Die Obere Stadt protzt mit einigen monumentalen Gebäuden. Hier gibt es den höchsten Turm der Stadtbefestigung „Der lange Hermann“ an den der ehemalige Palast der russischen Zarin Katharina II. angelegt ist, in dem heute das estnische Parlament seinen Sitz hat. Der Gegenpol zum „Langen Hermann“ ist die „Dicke Margarethe“ in der unteren Stadt, soviel also zu den estnischen Vorstellungen, wie ein echter Mann und eine echte Frau aussehen sollten. Gleich gegenüber dem Parlament steht eine monumentale orthodoxe Kathedrale des Alexanders Newski.
Die Esten hielten diese Kirche immer für einen Beweis der Bemühungen des zaristischen und später kommunistischen Regime um die Russifizierung Estlands. Es war nämlich gerade der Fürst Alexander Newski, der die Expansion der deutschen Ritter, die damals die Herren von Reval waren, in Richtung Osten in der Schlacht auf dem zugefrorenen Peipussee im Jahr 1242 aufgehalten hat. Nach der Unabhängigkeitserklärung Estlands wurden Stimmen laut, die verlangt haben, die Kathedrale abzureißen, letztendlich hat aber doch der Hausverstand gesiegt und das großartige Gebäude durfte stehen bleiben. Es ist jetzt der Zufluchtsort der in Tallinn lebenden Russen (sie machen in der Stadt 44% der Bevölkerung aus), die viel religiöser als die protestantischen Esten sind. In Estland lebenden Russen wurde lange Zeit nach der Unabhängigkeit die estnische Bürgerschaft verwehrt, nur vor dem Eintritt in die Europäische Union wurde Estland gezwungen, der russischen Minderheit die Bürgerschaft zu verleihen. Die Folge dieser Entscheidung ist, dass ein Russe, der die estnische Bürgerschaft angenommen hat, jetzt vor der russischen Botschaft lange Schlangen stehen muss, um ein Visum nach Russland zu bekommen. Ein Russe, der die Bürgerschaft abgelehnt hat, setzt sich nur einfach ins Auto und überquert irgendwo bei Narva die Staatsgrenze, ohne dabei Probleme zu haben. Bei der Einreise in die EU ist das umgekehrt.
Die evangelische Kathedrale von Tallinn – der Dom – ist überraschenderweise nicht die größte Kirche in der Stadt, die Kirche des heilige Olafs sowie auch die Kirche des heiligen Nikolaus (beide stehen allerdings in der unteren Altstadt, wo es auch Geld gab) überragen den Dom wesentlich.
Unter dem Boden des Doms sollte nach einer Legende der legendäre Urvater des finnisch-estnischen Volkes Kalev begraben sein. Die Finnen und die Esten haben einen gemeinsamen Urvater, offensichtlich hatte er aber Angst vor dem Meer und so blieb er auf dem südlichen Ufer des Finnischen Meerbusen – in Tallinn, das es damals noch nicht gab. Heute trägt seinen Namen, also Kalev, die bereits erwähnte berühmteste Konditorei in der Stadt. Unter dem Dom soll auch Heinrich Matthias Thurn begraben sein, der Anführer der tschechischen Stände im Aufstand gegen den Kaiser Ferdinand II. Er führte die Rebellen bei dem berühmten Prager Fenstersturz am 23.Mai 1618 und gab damit den Anlass zum Beginn einer der größten Tragödien in Europa – zum Dreißigjährigen Krieg. Er starb weit von seiner Heimat (Er zählte zu den Tschechen, obwohl er als gebürtiger Tiroler angeblich tschechisch nur fluchen konnte) im Jahr 1641 im Exil in Tallinn.
In der oberen Stadt gibt es mehrere Aussichtsterrassen mit faszinierenden Blicken auf die Altstadt, den Hafen und das Meer sowie auch auf die modernen Bauten im „Rotenman Kvartal“.
Sonst herrscht hier aber abendsTotenstille. Als wir uns hier abends für ein Glas Wein setzen wollten und die Blicke auf den Sonnenuntergang über dem Meer genießen wollten, fanden wir hier kein einziges offenes Lokal und so verstanden wir, warum die obere Stadt abends wie ausgestorben ist. Man lebt in der unteren Stadt und man lebt hier teuer.
Die untere Altstadt schaut wie ein Freilichtmuseum aus. Die neu reparierte mittelalterliche Stadtmauern strahlen durch rote Dächer ihrer Türme, um die alten krummen Gassen stehen Häuser der Hansakaufleute, von denen, gleich wie in Amsterdam, unter dem Hausgiebel Balken mit Rollen aus der Fassade ragen. Die Kaufleute lebten im Erdgeschoß, die Warenlager waren aber am Dachboden, deshalb die Haken, um die Ware in das Lager transportieren zu können. Überall gibt es dann Restaurants, Bars, Kaffeehäuser und weitere Touristenfallen, die von Studenten in mittelalterlichen Kostümen überwacht werden, die die Passanten, die nur für eine einzige Sekunde vor dem Eingang stehen bleiben, um in die Speisekarte einen Blick zu werfen, erbarmungslos hinein treiben. Wir flüchteten vor ihnen in Panik bis in den oberen Teil der Stadtbefestigung oberhalb der Kirche des heiligen Nikolaus.
Im Turm Neitsitorn ist ein Restaurant mit einem Blick auf die Altstadt. Das Problem bestand in der Tatsache, dass man hier Eintritt zahlen musste. Drei Euro für den Eintritt in ein Restaurant habe ich noch nirgends zahlen müssen und ich war dementsprechend überrascht. Es wurde mir erklärt, dass es sich um ein Museum handelte. Also zahlte ich, obwohl ich das Museum danach nicht gefunden habe, lediglich ein Restaurant und ein Kaffeehaus auf drei Ebenen. Wenn wir aber schon einmal dort waren, entschieden wir uns dort mittags zu essen und den zauberhaften Blick auf die Altstadt dabei zu genießen. Zu unserer lieben Überraschung wurden uns dann die drei Euro pro Person von der Rechnung abgezogen. Eigentlich eine gescheite Maßnahme, damit die Leute im Restaurant nicht umsonst bummeln, nur um auf die Stadt unter ihnen Füßen zu glotzen.
Das älteste Kaffeehaus in der Stadt heißt Maiasmokk, ist aber abends nach neun Uhr geschlossen! Besuchswert ist das Gebäude der „Großen Gilde“, wo sich ein Museum der estnischen Geschichte befindet und wo der Eintritt zufällig kostenlos war. Die Gilden waren Gesellschaften ähnlich den Zünften, aber doch anders. In der Großen Gilde waren die Kaufleute, also die reichsten Bürger, die auch den größten Einfluss auf das Geschehen in der Stadt hatten. In der „Kleinen Gilde“ waren dann die Handwerker unterschiedlicher Fachrichtungen versammelt, diese gab es hier aber eher für die Arbeit als fürs Reichwerden – wer ist schon einmal durch eine Arbeit reich geworden? Und ihr Einfluss in der Stadt war dementsprechend bescheidener. Zu einem Museum wurde auch die älteste Apotheke auf dem Rathausplatz aus dem Jahr 1433, in dem Souvenirgeschäft wird versucht, die Touristen zu überzeugen, dass der Liquor „Vanna Tallinn“ ein Medikament sei. Die menschliche Fähigkeit Alkohol so gut wie aus allem machen zu können, habe ich im Freilichtmuseum in Tallinn in dem Stadtviertel „Rocca al Mare“ kennenlernen können.
Der estnische Wein „Lossi“ wird nämlich aus Heidelbeeren produziert. Die erreichen hier im Norden dank der Feuchtigkeit und langer Sommertagen eine außergewöhnliche Größe, der Wein aber (ich bin ein neugieriger Mensch und so habe ich diese örtliche Spezialität gekostet) kann man nur mit einer äußersten Überwindung und unter dem Schutz der magensäurehemmenden Medikamente trinken. Sonst würde das Getränk in meinen nicht mehr ganz jungen Magen wahrscheinlich ein Loch durchbrennen.
Vor dem Stadttor Viru befindet sich ein Blumenmarkt, einer der wunderschönsten, die ich in meinem Leben sah.
Der Blumenmarkt in Amsterdam war zwar größer, aber die Blumen auf dem Markt von Tallinn waren einfach schöner (obwohl sie großteils aus den Niederlanden importiert waren) Die Esten lieben Blumen. Zu einem Besuch in Estland zu gehen, ohne einen Strauß mitzubringen, ist einfach undenkbar und der Geliebten oder sogar der Gattin einen Mercedes ohne einen Strauß Blumen zu schenken ist ein absolutes „faux paix“ und ein Grund zur Trennung. Wahrscheinlich aus diesem Grund ist der Blumenmarkt auch noch lange nach Mitteernacht offen. Was wäre, wenn der Mercedesspender den Strauß vergessen hätte und ihn ganz dringend bräuchte?
Tallinn hat einfach sein Zauber, obwohl man Glück beim Wetter haben muss. Die Sonne geht zwar im Sommer sehr spät unter, strahlt aber meistens gedämpft durch Wolken. Menschen in Estland hatten eindeutig mehr Angst vor Wasser als vor Feuer. Ich habe sonst nirgends gesehen, dass die Bauern Getreide in den Wohnräumen trocken würden, wo man auf offenem Feuer kocht. Der Dachboden wurde nur durch Balken von dem Wohnraum getrennt und zwischen die Balken wurde die Ernte gesteckt. Im Falle des Brandes konnte sich der Mensch offensichtlich immer darauf verlassen, dass ein Regen kommt, der dem Malheur ein Ende macht. Die körperliche Hygiene wurde gleich wie in Finnland in der Sauna gemacht. Das Wasser, das vom Himmel fiel, war doch ein bisschen zu kalt.
Das estnische Volk ist aber gegen Kälte abhärtet. Das haben wir in dem Badeort Parnü gesehen.
Obwohl das Meereswasser lediglich 13 (in Worten DREIZEHN!!!) Grad hatte, badeten im Meer sogar die Kinder! Also – eines von den Kindern hatte einen Neoprenanzug angehabt und es handelte sich in diesem Fall offensichtlich um einen Ausflug Väter mit Kindern ohne Mütter. Trotzdem lief mir bei diesem Anblick die Kälte über den Rücken. Wir haben im Meer nur unsere große Zehe gebadet. Das hat gereicht. Es musste reichen! Estland ist nicht wirklich ein Land für einen sommerlichen Badeurlaub. Es hat andere Reize.
Weil aber in der oberen Stadt die Totenruhe herrschte, die untere Stadt unchristlich teuer war und nach zehn Uhr wurde uns verweigert armenischen Cognac zu verkaufen, der mit seinen fünf Sternen sehr verlockend aussah, badeten wir nicht einmal im Meer und verließen Estland in Richtung Süden nach Lettland.