann. Wirklich schöne Aussichten gibt es aber von dem Campanile nicht, weil die Fenster mit einem dicken Gitter verschlossen sind – die Stadt kann man von hier nicht fotografieren, zu diesem Zweck besitzt Lucca andere Türme. (Es ist der Uhrturm und der Turm Guinigi – aber darüber später) In der Kathedrale ist die größte Attraktion das Kreuz „Volto Santo“, seine Fertigstellung wird dem heiligen Nikodemus zugeschrieben.

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Das Kreuz stammt zwar nachweislich aus dem elften Jahrhundert, diese Tatsache stellt aber seiner Verehrung kein Hindernis dar. Am 13. September wird das Kreuz durch die Stadt in einer feierlichen Prozession getragen, gekleidet in einem Gewand aus silbernem vergoldetem Schmuck und mit Diamanten, diese Artefakte kann man in dem Kathedralmuseum sehen (es gibt eine gemeinsame Eintrittskarte für die Kathedrale, das Museum und den Campanile). Aus den Bildern, die auf den Wänden der Kirche hängen (die Kirchen von Lucca sind von außen fantastisch, in ihrem Inneren aber relativ bescheiden geschmückt, auf den kahlen Wänden gibt es nur Bilder aus der Zeit der Renaissance oder dem Barock) ist das wertvollste „Das letzte Abendmal“ von Tintoretto. In dem linken Schiff gibt es ein Grabmal von Ilaria del Caretto. Diese junge Dame war die Gattin Paolo Guinigis, sie starb im Jahr 1406 im Alter von 24 Jahren bei einer Geburt. Der trauende Gatte ließ für sie von dem größten damaligen Meister Jacoppo dela Quercia ein Grabmal aus Marmor herstellen (anders geht es in Lucca nicht) und setzte seine Platzierung auf die Stelle, die aller meisten Prestige versprach – also in der Kathedrale – durch.

               Paolo Giunigi war nämlich kein armer Schlucker. Im Jahr 1400 gelang es ihm, die Macht in der Stadt an sich zu reißen und für weitere dreißig Jahre die republikanische Verfassung außer Kraft zu setzen. An die Familie Guinigi erinnert einerseits ihr Palast, in dem es heutzutage die örtliche Pinakothek gibt (Museo Nazionale di Villa Guinigi), und andererseits der Aussichtsturm „Torre Guinigi“ (der sich nicht im Palast befindet, sondern in Casa Guinigi im Stadtzentrum). Für sechs Euro darf man auf 240 Stufen auf seine obere Plattform steigen, wo überraschenderweise große Bäume wachsen, die während des Fotografierens der Stadt aus der Vogelperspektive Schatten spenden.

Guinigi verteidigte die Stadt im Jahr 1429 gegen anrückende Florentiner, während sein Sohn Ladislaus eine Hilfe des Entsatzheeres unter der Anführung des zukünftigen Herrschers von Mailand, damals aber noch Condottiere, Francesco Sforza holte, die die Stadt rettete. Allerdings ist das die Undankbarkeit, die die Welt beherrscht. Es folgte ein Volksaufstand, Guinigi wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Bürger trauten sich nicht ihn hinzurichten, er starb zwei Jahre später in einem Gefängnis in Pavia.

               Das Zentrum des bunten Treibens des Lebens in der Stadt ist die „Piazza Napoleone“ mit dem Herzogspalast. Obwohl Lucca eine Republik war, hat es irgendwie vorbeugend im sechzehnten Jahrhundert einen Palast für einen Herrscher gebaut. Das kam gut an, als die Herrschaft in der Stadt Elisa Bonaparte und nach ihr Maria Luise von Bourbon übernahmen. Heute gibt es hier den „Palazzo della Provincia“, also eine Verwaltungszentrum.

               Nur ein paar Schritte entfernt gibt es die wahrscheinlich schönste Kirche in Lucca „San Michele in Foro“. Der Kult des Erzengels Michael haben germanische Stämme betrieben, vor allem die Langobarden. Lucca liegt tatsächlich auf der Geraden zwischen dem Kloster Saint Michelle in der Bretagne und der Grabstätte der langobardischen Könige in Monte San Angelo in Apulien. San Michele spielte also in Lucca, ähnlich wie in Pavia, die wichtigste Rolle und übertraf damit die Bedeutung der Kathedrale. Die Kirche wurde auf dem ehemaligen römischen Forum zwischen den Jahren 1070 und 1383 gebaut (davon trägt sie ihren Namen) und man sparte mit Marmor wieder einmal nicht. Im Inneren kann man die Kanzel von Andrea della Robia bewundern (der sich an der Dekoration der ursprünglichen Fassade des Doms in Florenz beteiligte) oder ein Bild von Filippino Lippi links von der Apsis.

               Wenn jemand noch Lust hat, kann man weitere Kirchen Besuchen. Zum Beispiel San Frediano (mit einem atemberaubenden byzantinischen Mosaik an der Fassade der Kirche, einem großen romanischen Baptisterium und einem Triptychon aus Marmor „Madona mit Kind und Heiligen“ von Jacoppo della Quercia. Die erste Kirche auf dieser Stelle ließ der heilige Fredianus bauen, ein Mönch aus Irland, der in Lucca zum Bischof wurde (er starb im Jahr 580). In Lucca gibt es einen ziemlich morbiden Brauch, dass in fast jeder Kirche unter dem Altar eine Leiche eines Heiligen oder Seligen als heilige Reliquie ausgestellt wird. San Frediano hat mit der Leiche seines Bischofs nicht genug, deshalb gibt es hier auch noch die Reliquie der heiligen Zita. Zita war eine einfache Magd, die in den Jahren 1212 – 1272 in Lucca lebte. Sie machte sich durch ihre Pflege der Kranken und Schwachen berühmt, nicht umsonst trägt ein Altersheim in der Nähe von San Frediano ihren Namen.

               Eine weitere besuchswerte Kirche ist „San Francisco“ am Rande der Stadt oder „Santa Maria Forisportam“ (der Name deutet an, dass die Kirche außerhalb der mittelalterlichen Mauer lag, was das naheliegende Tor des heiligen Gervasius mit zwei erhaltenen Türmen der damaligen Stadtbefestigung und ein Kanal, der heute durch die Stadt fließt, aber damals ein Teil der Befestigung war, beweisen.

Nicht nur von der Kirchen lebt ein Mensch. Lucca hat viel mehr zu bieten. Aber darüber in zwei Wochen.

Cinque Terre

               Dieses Stück Landes, (also eigentlich fünf Stücke) hatte ich in meinem Reiseplan bereits seit einigen Jahren. Zuerst blockierten einen Ausflug in diese Richtung unsere Reisen in andere Teile Italiens und dann das Coronavirus. Heuer aber, als ich meine Reise in die nördliche Toskana geplant habe, war klar, dass mir diese Küstenstädtchen nicht entgehen durften. Es war nur ein Problem zu lösen, nämlich, wie komme ich hin?

               Ziemlich logisch dachte ich, dass bei der Touristenmenge, die sich dort auf einem minimalen Raum, den die felsige Küste bieten kann, herumtreiben würde, könnte es ein Problem mit Parken geben. Deshalb bereitete ich mich für die Reise penibel vor. Ich erfuhr, wie die Züge aus Lucca, wo wir wohnten, nach La Spezia, das als der Ausgangspunkt zu dem südlichsten Teil der ligurischen Küste gilt, fahren. Dann gab es nur zu entscheiden, ob wir die Städtchen mit einem Schiff oder mit dem Zug besuchen. In Folge der Kinetose meiner Frau hat der Zug eindeutig gewonnen. Durch die Städte führt nämlich die Eisenbahnhauptverbindung zwischen Livorno und Genua (natürlich durch ein Tunnelsystem.)

               Am Tag „T“ wachten wir in ein regnerisches Wetter auf. Meine Frau erklärte mir demzufolge, dass sie durch ganz Lucca zum Bahnhof im Regen „ganz sicher nicht gehen würde“ und ich sollte das Auto vom Parkplatz holen und starten. Was ich auch tat. Ihre Argumente, dass um halb acht in der Früh die Italiener noch schlafen, klangen ziemlich logisch. Und das waren sie auch.

               Unter dem Bahnhof in La Spezia gab es freie Parkplätze ohne Ende. Wir konnten also das Auto abstellen und sich kümmern, wie weiter. Die Italiener sowie auch die Touristen schliefen noch. Nachmittags, als wir das Auto abholen wollten, war die Parkgarage schon bis zum letzten Platz voll. Also, bei einem Besuch von Cinque Terre zahlt es sich aus, nicht zu lange zu schlafen. Dann geht´s.

               Um Cinque Terre zu besuchen, muss man zuerst „Cinque Terre point“ finden. Das ist nicht ganz einfach. Besonders deshalb, weil ich nicht wusste, dass ich so etwas suchen sollte. An der Fahrkartenkassa wurde ich aber belehrt und zum „Cinque Terre point“ geschickt. Dort wollte mich der Schlag treffen, weil dieser geschlossen war. Zum Glück gaben wir nicht auf und fanden den nächsten „Point“, der im Betrieb war. In diesem Büro war es notwendig eine „Cinque Terre Card“ zu kaufen, die einen Menschen zum Nutzen der Züge zwischen allen fünf Orten (man kann sogar bis nach den sechsten namens Levante fahren, das zu diesem Gebiet nicht mehr gehört) und zum Benutzen der Wanderwege im Naturpark zwischen den Orten und wahrscheinlich auch zum Atmen der örtlichen Luft berechtigt. Eigentlich kauft man für 16 Euro das Recht einen Tag zwischen den Städtchen Monterosso al Mare und Riomaggiore leben zu dürfen. Diese Karte muss man nicht einmal, wie es sonst in Italien die Pflicht ist, auf dem Bahnsteig entwerten, es ist nur notwendig, den Namen des Besitzers auf die Karte zu schreiben. Also so einfach, dass ich echt überrascht war. Aber es besuchen dieses Land letztendlich auch Amerikaner. Zu meiner Überraschung kontrollierte im Zug unsere Karten niemand, dafür gab es aber auf dem Wanderweg zwischen den Orten Vernazza und Corniglia sogar gleich zwei „check points“, wo wir kompromisslos auf den Besitz der Karte überprüft wurden.

               Die Züge fahren alle zwanzig Minuten (vormittags, am Nachmittag kann sich das Intervall bis zu einer Stunde verlängern). Wir stiegen ein und brachen mit anderen Touristen (es gab dank der Coronapandemie schockierend wenige) in Richtung Norden auf. Ich entschloss mich unsere Erforschung von Cinque Terre in dem am entferntesten Ort zu beginnen und dann sich Schritt für Schritt dem Ausgangspunkt zu nähern. Die Idee war sicherlich nicht schlecht, aber zu wenig originell. Fast alle Anwesenden wählten nämlich diese Variante.

               Monterosso al Mare hat einen ziemlich großen Strand. Man kann hier baden, wenn es Badewetter gibt.

Dies gab es nicht. Zu meinem Erstaunen gab es hier auch einen ziemlich großen Parkplatz. Wir suchten vergeblich das Stadtzentrum, wo man angeblich „Loggia del Podestá“, die Pfarrkirche des Heiligen Johann des Taufers und das Kloster des Heiligen Franziskus sehen könnte. Alle Abzweigungen von der Küstenpromenade führten uns immer wieder zwischen Hotels und Apartments und wenn ich nach dem Weg ins Zentrum eine Frau fragte, die wie eine Einheimische ausgesehen hat, starrte sie mich an und verschwand wortlos. Ich dachte, dass mein gebrochenes Italienisch daran schuld war, meine wiederholten Fragen in Englisch brachten aber auch keinen Erfolg. Wir tranken also auf einer Terrasse über dem Meer einen Espresso, warteten, bis die Wolken verschwanden, die Sonne begann zu strahlen und danach verließen wir leicht frustriert Monterosso al Mare in Richtung Süden. Der weitere Verlauf des Ausfluges sollte uns aber ausreichend entschädigen.

Monterosso al Mare

               Das nächste Städtchen ist Vernazza und es ist möglicherweise das schönste von allen. Vernazza hat nämlich einen Hafen, liegt direkt am Meer und brüstet sich mit einer Festung über dem Meer mit einer Aussichtsterrasse, der Kirche der Heiligen Maria von Antiochia aus dem Jahr 1318 und mit Unmengen an Geschäften mit Essen und Getränken, Ristoranten, Osterien und Trattorien, also ein italienischer Traum hautnah. Weil es sich so gehört, entschieden wir uns die Entfernung zwischen den Städtchen Vernazza und Corniglia zu Fuß zu überwinden. Ich gebe zu, dass ich mir unter der Bezeichnung „der untere Weg“, die wir wählten, einen angenehmen Pfad an der Küste vorgestellt hatte.  Dass der Weg zuerst über das Städtchen stieg, habe ich anfangs positiv angenommen als ein Angebot, uns die schönsten Blicke auf Vernazza anzubieten und die haben wir wirklich genießen[AP1]  können.

Vernazza

Dann aber stieg der Weg weiter und er wollte damit nicht aufhören, was mich immer mehr unruhig und später auch zornig machte. In einer Entfernung von je ca. hundert Metern gab es hier Tafeln, die die Nummer von Rettungsdienst (und Feuerwehr) bekannt gaben. Wenn ich sie am Anfang ignorierte und später sie für unnötig hielt, mit zunehmenden Höhemetern wurde diese Information immer wertvoller. Letztendlich habe ich eine davon fotografiert, um die Information für jeden Fall zur Hand zu haben.

Es gab nämlich letztendlich 208 Höhemeter und dass ist bei Temperaturen über 30 Grad Celsius nicht gerade wenig. Die anfängliche Begeisterung meiner Gattin wurde durch eine Ernüchterung abgelöst, dann durch Enttäuschung, Proteste und zuletzt endete es mit einem erschöpften Stöhnen und ich machte mir wirklich Sorgen. Auf dem höchsten Punkt befindet sich eine Bar mit einer Aussichtsterrasse, aber vor allem mit Obstsäften, die dort für die Besucher frisch gepresst werden. Ich empfehle eine Kombination von Orangen und Zitronen, es ist erfrischend, nicht zu süß und im Zustand, in dem man die Bar erreicht, lebensrettend. Die Zitronen wachsen übrigens dort auf den Felsen überall, das Klima ist für sie sehr günstig und die Einheimischen machen aus Zitronen einen alkoholischen Liquor Limoncino. (Bitte nicht mit Limoncello aus Kampanien verwechseln, obwohl ich gar nicht weiß, warum nicht. Meiner Meinung nach schmecken beide sehr ähnlich, wenn nicht gleich, ich bin aber natürlich auf diesem Gebiet kein Spezialist.)

               Im „Cinque Terre Point“ in La Spezia wollte uns die dort arbeitende Dame einreden, dass es sich bei dem Weg zwischen Vernazza und Corniglia um einen Spaziergang mit einer Dauer von dreißig Minuten handelt. Es war ein unverschämtes PR und Fake news. Wir brauchten für den Weg beinahe zwei Stunden und anschließend wollten uns die Italiener auf dem Bahnhof in Corniglia einreden, dass die gesamte Strecke nur 3,4 Kilometer lang sei. Na sicher! Weiter hat uns niemand darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht egal ist, von welcher Seite man den Weg geht. Corniglia liegt nämlich hundert Meter über dem Meeresspiegel und Vernazza direkt am Meer. Diese hundert Höhemeter, die man in Corniglia bequem in einem Shuttlebus zurücklegen kann (natürlich nur wenn man ein stolzer Besitzer der „Cinque Terre Card“ ist, aber ohne die hätte man ohnehin kein Anspruch aufs Leben) sind unbezahlbar. Es war zu spät über unsere Entscheidung zu weinen, wir fuhren mit dem Bus hinunter zum Bahnhof. Im Dorf geht man an der Kirche San Pietro aus dem Jahr 1334 vorbei, es zahlt sich aus, hineinzuschauen.

Corneglia

               Auf dem Bahnhof in Corneglia machte meine Frau eine Meuterei. Sie lehnte den nächsten Stopp in Manarola strikt ab und das mit dem Argument, dass „Quatro Terre“ auch genug sind. Manarola ist das kleinste der Städtchen, es liegt direkt an einer Flussmündung und es gab nicht zu viel Platz dort Häuser zu bauen. Also es gab auch keinen Platz für uns und wir konnten nicht die örtliche Kirche „Nativitá di Margina Vergine“ besuchen.

Manarola

               Durch Schwänzen von Manarola ist uns natürlich auch die Möglichkeit entgangen, die „Via dell´Amore“ zu begehen. Das ist ein Weg am Meer zwischen Manarola und Riomaggiore, wo sich angeblich die Verliebten aus diesen zwei Orten heimlich treffen konnten. Aber nicht einmal die Möglichkeit, auf dem Liebespfad die Landschaft zu erkunden, konnte meine Frau zum Einlenken bringen. Recht hat sie gehabt – schon wieder einmal. Nachträglich habe ich erfahren, dass der Weg wegen eines Erdrutsches gesperrt wäre und nur die ersten zwei hundert Meter von Manarola zugänglich sind.

Via dell´Amore

               Wir fuhren also direkt zu dem größten der Städte Riomaggiore mit dem Zug. Zuerst habe ich versucht, meine Müdigkeit aus der „beinahe Bergtour“ mit dem Wein Cinque Terre zu verbannen. Der süße Wein aus Cinque Terre Sciacchetra wurde bereits von Dante Alighieri für seine bernsteinähnliche Farbe, süßen Geschmack und den feinen Geruch gepriesen. Ich bekomme allerdings nach einem süßen Wein Sodbrennen. Aus diesem Grund habe ich den Wein „Vino Bianco Cinque Terre“ gewählt der seit dem Jahr 1973 die Bezeichnung DOC (Denominazione de Origine Controllata) trägt. Dieser Wein wird aus drei Weinsorten gemischt: Bosco, Vermentino und Albarola und schmeckt hervorragend. Besonders, wenn man zuvor eine Wanderung gemacht hat, angeblich nur dreiundhalb Kilometer lang, was allerdings niemand glauben kann.

               Riomaggiore ist das größte der fünf Städtchen und wirkt ein bisschen impressionistisch, es wundert mich nicht, dass der impressionistische Maler Telemaco Signorini dem Zauber der Stadt unterlag. Ich glaube, Egon Schiele hätte sich dort auch gefreut.

Riomaggiore

Es ist notwendig bergauf zur Kirche des Heiligen Johannes des Täufers aus den Jahren 1340 – 1343 zu steigen. In der Kirche gibt es eine reich verzierte Kanzel, die allerdings um zwei hundert Jahre jünger ist. Wir setzten unseren Aufstieg bis zu einer Festung aus der Zeit der genuesischen Herrschaft fort, die sich auf dem höchsten Punkt der Stadt befindet. Von hier gibt es wunderschöne Aussichten und Bänke im Schatten großer Bäume, wo man sich erholen kann. Hier trafen wir einen örtlichen Senior, der mit seinem Rollator gerade die Festung erreicht hat. Er registrierte meinen Blick der Bewunderung und begann mit uns zu plaudern. Er hat sehr gut mit nur einem minimalen fremden Akzent deutsch gesprochen, er gab zu, dass er das ganze Leben lang Sprachen gelernt hatte, und zwar Französisch, Spanisch, Englisch und zuletzt auch Deutsch. Der Grund seiner Begeisterung für die Sprachen konnten wir dann im Laufe des Gespräches entdecken. Es handelte sich offensichtlich um einen einheimischen Casanova, der das ganze Leben Jagd auf Touristinnen machte. Und er hatte auch Erfolge. Wir ließen ihn uns über seine Erfolge erzählen, so haben wir auch das Geheimnis seines hervorragenden Deutsch verstanden – es war eine Dame aus Salzburg. Er selbst war ein Beamter in Riomaggiore und sein Hobby war, den Besucherinnen seine Stadt von der schönsten und angenehmsten Seite zu zeigen. Leider hat unser Casanova sicher bereits bessere Zeiten erlebt, jetzt war er schon im Ruhestand und nicht nur, was seine Arbeit im Gemeindeamt betraf. Man konnte es sehen und leider auch riechen. Er bestand auf einem Foto mit meiner Frau. Wir haben ihm es gegönnt, er schrieb sich sorgfältig ihren Namen auf. Er hat sicher zu Hause eine Fotosammlung als Erinnerung an die besseren Zeiten, die vergangen sind.

               Der letzte Ort in der Region, der besuchswert ist, ist Portovenere. Es ist von La Spezia zwar nur dreizehn Kilometer entfernt, man muss aber für die kurvige Straße an der Küste mindestens eine halbe Stunde einplanen.

Portovenere

Portovenere war einmal der letzte Posten der Genuesischen Republik, der die Meeresenge zu La Spezia kontrollierte (La Spezia entstand als eine moderne industrielle Stadt und es gibt hier nichts Interessantes zu sehen. Seit 1997 ist Portovenere in der Liste der „Weltkulturerbe“ der UNESCO aufgenommen. Es strahlt mit farbig bemalten Häusern, atemberaubend ist die Kirche San Pietro auf dem äußersten Felsenausläufer. Oberhalb der Stadt ragt eine große Festung empor, die einmal das Interesse der Genuesen in dieser Region bewachte. Wer Lust hat, kann zu ihr bergauf laufen, ich muss in meinem Alter nicht unbedingt alles haben.


 [AP1]

Pistoia

Wenn jemand versucht euch zu überzeugen, dass das Wort „Pistole“ vom dem Wort Pistoia stammt, weil hier angeblich die Schmiede im sechzehnten Jahrhundert das erste Mal diese kurze Schusswaffe erzeugten, die die Benutzung der Schusswaffen auch der Kavallerie möglich machte, glaubt ihm nicht. Ich habe mich bemüht über diese Hypothese zu recherchieren und ich stieß auf so viele widersprüchliche Behauptungen, dass ich diese Theorie endgültig verworfen habe. (Angeblich war das ein Name für einen Dolchtyp, der in Pistoia benutzt wurde und sogar der Name der Stadt sollte von „Pistole“ stammen.) Einfach alles an Haaren herbeigezogen, wir können uns damit zufriedengeben, dass das Wort „Pistole“ seinen Ursprung in der tschechischen Bezeichnung der Schusswaffen der Hussiten, die ihre Gewähre „Píšťala“ nannten, hat. Zumindest ich kann damit gut leben.

               Pistoia versuchte möglicherweise auf diese Art seinen Ruf zu verbessern, da diese Stadt, positioniert zwischen Florenz und Lucca, offensichtlich an einem Minderwertigkeitskomplex leidet, weil im Gegensatz zu seinen berühmteren Nachbarn kaum jemand etwas über sie weiß. Ich reiste nach Pistoia übrigens auch lediglich deshalb, um die Ordnung zu bewahren. Es fehlte mir in der Liste der von mir besuchten Städte und lag direkt auf dem Weg zwischen Florenz und Lucca, wo das Ziel meiner Reise war.

               Ganz umsonst war der Besuch der Stadt nicht und könnte sogar noch viel besser sein – wenn die Öffnungszeiten der Sehenswürdigkeiten in der Stadt christliche Dimensionen hätten. Das tat die Stadt aber nicht, fast alles war geschlossen, also der Haupteindruck, den man vom Besuch mitgenommen hat, ist das Gefühl eines riesigen Marktes.

Tatsächlich nicht nur auf der „Piazza del Duomo“ und auf der nahen „Piazza del Spirito“, sondern auch in allen Gässchen standen Stände mit Waren aller Art, mit Lebensmitteln (zum Beispiel mit ersten Steinpilzen, die ich heuer sah), mit Kleidung, Schuhen, einfach mit allem.) Durch den Wald der Stände war die Altstadt selbst kaum sichtbar.

               Die Stadtmauer, die die Altstadt noch immer umgibt, ließ der Großherzog von Toskana Cosimo I. bauen, weil Pistoia logischerweise ein Teil des Herzogtums Toskana war.

Seine Geschichte, obwohl nicht so ruhmreich wie die der Nachbarn, ist viel älter. Es handelte sich um einen Ort der Etrusker, später um eine römische Stadt. Im Jahr 1115, als die letzte toskanische Herzogin Mathilde starb, erklärte Pistoia gleich wie alle andere toskanische Kommunen ihre Unabhängigkeit und erließ eine eigene Verfassung. Aber so eine Selbständigkeit hat nicht nur positive Seiten. Pistoia geriet in Konflikte mit seinen Nachbaren Prato, Pisa, Florenz und Lucca und diese erwiesen sich stärker und mächtiger als Pistoia selbst. Natürlich auch in Pistoia wütete der Kampf zwischen Guelfen und Ghibellinen und als nach dem Tod Kaisers Friedrich II. die Guelfen Oberhand bekommen hatten, spalteten sie sich sofort in Weiße Guelfen, die eine Autonomie von der päpstlichen Macht verlangten und Schwarze Guelfen, die auf einem absoluten Gehorsam dem Papst gegenüber pochten. Der Papst Bonifatius VIII lud eine Armee unter der Führung des französischen Prinzen Charles von Valois nach Italien ein, die Ordnung schaffen sollte. Valois schaffte es in Florenz die Macht der Schwarzen Guelfen zu etablieren, was für Dante Alighieri eine lebenslange Verbannung zur Folge hatte.  Pistoia beherrschten im Gegensatz zu Florenz die Weißen Guelfen, was eine elfmonatige Belagerung von einer Armee unter der Führung von Moriella Malaspina, des Markgrafen von Lunigiano zur Folge hatte und mit einer Kapitulation der Stadt endete. Von diesem Krieg erholte sich die Stadt nie mehr vollkommen, sie wurde nur durch die historischen Ereignisse mehr oder weniger machtlos geschleppt, bis im Jahr 1401 endgültig die Vorherrschaft von Florenz akzeptierte und ihre selbständige Existenz damit beendete.

               Was berühmte Persönlichkeiten betrifft, die gab es in Pistoia auch nicht wirklich im Überschuss. Neben eines Freundes Dantes, Cino da Pistoia, war das vor allem Papst Klemens IX. Er war nur kurz in den Jahren 1667 – 1669 im Amt, er wurde aber dadurch auffällig, dass er ein anständiger Mensch war, was unter den Päpsten dieser Zeit ein absolutes Kuriosum war.

Stecher: Clouwet, Albertus Verleger: Rossi, Giovanni Giacomo de Zeichner: Gaulli, Giovanni Battista Maler: Gaulli, Giovanni Battista

Giulio Rospigliosi, wie er mit seinem bürgerlichen Namen hieß, stammte aus einer erhabenen Familie aus Pistoia, im Gegensatz zu seinen Vorgängern und Nachkommen ehrte er die Gesetze und missbrauchte sein Amt nicht zum Nepotismus, also zur Beschenkung seiner Verwandten. Das war eine unerhörte Sache und weckte großen Unmut, besonders bei seinen Familienangehörigen. Seine Parole lautete: „Barmherzig zu anderen, nicht zu sich selbst“. Wobei er seine Familie nicht zu „den anderen“ zählte. Er hat die Steuern reduziert und an seinem Tisch saßen täglich dreizehn Arme von der Straße und er servierte ihnen persönlich die Suppe. Er stattete oft einen Besuch dem Spital in Lateran ab und ging täglich zur Beichte. Die Römer, die gar nicht an solche Päpste gewöhnt waren, waren von seiner Persönlichkeit schockiert und sie verehrten ihn wie einen Heiligen. (Natürlich wurde er im Gegensatz zu vielen Abenteuern, Intriganten und gewaltsamen Päpsten nicht heiliggesprochen). Klemens hatte das Glück, dass gerade in seiner Zeit das Werk des genialen Berninis seinen Höhepunkt fand, und der Architekt den Säulengang auf dem Petersplatz oder die Brücke vor dem Engelsburg schuf.

               Ein anständiger Papst war in dieser Zeit eine schockierende Angelegenheit. Der Sonnenkönig Ludwig XIV. war so sehr schockiert, dass er selbst begann, sich (beinahe) anständig zu verhalten. Er stimmte sogar zu, dass der Papst Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und Spanien im Krieg um die spanischen Niederlande veranlassen konnte. Die Beziehung der Kurie zum Sonnenkönig verbesserte sich so weit, dass Ludwig XIV sogar willig war, die Venezianer in ihrem Kampf mit den Türken um Kreta zu unterstützen. Die Franzosen taten es heimlich, weil die Türken ihre traditionellen Verbündete waren. Die Schiffe musste der Papst liefern, Franzosen schiffte ihre Soldaten ein, die Venezianer vortäuschen sollten. Sie durften keine französischen Zeichen an der Kleidung haben und Ludwig hoffte, dass ein Türke einen Franzosen von einem Italiener sowieso nicht unterscheiden konnte. Wenn diese Geschichte einigermaßen an eine nicht so lang in der Vergangenheit liegende Tat auf einer Halbinsel im Schwarzem Meer errinnert, ist das nur ein Beweis, dass sich die Geschichte häufig wiederholt. Im Jahr 1669 galt es aber nicht ganz. Nicht einmal die nicht gezeichnete Truppen halfen, Kreta fiel im Jahr 1669 in türkische Hände und der gute Papst Klemens IX. grämte sich über den Verlust eines weiteren christlichen Landes zu Tode. Überraschenderweise habe ich in Pistoia kein Denkmal dieses berühmtesten Bürgers der Stadt entdeckt – anständige Leute habe einfach Pech, sie werden von Menschen rasch vergessen. Übrigens dieser Papst ist unter seinem bürgerlichen Namen vielleicht sogar noch berühmter, und zwar als ein Librettist der römischen „Opera bufa“.

               Wenn man sich Pistoia auf der Autobahn nähert, sieht man schon von Ferne eine Kuppel, die auffällig an die Kuppel des Doms von Florenz erinnert. Es ist keine zufällige Ähnlichkeit, der Autor dieser Kuppel, der berühmte Architekt und Schriftsteller Giorgio Vasari ließ sich von dem Werk Bruneleschis in Florenz inspirieren. Die Kuppel in Pistoia ist zwar kleiner als die von Florenz, trotzdem handelt sich immer noch um drittgrößte Kuppel in Italien. Zu meiner Überraschung ist das aber nicht die Kuppel der örtlichen Kathedrale, die dem Heiligen aus Verona, Zeno, gewidmet ist (St Zeno ist neben der Heiligen Reparata in Toskana ein sehr populärer Heiliger), sondern der Kirche „Madonna dell´Umilta“ (Madonna der Demut), In dieser Kirche spielt das Fresco der Madonna auf dem Hauptaltar die tragende Rolle. Nach einer Legende begann die Madonna im Jahr 1490 an der Stirn zu schwitzen. Von ihrer Stirn tropften Schweißtropfen und fielen auf den Kopf des Christkindes in ihren Armen. Die Nachricht über das Wunder verbreitete sich schnell und nach Pistoia strömten Massen von Pilgern. Das Ereignis wurde von einer Menge weiterer Wunder begleitet, bis die Madonna am 17.Juli 1490 mit dem Schwitzen aufhörte. Zur Ehre dieses Wunders bekam das Fresco seit dem Jahr 1495 eine neue Kirche, die dann Vasari mit seiner Kuppel im Jahr 1561 vollendete.

               Pistoia liegt auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela und die Jakobsmuschel können wir also auf vielen Plätzen der Stadt sehen. Am Tag unseres Besuches flatterte die Flagge mit goldener Jakobsmuschel auf dem blauen Feld auf dem Kampanile. Der Kampanile ist ein merkwürdiger Mix, der untere Teil ist ein Rest eines Festungsturmes, dann kommen drei Stockwerke im pisanischen romanischen Stil aus dem 13. Jahrhundert und die Spitze stammt aus dem Jahr 1576.

Das berühmteste Artefakt, das an den heiligen Jakob erinnert, ist der Sankt Jakobaltar, der sich in einer Seitenkapelle der Kathedrale befindet. Man kann ihn von dem Hauptschiff durch Gitter sehen, wenn man ihn aber aus der Nähe bewundern möchte, muss man eine Eintrittskarte kaufen, was nicht ganz so einfach ist. Auch wenn die angekündigten Öffnungszeiten der Kathedrale einen ununterbrochenen Betrieb bis 17:30 versprechen, ist es nicht wahr. Zwischen 12:30 und 14:30 ist die Kirche geschlossen – die Siesta muss auch von den Heiligen eingehalten werden. Der Altar wurde beinahe zweihundert Jahre gestaltet, mit den Arbeiten haben die Schmiede von Pistoia im Jahr 1287 begonnen und sie wurden von Bruneleschi im Jahr 1457 abgeschlossen. Kein Wunder, dass es so lange gedauert hat, auf dem Altar gibt es insgesamt 628 Figuren aus Silber, die Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament darstellen, sowie natürlich auch aus dem Leben des heiligen Jakobs. Die Kirche selbst ist ein Beispiel des romanischen pisanischen Stils, der in dem dreizehnten Jahrhundert in der gesamten Toskana sowie auch auf Sardinien sehr populär war – es geht um die typische Kombination von Streifen aus weißem und grünem Marmor.

Ähnlich ist es auch mit dem riesigen Baptisterium aus dem vierzehnten Jahrhundert, obwohl dieses in Folge seines späteren Entstehungsdatums romanische Elemente mit gotischen vermischt. Innenausstattung des Baptisteriums ist überraschend arm, es gibt hier keine Fresken oder anderen Schmuck, nur das Taufbecken in der Mitte, die Wände sind nur aus bloßen Backsteinen gebaut.

Der Platz vor der Kathedrale die „Piazza del Duomo“ ist mit einigen anderen Gebäuden umgeben, die daran erinnern, dass Pistoia in seiner früher Geschichte weder klein noch arm war. Es ist der Bischofpalast, in dem sich das Kapitelmuseum befindet und dann der „Palazzo del Podestá“. Der Hof des Palastes ist mit Wappen der Stadtvögte geschmückt, die hierher Florenz einsetzte. Das Stadtmuseum befindet sich im sehr schönen Gebäude „Palazzo Commune“, gebaut in den Jahren 1294 – 1385, also noch bevor die Kontrolle über die Stadt Florenz übernommen hat. Trotzdem befindet sich auf der Fassade ein Wappen mit den päpstlichen Schlüsseln, das an den Papst Leo X, erinnert. Leo X. hieß mit eigenem Namen Giovanni Medici, stammte aus Florenz und er war ein Sohn des berühmten Lorenzo Magnifico (des Prächtigen) – er war in den Jahren 1513 – 1521 Papst. Dieser Papst war ein Symbol der Versöhnung zwischen dem Kirchenstaat und der Familie Medici. Im Jahr 1478 versuchte Papst Sixtus IV. die Gebrüder Medici ermorden zu lassen und anschließend konfiszierte er den gesamten Besitz der Familie im Raum des Kirchenstaates. Diese Taten machten natürlich zwischen beiden Parteien keine gute Stimmung. Nachdem aber Lorenzo, der im Gegensatz zu seinem Bruder Gulio das Attentat überlebt hatte, mit Ferrante, dem König von Neapel und Verbündetem des Papstes Frieden geschlossen hat, blieb dem Papst nichts anderes übrig, als eine Versöhnung mit Medici zu suchen. Giovanni wurde mit sieben Jahren zum apostolischen Protonotar und mit dreizehn wurde er zum Kardinal ernannt. Zum Papst wurde er im Alter von 38 Jahren gewählt, wenn sich aber jemand von seiner Wahl ein langes Pontifikat versprach, wurde enttäuscht. Der Papst starb nach bloß acht Jahren seiner Herrschaft.

Eine weitere schöne Kirche im Stil der pisanischen Romanik ist die Kirche San Giovanni Fuorvicitas. (Kirchen in Pistoia ähneln eine der anderen ein bisschen wie ein Ei einem anderen) Der Name der Kirche sollte uns nicht verwirren, Fuorvicitas bedeutet vor der Stadt, das galt aber in der Zeit der langobardischen Verwaltung, als Pistoia noch viel, viel kleiner war als heute, heute steht die Kirche beinahe im Stadtzentrum. Bevor wir den Kaffee ausgetrunken hatten, wurde auch diese Kirche um 12:30 geschlossen, also konnte ich nur nachlesen, dass ich dort Werke von Giovanni Pisano oder Luca de la Robia bewundern hätte können.

Die größte Enttäuschung war dann für uns der Versuch des Besuches im „Ospedale del Cepo“.

Es ist nicht weit von der „Piazza del Duomo“ auf dem „Platz Johanns XXIII“ und es handelt sich um ein mittelalterliches Spital, das bereits im Jahr 1277 gegründet wurde. Eine bedeutende Rolle spielte es in der Zeit des „Schwarzen Todes“, der Pistoia im Jahr 1348 erreichte. Nachdem Pistoia von Florenz besetzt worden war, machten die neuen Stadtherren aus dem kirchlichen Spital ein Stadtkrankenhaus. Die Öffnungszeiten des Museums, wo die mittelalterliche Medizin präsentiert wird, sind ziemlich obskur. Im Winter ist es von zehn vormittags bis zwei nachmittags. Im Sommer ist es von drei bis sechs nachmittags. Es war Sommer und eine Uhr mittags. Das Gebäude ist allerdings auch von außen interessant. Im Jahr 1502 bekam es eine Loggia im Stil der Renaissance und im Jahr 1525 wurde es mit Majolikafries geschmückt mit herrlichen Bildern der sieben Barmherzigkeitstaten von Giovanni della Robia und seinen Schülern. Übrigens, in einem Teil des Gebäudes wird auch heutzutage Medizin betrieben. Wir traten nämlich in eine falsche Tür ein und plötzlich standen wir vor der Blutbank.

Wer noch immer von den Kirchen im pisanischen Stil nicht genug hat, kann noch die Kirche des heiligen Andreas aus dem zwölften Jahrhundert besuchen, das Hauptportal ist aus dem Jahr 1166 und die Kanzel schuf Giovanni Pisano, wobei sich hier der junge Meister noch für sein berühmtes Meisterwerk in der Kathedrale von Pisa übte.

Die Altstadt ist mit einem Mauerring umgeben. Der am besten erhaltene Teil der Stadtmauer ist „Fortezza Santa Barbara“ in südöstlicher Ecke der Stadt. Er ist ein Teil des Stadtparkes, wo sich der Besucher nach dem Besuch der Stadt erholen könnte.

Wir hatten keine Zeit dafür. Enttäuscht durch die Öffnungszeiten der Sehenswürdigkeiten von Pistoia setzten wir unsere Reise in Richtung Lucca fort.

Also zur Frage, ob sich ein Besuch von Pistoia lohnen würde. Grundsätzlich ja, aber im Winter vormittags, im Sommer nachmittags und KEINESFALLS mittags!

Ferrara

Ferrara – nach fünfjähriger Pause wieder einmal eine Italienreise

            „Tempi passati“ sagen die Italiener, wenn sie sich an die alten guten Zeiten erinnern. Die Zeiten ändern sich aber und sie taten es auch in der Vergangenheit. Im Jahr 1152 brach der Fluss Po Schutzdämmer bei dem Städtchen Ficarolo und die Folge war eine katastrophale Flut, nach der der Fluss seine Flussrichtung änderte. Wenn also vorher Ferrara direkt an dem Fluss Po lag, der es sogar von Süden umfloss, danach verlagerte sich der Fluss weit nach Norden. Trotzdem erlebte die Stadt wunderbare Zeiten, die mit der Tätigkeit der Familie d´Este verbunden waren. Diese Familie beherrschte die Stadt im Namen des Papstes in den Kämpfen gegen Kaiser Friedrich II.  im Jahr 1242 und blieb hier bis 1597. Die reichen d´Este, anfangs Markgrafen, seit 1452 dann Herzöge, bauten Ferrara zu ihrer Residenz aus und sparten dabei nicht. Sie bauten eine riesige uneinnehmbare Wasserburg (die sie allerdings eher gegen eigene Untertanen als gegen Feinde von außen schützen sollte), sie lockten in die Stadt viel Prominenz, die hier weitere schöne Paläste baute und Herzog Alfonso II. schaffte es sogar, die Kaisertochter Barbara zur Frau zu nehmen. Na gut, Kaiser Ferdinand I. hatte zwölf Töchter und es war also nicht einfach, alle in hochgeborene und reiche Familien, die nicht auf einer großen Mitgift pochten, einzuheiraten, trotzdem war diese Heirat eine Bestätigung, wie groß die Bedeutung des Herzogs von Ferrara war. Der Herzog schätzte diese Verbindung auch sehr und in seinem Diamantenpalast ließ er für Barbara einen großen Saal „Sala grande d´Onorio“ einrichten. Aber nicht einmal das half. Alfonso starb kinderlos und seine verlockende Residenz konfiszierten die unersättlichen Päpste. Und mit dem Einzug der päpstlichen Verwalter begann der unaufhaltsame Niedergang der Stadt.

            Heute ist Ferrara eine verschlafene – mit seinen 133 000 Einwohner für italienische Verhältnisse eher kleine Stadt in dem Podelta. Verschlafen ist sie besonders am Sonntag und wenn das Thermometer 35 Grad im Schatten zeigt. Ich gebe zu, dass solche Temperaturen für die Erkundung der Stadt nicht die beste Voraussetzung waren. Es hilft auch die Volksweisheit nicht: “Wenn ihr so viel über die 35 Grad im Schatten jammert, dann, verdammt, geht in den Schatten nicht“. In der Sonne ist das nämlich keine Spur besser.  Trotzdem kann man in Ferrara viel sehen (seit dem Jahr 1995 gehört die Altstadt zum Weltkulturerbe UNESCO, die Erinnerungen an die ruhmreiche Vergangenheit wurden zwar durch ein Erdbeben am 30.Mai 2012 beschädigt, die Spuren der Verwüstung sind aber heutzutage nicht mehr sichtbar, wenn wir die verhüllte Fassade der Kathedrale nicht einrechnen. (Die Kathedrale selbst ist für Besucher nicht zugänglich, ob diese Tatsache mit dem Erdbeben vor neun Jahren zusammenhängt, habe ich nicht erfahren).

Gleichfalls ist auch die Statue des berühmtesten Bürgers von Ferrara verhüllt – im Jahr 1452 wurde in Ferrara der Prediger Girolamo Savonarola geboren, der neben Wyclif und Hus zu den bedeutendsten Kirchenreformern vor Luther gehörte. Es war ihm gelungen, Florenz zu beherrschen und die Medici aus der Stadt zu vertreiben, bevor er selbst auf dem Schafott im Jahr 1498 endete. (zuerst wurde er gehängt und dann verbrannt) Langsam muss ich mich daran gewöhnen, dass die Italiener vor mir ihre Kulturdenkmäler verhüllen, in Bologna konnte ich den berühmten Neptun auch nicht sehen.

            Die Geschichte der Stadt ist untrennbar mit der Familie d´Este verbunden. Der erste der berühmten Familienmitgliedern war Azzolino II. In der Zeit der Kämpfe zwischen Kaiser Friedrich II. und den Päpsten stellte er sich auf die päpstliche Seite und es zahlte sich aus. Im Jahr 1242 wurde er vom Papst Gregor IX. zum Podesta der Stadt ernannt und im Jahr 1259 gelang es ihm ein Husarenstück, als er das Haupt der Ghibellinen in Norditalien, Ezzelino di Romano, gefangen nehmen konnte. Die Päpste haben realisiert, dass sie sich auf diese Familie verlassen konnten und so wurde Azzelinos Enkel Obizzo II. zum Generalkapitän und Beschützer des Kirchenstaates ernannt. (Ferrara gehörte de jure zur Pippins Schenkung und damit zum Kirchenstaat). D´Este ließen sich definitiv in Ferrara nieder und wurden zu seinen Herrschern. Formal waren sie zwar Lehensmänner des Papstes, das hinderte sie aber nicht daran, ihre eigene Machtbasis auszubauen. Von der Tatsache, dass sie sich unter ihren Untertanen nicht ganz sicher gefühlt haben, zeugt das gigantische „Castello Estense“ in einer Ecke der Altstadt.

Die riesige Wasserburg begann Niccolo II. im Jahr 1385 zu bauen, weil aber seine Nachfolger noch während der Bauarbeiten entschieden, anstatt einer gotischen Festung einen Renaissanceschloss haben zu wollen, zogen sich die Arbeiten über beinahe zweihundert Jahre. Man kann allerdings nicht sagen, dass die d´Este sich um ihre Stadt nicht gekümmert hätten, die Universität gründete bereits Alberto, der Sohn Niccolos im Jahr 1391. Die Öffnungszeiten des Castellos sind merkwürdig, am Samstag und am Sonntag ist es geschlossen. Niemand konnte mir diese Tatsache erklären, die Dame an der Kasse im Palast Schiafonia, die ich gefragt habe, schämte sich ein bisschen, sie gab zu, dass es so „einfach ist“. Wir waren in Italien und dort müssen die Dinge nicht unbedingt einen nachvollziehbaren Grund haben. Also mussten wir mit dem Besuch bis Montag warten. Man kann dort ziemlich viel sehen, besonders dann die Säle mit Fresken an den Decken, die man in raffiniert positionierten Spiegeln sehen kann, ohne sich den Nacken zu versteifen, die größten Säle sind „Sala dei Giganti“ und „Salone dei Giochi“ Man kann auf das Löwentor steigen, wo einmal Ugo d´Este inhaftiert war, – darüber aber später. Man kann auch die Kapelle der Renée der France besuchen, einer Tochter des französischen Königs Ludwig XII., die Herzog Ercole II. d´Este geheiratet hat. Die Herrscher von Ferrara verkehrten wirklich in der höchsten Gesellschaft. Renée verursachte ihrem Mann durch ihre Zuneigung zu Protestantismus nicht gerade kleine Probleme (Ferrara war verdammt nah am Papst und seinem Machtinteresse), also musste sie Ercole letztendlich unter Hausarrest stellen, um den wütenden Papst zu beruhigen. Im Hof des Castellos gab es heuer eine Statuenausstellung „Le Done, i Cavallieri, gli Armi e gli Amori“, also „Die Damen, die Ritter, die Waffen und die Liebschaften“. Sie war interessant, manche der Gepanzerten gehen in der Sache der Liebe hart an die Sache, andere wirken, als ob sie aus den heutigen Zeiten stammen würden.

            Castello Estense ist durch einen langen Gang in der ersten Etage mit dem Palazzo Communale verbunden, von dem aus d´Este geherrscht hatten, bevor sind ihre Burg fertiggebaut haben. Über den Eingang ins Gebäude, das heute als Rathaus dient, gibt es zwei Statuen bedeutender d´Este aus Bronze, die hier Ercole I., der größte Erbauer der Stadt, aufstellen ließ.

            Auf einem Pferd ist hier der Vater Ercoles Niccolo III. d´Este dargestellt.

Er war eine der skurrilsten und tüchtigsten Personen in der Familie. Niccolo war ein sehr aktiver Mann. Er zeugte insgesamt 24 Kinder, einige eheliche und viel mehr uneheliche, er machte allerdings zwischen ihnen keinen Unterschied. Sie lebten alle unter einem Dach wie eine Familie, inklusiv seiner Gattinnen und Geliebten, die Burg war groß genug für alle. Seine [AP1] erste Frau Gigliola da Carara war unfruchtbar, weshalb die Position der wahren Herrscherin im Palast Stella di Tolomei eingenommen hat, die fruchtbar[AP2]  bis geht nicht mehr war. Das Problem entstand, als Niccolo nach dem Tod von Gigliola im Jahr 1418 eine neue junge Frau Parisina aus der Familie Malatesta aus Rimini heiratete. Die vierzehnjährige Braut war durch die Verhältnisse in der großen Familie, wo manche der Kinder in ihrem Alter waren, total überfordert. Besonders als Stella di Tolomei 1419 am „gebrochenen Herzen“ starb. Parisina sollte die Hausherrin spielen und sich um eine Menge Stiefkinder kümmern. Der Markgraf war um zwanzig Jahre älter als sie, das Mädchen hat eine verwandte Seele gesucht und leider auch gefunden – in der Person von Niccolos Sohn Ugo. Junge Leute, die beinahe gleich alt waren, verliebten sich einander und die Liebe blieb nicht nur platonisch, sondern wurde auch vollzogen. Das geschah im Jahr 1425, als Parisina einundzwanzig und Ugo zwanzig Jahre alt waren. Als es dem Markgrafen gemeldet wurde, wollte es das nicht glauben – er war also nicht wie Othello, der schon bei Verdacht tötete. Seine Diener ermöglichten ihm aber, seinen Sohn mit seiner Frau in flagranti zu erwischen, er wurde Augenzeuge ihrer Liebe. Der wütende Niccolo ließ beide im „Castello Estense“ inhaftieren – jeden in einem anderen Turm (der Turm, wo Parisina eingesperrt wurde, heißt bis heute Torre Malatestiana) und dann in einem unterirdischen Gefängnis (man kann es besuchen) beide enthaupten. Es dauerte weitere sechs Jahre, bis Niccolo seine Trauer überwunden hat und das dritte Mal heiratete. Zu seiner dritten Frau wurde Ricarda di Saluzzo, die ihm den Sohn Ercole gebar, der auf entscheidende Weise das Aussehen der Stadt verändern sollte. Nach dem Niccolos Tod wechselten sich auf dem Thron von Ferrara seine drei Söhne ab und sie herrschten insgesamt 64 Jahre lang – es war möglich, da zwischen ihnen 24 Jahre Altersunterschied war.

            Niccolo war aber nicht nur in Ehe- und anderen Betten aktiv. Er schaffte es, sehr geschickt zwischen den konkurrierenden Mächten Papsttums und Kaisertums zu taktieren. Kaiser Sigismund erweiterte sein Machtgebiet und schlug seine Söhne zu Rittern, danach aber unterstützte Niccolo auf eine entscheidende Art den Papst. Im Jahr 1417 wurde auf dem Konzil in Konstanz Papst Martin V. gewählt, damit wurde das Dreipapsttum beendet. Der neue Papst musste sich verpflichten, alle zehn Jahre ein neues Konzil einzuberufen, das über religiöse Fragen entscheiden sollte. Das bedeutete deutliche Abschwächung der Macht des Papstes und deshalb hatte es Martin mit der Einberufung des Konzils nicht eilig. Er tat es nur knapp vor seinem Tod im Jahr 1431 und das Konzil begann in Basel zu tagen. Martins Nachfolger Eugen IV. hatte tausend gute Gründe, um diesem Konzil fernzubleiben. Den Vorwand zum Torpedieren der Tagung der Kirchenväter gab ihm die Bereitschaft des byzantinischen Kaisers Johann über die Einigung der katholischen und orthodoxen Kirche zu verhandeln. (Kaiser Johann stand das Wasser bis zum Hals, da vor den Mauern Konstantinopels bereits Türken standen). Niccolo d´Este bot dem Papst seine Stadt als Tagungsort des Alternativkonzils an, da dem Kaiser Johann nicht in Träumen eingefallen wäre, sich nach dem weit entfernten Basel zu plagen – nach Ferrara konnte er sich auf einem Schiff bringen lassen. Für den Papst war der Ort auch sehr passend. Offiziell empfing er Kaiser Johann in seinem Machtgebiet (aber doch nicht so richtig, was wieder dem Kaiser gefiel, da ein Hauch Neutralität gewahrt werden konnte). Die Kosten für den Aufenthalt des aufwändigen kaiserlichen Gastes trugen die Herren von Ferrara, namentlich Niccolo III. Das Konzil begann in Ferrara im Jahr 1437, im Januar 1439 wurde es dann nach Florenz verlegt. Cosimo der Ältere Medici bestach die Kirchenväter und die unter dem Vorwand, dass in Ferrara ein Pestausbruch drohen sollte, verlegten das Konzil nach Florenz. Niccolo war wahrscheinlich deswegen nicht besonders traurig, Kaiser Johann benahm sich wie eine echte „Diva“ – das Dach seines Hauses musste im Sommer mit Wasser begossen werden, damit er sich abkühlen konnte und das Konzil hatte sein Zweck bereits erfüllt – Ferrara und mit ihm Niccolo traten in die Geschichte und wurden sichtbar. Im Jahr 1452 schlug dann die Stunde der Familie d´Este. Seit 1450 war Borso d´Este an der Macht, der Sohn von Stella Tolomei, nicht weniger tüchtig als sein Vater. Auch seine Statue schmückt den Eingang von Palazzo Communale, Borso sitzt aber nicht im Sattel eines Pferdes, sondern auf einem Thron – im Gegensatz zu seinem Vater war er ein Fürst.

Im Jahr 1452 zog der Kaiser Friedrich III. durch Ferrara zu seiner Kaiserkrönung nach Rom. Der Kaiser sollte bei dieser Gelegenheit auch heiraten, und zwar eine der reichsten Bräute der damaligen Welt, die portugiesische Infantin Eleonore. Der Kaiser war sehr geizig und hatte tief in die Tasche gegriffen, also fürchtete er eine Schande. (Es kam letztendlich tatsächlich zu einer Schande, aber nicht Geldes wegen, sondern in Folge seiner fehlenden Bereitschaft, die Ehe vollzuziehen. Der damals schon über dreißig Jahre alte Herrscher war immer noch Jungfrau). Borso war bereit zu helfen. Er stattete den Kaiser mit einem Geldbetrag aus, der die Geldsorgen des Kaisers hinfällig machte, dieser beförderte ihn im Gegenzug zum Herzog, also in den Rang des Souveräns (dorthin gehören die Könige und Fürsten, ein Herzog ist einem Fürsten gleichgestellt).

            Es folgte mehr als hundert Jahre des Ruhmes von Ferrara, bis der letzte d´Este Alfonso II. starb – seine Ehe mit der Kaisertochter Barbara blieb kinderlos. Nach dem Tod Alfonsos erkannte der Papst sein Testament, in dem er sein Land seinem Neffen Cesare vererbte, nicht an und annektierte Ferrara für den Kirchenstaat. Dann wechselten sich Kardinäle als Verwalter ab, die nur an ihre eigene Bereicherung dachten und der Ruhm der Stadt ging rasch zu Ende.

            Besuchswert sind drei Paläste der Familie d´Este. Neben dem monumentalen „Castello Estense“ sind das noch der Palast Schifanoia und der Diamantenpalast (Palazzo dei Diamanti). Schifanoia bedeutet Langweile und zur Wehr gegen sie bauten d´Este am Rande der Stadt einen Palast mit einer damals bunt bemalten Fassade, die heutzutage langweilig weiß ist. Im Gebäude ist das „Museo civico“ und die Wände des größten Sales sind mit schönen Fresken bemalt.

Auf dem Weg zum Palast zahlt sich ein kurzer Stopp in der monumentalen Kirche Santa Maria in Vado aus. Nicht weit von hier gibt es einen weiteren großartigen Palast, den sich in Ferrara der Herzog von Mailand Ludovico il Moro bauen ließ. Er hatte offensichtlich sehr gute Beziehungen zu den d´Este, letztendlich war er der Onkel von der ersten Frau Herzogs Alfonso I. Anna. Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Alfonso die legendäre Lucrezia Borgia, Tochter des Skandalpapstes Alexander VI. Ihr wird Inzest, Giftmordanschläge und unmoralisches Leben nachgesagt. In Wirklichkeit gebar die unglückselige Lucrezia Alfonso einige Kinder und starb mit 39 Jahre im Kindbett. Heute gibt es im Palast Ludovicos il Moro das Archäologische Museum. Der „Palazzo dei Diamanti“ (seinen Namen bekam der Palast wegen seiner Fassade aus Marmor, der in die Form der Diamanten geschnitten wurde – Marmor ist in Ferrara rar, die absolute Mehrheit der Gebäude hat Fassaden aus Backsteinen) befindet sich am anderen Ende der Stadt.

Das hat einen Grund. Im Jahr 1492 entschied sich Ercole I. Ferrara zu vergrößern. Die Stadt verdoppelte sich, das neue Stadtviertel (eigentlich Hälfte) wurde nach den Plänen des Architekten Biaggio Rosseti gebaut. In Gegensatz zum alten Ferrara mit engen krümmen Gässchen wurden lange schnurgerade Boulevards angelegt, um die dann Paläste im Stil der Renaissance gebaut, sowie auch große Parkanlagen angelegt wurden (in den neuen Mauerring wurde auch der riesige Friedhof „Cimitero della Certosa“, eingeführt). In diesem Viertel kaufte sich auch der Hofdichter Ercoles Ludovico Ariosto ein Haus. Sein Haus kann man besuchen (zur Mittagszeit ist es geschlossen) in dem neuen Viertel findet man auch einen Ariostoplatz mit seiner Statue auf einer hohen antiken Säule, der Platz wurde nach dem Vorbild eines römischen Amphitheaters angelegt.

Später wirkte in Ferrara auch der berühmte Dichter Torquato Tasso (geboren in Sorent in Kampanien). Sein bewegtes Leben, gezeichnet durch seine seelische Krankheit, inspirierte auch Johann Wolfgang Goethe zu einem seiner Werke.

            Der Diamantenpalast war also die repräsentative Residenz der Familie d´Este. Heute gibt es hier die Pinakothek, die Säle veränderten sich aber nicht und so kann man den „Sala grande d´Onorio“ besuchen, den Kardinal Luigi d´Este bei der Gelegenheit der Ankunft seiner neuen Schwägerin Barbara von Habsburg umgestalten ließ. Hier, in dem rieseigen Sal, der zwei Stockwerke einnimmt, wurden Banketts und Festmahle organisiert, aber auch das konnte nichts an der Tatsache ändern, dass die Ehe von Alfonso und Barbara mit keinen Kindern beschenkt wurde. Also waren die Umbauten des Diamantenpalastes das letzte Echo des Ruhmes der Familie d´Este in Ferrara (weiter war die Familie nur in Modena tätig, das Papst dem Cesare bereit war zu überlassen.

            Wer viel Zeit hätte, könnte einen Spaziergang auf den für die Touristen zugänglichen Stadtmauern machen, bei den Temperaturen oberhalb von 35 Grads Celsius ist das aber keine gute Idee. Weil die Altstadt dank Ercole I. wirklich groß ist, wird empfohlen, sie mit einem Fahrrad zu erkunden. Fahrräder werden in allen Hotels in der Stadt zur Vermietung angeboten und in der Stadt gibt es markierte Fahrradwege. Bei relativ schwachem Autoverkehr in der Stadt ist das eine verlockende Möglichkeit – natürlich bei akzeptablen Temperaturen.

            Wem das noch immer zu wenig wäre, für den gibt es nicht weit von Ferrara die Abtei Santa Maria Pomposa.

Es handelt sich um eines der ältesten Benediktinerkloster, gegründet bereits im siebenten Jahrhundert. Hier haben die Mönche die Tonleiter erfunden und begannen die Musik mit Noten zu schreiben. (Offiziell wird diese Tat Guido von Arezzo zugeschrieben). Hier verbrachte auch der bereits totkranke Dante Alighieri seine letzte Nacht bei Rückkehr von Venedig nach Ravenna im September 1321. Es führt ein Weg durch die Poebene zwischen Feldern mit Mais, Getreide und Sonnenblumen hin, aus Fruchtbarkeit des Bodens Podeltas schöpften die d´Estes ihr Reichtum. Das war noch in der Zeit, als für Reichtum die Erträge der Felder und nicht die Industrieproduktion oder die Börsengeschäfte ausschlaggebend waren. Heute kann Ferrara von seiner ehemaligen Prosperität nur träumen.

            Es tut das aber sehr schön.


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