Vielleicht ist daran mein Akzent schuld. Angeblich habe ich einen typischen tschechischen Akzent, egal ob in Englisch oder in Russisch (In Deutsch habe ich ihn übrigens trotz aller Bemühungen auch nicht abbauen können). Aber wenn ich in einer Bar in Riga auf Englisch bestellt habe, habe ich den richtigen Wein nur bekommen, wenn ich meinen Wunsch dem Kellner auf Russisch erklärte. Beim Einkaufen musste ich in Riga im Gegenteil schnell von Russisch zu Englisch wechseln, um zu bekommen, was ich kaufen wollte. Also weiß ich wirklich nicht, wo der Fehler lag. Während meines ganzen Aufenthaltes in Riga verfolgte mich die Unsicherheit, mit welcher Sprache ich den Verkäufer (Kellner oder die Frau an der Kassa) ansprechen sollte. Die Erklärung liegt nicht darin, dass die Letten die Russen so lieben würden, sondern darin, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung der lettischen Hauptstadt Russen sind.

            Die alte Generation reagiert noch ähnlich wie die Flamen in Brüssel – wenn die Menschen das Gefühl haben, dass der Angesprochene nicht lettisch kann, gehen sie automatisch zu Russisch über (gleich wie der Flame von Brüssel zu Französisch). Junge Letten beherrschen aber Russisch nicht mehr, sie lernen fleißig Englisch, da sie ohnehin vorhaben nach Schulschluss nach Großbritannien, Irland oder in die USA auszuwandern. Zwischen den Jahren 2008 – 2014, also nach der Wirtschaftskrise schrumpfte die Bevölkerung Lettlands von 2,4 Millionen auf 1,9 Millionen. Kein Wunder, die lettische Regierung reduzierte die Gehälter der Staatsangestellten sowie auch die – ohnehin schon bescheidenen – Pensionen um 20%, schaffte aber keinen einzigen der 100 Angeordneten oder 22 Ministerien (für knappe 2 Millionen Bewohner!) ab.

            In dem Sprachchaos wurde überhaupt vergessen, dass man in Riga ganze Jahrhunderte Deutsch sprach – es war doch eine Hansastadt, sie wurde von Bischof Albert von Bremen gegründet und jahrhundertelang vom Deutschen Ritterorden regiert. Der Bischof von Riga zählte immer zu Bischöfen der deutschen Nation und auf dem Konzil von Konstanz spielte er als ein Mitglied der deutschen Nation, Berater und enger Verbündete Kaisers Sigismunds eine wichtige Rolle. An Riga hatte immer irgendjemand ernstes Interesse, was für die Stadt nicht immer von Vorteil war. Ein langer Machtkampf zwischen dem Bischof von Riga und dem Deutschen Ritterorden wurde anscheinend durch einen Schiedsspruch des neuen deutschen Königs Rudolf von Habsburg, der dringend Verbündete für seinen Kampf mit dem tschechischen König Premysl Ottokar suchte, im Jahr 1274 zur Gunst des Ordens entschieden. Die empörten Bürger von Riga stürmten demzufolge die Burg des Ordens, der Komtur wurde mit seinen Rittern gefangengenommen und anschließend alle gemeinsam hingerichtet. Der Krieg mit der unbeugsamen Stadt dauerte bis 1330, erst in diesem Jahr gelang es den Rittern den Widerstand der Stadt zu brechen. Im Jahr 1484 unternahmen die Bürger der Stadt den nächsten Versuch, eine Unabhängigkeit zu erlangen. Den Erzbischof, der zugleich auch Mitglied des Ordens war, vertrieben sie nach der Burg Césis und es dauerte weitere sieben Jahre, bis der Orden die Bürger im Jahr 1491zu Gehorsam zwang. Im Jahr 1558 drangen in Livonia das erste Mal Russen des Zaren Ivan des Schrecklichens ein, sie verwüsteten das Land, konnten aber Riga nicht einnehmen. Riga nutzte die Kämpfe in der Region zur Unabhängigkeitserklärung und trieb in der Zeit des Livonischen Krieges seine eigene Politik. Im Jahr 1581 beschlossen aber die Bürger von Riga, dass ein Schutz eines weitentfernten Königs nicht schaden konnte. Ein Geschäft ist übrigens immer ein Geschäft und so unterwarfen sie sich dem polnischen König Stephan Bathory. Im Jahr 1605 schafften es die polnischen Soldaten, die schwedische Invasion von den Mauern der Stadt abzuwehren, im Jahr 1621 musste aber die Stadt vor dem „Löwen des Nordens“, dem schwedischen König Karl Gustaf, kapitulieren. Die schwedische Herrschaft war für die Stadt ein Segen, sie erlebte  goldene Zeiten. Die dauerten aber nicht ewig. Im Jahr 1709 standen wieder einmal die Russen vor der Mauer der Stadt. Die Stadt leistete ganze acht Monate Widerstand und verlor – ich hoffe noch immer, dass diese Angabe im historischen Stadtmuseum ein Schreibfehler war – 94% ihrer Bevölkerung. Sollte es aber kein Schreibfehler gewesen sein, ging im Jahr 1710 eine entvölkerte und verwüstete Stadt in russische Hände über. Der Besitz der Stadt wurde den Russen in dem Friedensvertrag von Nystad im Jahr 1721 bestätigt und Riga blieb bis zum Jahr 1918 russisch.

            Möglicherweise gerade wegen seiner bewegten Geschichte traf ich in Riga die beste Verkäuferin der Welt. Natürlich punktete sie schon damit, dass sie jung und hübsch, lächelnd und positive Energie ausstrahlend war. Sie sprach fließend Deutsch, Russisch, Englisch, natürlich auch Lettisch, slowakische Kunden konnte sie auf Slowakisch zumindest begrüßen und sich bei ihnen für ihren Einkauf auf Slowakisch bedanken. Als ich ein bisschen zaghaft fragte, ob sie auch Briefmarken für die Postkarten hätte (normalerweise werden die Briefmarken in Souvenirgeschäften nicht angeboten, was immer meine Bemühung, meinen Eltern Postkarten zu schicken, zu einer komplizierten Mission mutieren ließ) sagte sie, dass es selbstverständlich wäre, und sie legte mir sofort einige auf die Bank. Sie bot mir sofort auch einen Kugelschreiber an und sagte, dass ich mir mit dem Abschicken keine Sorgen machen müsste. Wenn sie von der Arbeit nach Hause gehen wird, geht sie an der Post vorbei und wird sie ins Postkästchen einwerfen. Ich schaute sie wie eine Erscheinung an. So etwas muss man in dem fernen Norden suchen! Die Postkarte kam bei meinen Eltern tatsächlich an.

            Riga wird auch „Paris des Nordens“ genannt. In meinen Augen ein bisschen übertriebener Vergleich für die lettische Metropole am Ufer des riesigen Flusses Daugava. Nördliche Ströme haben unvorstellbare Ausmaße, ein Mitteleuropäer, der an Elbe, Donau oder Moldau gewöhnt ist, schaut verzückt auf Neva oder Daugava.

Riga gewann den Ruf einer pulsierenden Stadt. Von dem Puls war ich ein bisschen enttäuscht. Um die Gefäße zum Pulsieren zu bringen, muss in ihnen Blut strömen. Das Blut in den Straßen einer Metropole ist das Geld. Und an dem mangelt es den Letten verzweifelt. Bei einem durchschnitten Einkommen 750 Euro (Stand 2015) und bei den Lebensmittelkosten, die mit den österreichischen vergleichbar sind (die Miete ist zwar billiger, aber auch nicht wirklich billig) darf man sich darüber nicht wundern. Die Touristen allein können die Stadt nicht retten (und in der Zeit von Corona schon überhaupt nicht). Besonders für die durstigen Finnen ist Tallin doch näher und sprachmäßig mehr verwandt. Trotzdem ist Riga, diese alte Hansastadt, sehr schön und besuchswert. Übrigens am späten Sommerabend, der nur um wenig dunkler als in Tallin ist, wird hier überall gefeiert. Wir sahen Lokale, wo Letten spontan ihre Nationaltanze getanzt haben (physisch ziemlich anstrengend) aber auch Bars auf dem Platz unter dem freien Himmel, wo man Chansons oder Jazz hören konnte. Eine junge Dame hat Saxofon gespielt. Es wird behauptet, dass das Spiel auf dem Saxofon jeden Mann sexy machen kann (auch der ehemalige Präsident der USA Clinton liebte das Spiel auf dem Saxofon, vielleicht hatte er deshalb auch seine Probleme), aber auch eine junge Dame, die in der Dämmerung Saxofon spielt, hat etwas an sich. Was mich aber meistens schockierte, waren die Kajaks, beleuchtet mit kleinen Lichtern, deren Besatzungen um ein Uhr nach Mitternacht auf der nächtlichen Daugava paddelten. Ich hoffe, dass die Kajakfahrer zumindest Rettungswesten anhatten. Sollten sie nämlich in dem Strom kentern und aus dem Kajak rausfallen, würden sie die Rettungsmannschaften irgendwo im Baltischen Meer herausfischen.

            Riga hat natürlich seine Altstadt mit einigen Kirchen, besonders der Dom, gegründet noch vom Bischof Albert im Jahr 1201 und die Kirche des Heiligen Petrus, sind imposant.

Imposant ist aber auch das Eintrittsgeld, das dort verlangt wird und das bereits damals zwischen 3,50 und 7 Euro betrug. Und das in protestantischen Kirchen, wo der Bildsturm im sechzehnten Jahrhundert die Kirchen ihrer Innenausstattung beraubte. Es zahlt sich aus am Mittag in den Dom zu gehen, wenn es dort ein Konzert gibt – der Eintritt kostet sowie so sieben Euro, aber es gibt dort dann für das Geld zumindest ein schönes Erlebnis. Die Musik ist in Riga so gut wie überall. Ob es sich um die Musiker in den Nachtbars handelt, aber es gibt Musik auch überall auf den Straßen. Es sind keine Bettler mit Ziehharmonika, sondern zum Beispiel drei hübsche junge Mädchen mit Blumenkränzen auf den Häuptern, die direkt vor den Häusern der Schwarzköpfe auf dem Rathausplatz spielten. Genauer gesagt, die Kränze hatten zwei von den drei Musikerinnen auf, es waren wahrscheinlich die, die in der stürmischen St Johannesnacht am 23. Juni ihre Jungfräulichkeit verloren hatten. Warum nur zwei von drei, weiß ich nicht, hübsch waren alle drei.

            Die Schwarzkopfhäuser sind unglaublich schön.

Sie wurden im Jahr 1334 von der Gilde der unverheirateten Kaufleute gebaut. Weil die jungen und reichen Männer niemanden zu Hause hatten, der ihre Geldbeutel kontrolliert hätte, konnten sie es sich leisten. Aus diesem Grund musste jedes Mitglied nach seiner Hochzeit die Gilde verlassen. Die wunderschönen Häuser erinnern an das Rathaus in Bremen (übrigens steht vor ihnen, gleich wie in Bremen vor dem Rathaus, eine Statue von Roland, des Beschützers der Stadt), sie wurden in dem zweiten Weltkrieg zerstört und das sowjetische Regime hatte kein Interesse, sie zu erneuern. Deshalb begannen die Letten mit der Rekonstruktion gleich nach der Unabhängigkeitserklärung und sie vollendeten den Wiederaufbau dieser architektonischen Juwelen im Jahr 1999. Gleich nebenan steht aber eine furchtbare Erinnerung an die Jahrzehnte der sowjetischen Herrschaft. Ein schreckliches „modernes“ Gebäude in schwarz, das von den Bürgern von Riga „Schwarzer Sarg“ genannt wird – nach dem Jahr 1991 wurde hier kreativ ein „Museum der Okkupation“ einquartiert. Wie ich schon schrieb, die Balten machen zwischen der nazistischen und kommunistischen Okkupation keinen Unterschied, beide werden in den gleichen Sack geworfen. 

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