Lissabon
Die Tragödie ereignete sich am 1. November 1755 um 9:50 Uhr Ortszeit. Zuerst gab es ein sehr starkes Erdbeben, infolgedessen Gebäude einstürzten und metertiefe Risse im Boden entstanden. Da es ein Allerheiligen-Feiertag war, brannten sowohl in den Kirchen als auch in den Haushalten Kerzen. Diese wurden zur Ursache zahlreicher Brände, die sich rasch über die ganze Stadt ausbreiteten, die damals mit 250.000 Einwohnern die viertgrößte Stadt Europas war. Den Menschen, die sich durch die Flucht aus den einstürzenden Gebäuden retten konnten, bot sich ein Anblick, mit dem sie sicher nicht gerechnet hatten. Lissabon liegt am Fluss Tejo, der vor der Stadt eine große Lagune bildet, die als Hafen genutzt wird. Jetzt war das Wasser weg, ins Meer zurückgesogen, und den fassungslosen Bewohnern bot sich der Anblick des trockenen Lagunengrundes, auf dem die Trümmer von Schiffen lagen, die dort manchmal bereits vor Jahrzehnten gesunken waren. Bevor die Menschen dieses Phänomen verstehen konnten, kam eine zwanzig Meter hohe Tsunami-Welle auf sie zu. Der Fluss verengt sich nämlich, nachdem er die Lagune vor der Stadt verlässt, wieder zwischen den Hügeln, und durch dieses Bett fließt das Wasser dann in den Atlantischen Ozean. Die zerstörerische Welle, die vom Meer kam, nahm in der engen Flussmündung nicht nur an Höhe, sondern auch an Geschwindigkeit zu. Als sie in die Stadt einbrach, löschte sie zwar die meisten Brände, riss aber dafür Gebäude, die noch standen, die Trümmer der bereits eingestürzten und vor allem Menschenleben mit sich. Schätzungen zufolge starben damals 30.000 bis 100.000 Einwohner der Stadt. Die größte Naturkatastrophe in der Geschichte Europas spülte nicht nur die Altstadt von Lissabon hinweg, sondern auch den Königspalast, der am Ufer des Flusses auf dem heutigen „Praca de Comercio“ stand, mit einer wunderbaren Bibliothek von 70.000 Bänden und der königlichen Kunstsammlung mit Gemälden von Tizian, Rubens und Correggio. Auch Zeichnungen von Vasco da Gama von seinen Entdeckungsreisen gingen verloren. Jener Palast war einst von König Manuel I. erbaut worden, dank der Entdeckung des Seewegs nach Indien und des Gewürzhandels dem reichsten der portugiesischen Könige, dem die Festung São Jorge über der Stadt zu wenig komfortabel war. Den Luxus seines Anwesens kennen wir allerdings nur aus Beschreibungen, nach dem 1. November 1755 blieb davon nichts übrig.
Am selben Tag erlitt die weit entfernte Kaiserin Maria Theresia in Wien Geburtswehen und brachte am folgenden Tag ihre jüngste Tochter Marie Antoinette zur Welt. Die Tatsache, dass das Mädchen an einem so schrecklichen Katastrophentag geboren wurde, wurde als schlechtes Omen für ihr Leben angesehen, was sich letztlich bestätigte. Sie endete am 16. Oktober 1793 unter der Guillotine.
Die portugiesische Königsfamilie von König Joseph I. überlebte wie durch ein Wunder die Zerstörung ihres Palastes. Eine der Königstöchter wollte den Feiertag nämlich mit einem Ausflug verbringen, und da Väter ihren Töchtern nichts abschlagen können, machte sich der König mit der ganzen Familie auf nach Santa Maria de Belém, etwa sechs Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Dieser Teil des Festlandes wurde durch das Erdbeben in die Höhe gehoben und somit geschützt, und die Tsunami-Welle erhob sich erst hinter Belém, in der Flussmündung. Trotzdem hinterließ dieses Erlebnis beim König ein dauerhaftes psychisches Trauma. Bis zu seinem Lebensende, also zweiundzwanzig Jahre lang, weigerte er sich, in gemauerten Gebäuden zu wohnen, und ließ sich ein Zeltlager außerhalb von Lissabon errichten, von dem aus er sein Reich regierte.
Nur das Bordellviertel Alfama und der obere Teil der Stadt um die Festung São Jorge blieben von der Zerstörung verschont. Alfama ist also der einzige Teil von Lissabon, in dem man noch die verwinkelten mittelalterlichen Gassen sehen kann. Man kann sie mit der legendären Straßenbahnlinie Nummer zwölf oder achtundzwanzig durchfahren – dies gehört zum Pflichtprogramm bei einem Besuch der portugiesischen Hauptstadt.
Hier entstand auch der Fado, die typische melancholische Musik Lissabons, die auf der Gitarre gespielt wird und die ein Besucher von Lissabon unbedingt erleben sollte, wenn er seinen Besuch zählen lassen will. In den Bars, in denen abends gespielt wird, wird jedoch Eintritt verlangt.
Der Rest von Lissabon hat also seine Geburtsurkunde im November 1755 ausgestellt bekommen. Die Wiederherstellung der Stadt wurde vom damaligen Premierminister Sebastião de Melo, dem späteren Marquês de Pombal, einem Vertreter der Aufklärung, sehr energisch in Angriff genommen. Vom ersten Moment an leitete er die Rettungsarbeiten unter dem Motto: „Die Toten begraben und die Überlebenden ernähren.“ Die Leichen wurden auf Schiffe verladen und ins Meer geworfen, weil es undenkbar war, rechtzeitig eine ausreichende Anzahl von Gräbern auszuheben. Der Marquês wurde von den Jesuiten heftig kritisiert, denen seine aufklärerischen Reformen ohnehin ein Dorn im Auge waren und die das Erdbeben als Gottesstrafe für den Abfall von Gott verkündeten. (Das Gegenargument könnte sein, dass, obwohl die Kathedrale „Sé“ und die nahe gelegene Kirche des Heiligen Antonius – beide im alten Stadtviertel Alfama, das noch aus der maurischen Vergangenheit der Stadt stammte – dem Erdbeben zum Opfer fielen, die Häuser in den umliegenden Gassen, in denen sich die Bordelle drängten, die Katastrophe ohne größere Schäden überstanden – da die Mädchen in den Bordellen offensichtlich keine Kerzen für Allerheiligenfest anzündeten. Diesen Kampf mit den Jesuiten gewann der Marquês übrigens im Jahr 1759, als der Jesuitenorden weltweit verboten und aufgelöst wurde.
Innerhalb nur eines Jahres gelang es, alle Trümmer zu beseitigen und Gebäude mit beschädigter Statik abzureißen. Mit der Wiederherstellung der Stadt wurden die Architekten Eugénio dos Santos und Carlos Mardel beauftragt. Pombal nutzte die Tatsache, dass die neue Stadt sozusagen auf der „grünen Wiese“ gegründet werden konnte, und ließ eine moderne Stadt mit schachbrettartig kreuzenden Straßen und Boulevards errichten. Als man ihn fragte, wofür die so breiten Straßen gut seien, antwortete er angeblich, dass „sie den Menschen eines Tages eng erscheinen würden.“ Fürs Erste reichen sie jedoch. Wenn am 13. Juni zum Fest des Heiligen Antonius die Sambaparade über den Boulevard „Avenida da Liberdade“ zieht, ist die Straße immer noch breit genug, um auf beiden Seiten Tribünen zu errichten, auf denen neugierige Touristen (die dort schon seit dem Morgen Plätze besetzen) sitzen, um die Sambatanzgruppen der einzelnen Stadtviertel von Lissabon in ihren Trachten zu beobachten und fotografieren. Samba hat also nicht ihren Ursprung in Brasilien, sondern in Portugal, sie ist zwar genauso energisch und rhythmisch wie in Rio de Janeiro, aber wesentlich mehr bekleidet.
An der Stelle des ehemaligen Königspalastes entstand der schönste Platz Lissabons, die „Praça do Comércio“.
Als Erinnerung an den klaustrophobischen König Joseph I., dank dessen psychischer Störung dieser Platz anstelle des Königspalastes entstehen konnte, erhebt sich in der Mitte des Platzes seine Reiterstatue. Im Jahr 1908 wurden hier König Karl und sein ältester Sohn Infant Ludwig Philipp von Attentätern erschossen, was zwei Jahre später zum Ende der Monarchie und zur Entstehung der portugiesischen Republik führte. Der Platz hat die Form eines Buchstabes „U“, das sich zum Fluss hin öffnet – von dem ehemaligen Königspalast sind nur die Treppen geblieben, die zum Wasser führen. Zur Stadt hin öffnet sich der Platz durch das monumentale Tor „Arco da Rua Augusta“, das jedoch wesentlich jünger ist und erst aus dem 19. Jahrhundert stammt. Der Platz wird hauptsächlich von Restaurants gesäumt, die auf hungrige und durstige Touristen lauern. Pombal verdiente sich für seine Verdienste eine majestätische Statue auf dem Platz, der seinen Namen trägt, obwohl er bis zum 20. Jahrhundert darauf warten musste – der Autor Leopoldo de Almeida schuf auch das Denkmal der Entdecker in Belém, zu dem wir noch kommen werden.
Und das untere Stadtviertel wird „Baixa Pombalina“ genannt, sodass die Verdienste des Marquês nicht vergessen wurden. Obwohl ihn die Tochter und Nachfolgerin von König Joseph I., Maria I., die von Priestern erzogen wurde und die aufklärerischen Reformen Pombals ebenso wie ihren Urheber aus tiefstem Herzen hasste, im Jahr 1777 sofort nach dem Tod ihres Vaters seines Amtes enthob und ihn in den Hausarrest auf seinen Gütern in der Stadt Pombal schickte. Man muss aber zugeben, dass der fleißige Marquês im Alter von 78 Jahren auf diese Art wohlverdient in die Rente gehen durfte.
Wenn man also das alte Lissabon sehen will – was ich als Historiker natürlich wollte – muss man ins Viertel Alfama. Während meines ersten Besuches Ende der 1990er Jahre war noch ein großer Teil der Häuser in einem erbärmlichen Zustand und unbewohnbar, heute ist das ganze Viertel renoviert, und von oben leuchten die neuen roten Dächer, die Fassaden der Häuser sind mit zahlreichen Azulejos in verschiedenen Farben und mit unterschiedlichsten Motiven verziert. Der schönste Blick auf das Viertel und den Fluss Tejo bietet sich vom „Miradouro de Santa Luzia“. Auf den Azulejos dieses Aussichtspunktes ist die Eroberung Lissabons von den Mauren im Jahr 1147 dargestellt. Der Horizont wird von der riesigen Kuppel der Kirche Santa Engrácia dominiert. Diese barocke Kirche soll angeblich 284 Jahre lang gebaut worden sein und wurde sprichwörtlich. Wenn ein Portugiese von „Arbeit wie an Santa Engrácia“ spricht, meint er damit, dass diese Arbeit niemals fertig wird.
Hoch zur Festung „Castel de São Jorge“, also zur Festung des Heiligen Georg, die lange als Sitz der portugiesischen Könige diente, bevor sie in den neuen luxuriösen Palast am Flussufer zogen, kann man entweder um die Kathedrale Sé herumsteigen oder mit der Straßenbahn Nummer 12 oder 28 fahren. Diese uralten Straßenbahnen haben ihren eigenen Charme und wecken immer wieder den Zweifel, ob sie die Bergfahrt schaffen oder nicht. Sie schaffen es! Für Fußgänger ist es aber ein ziemlich steiler Aufstieg. Lissabon soll – wie unzählige andere Städte – ebenso wie Rom auf sieben Hügeln erbaut sein. Meiner bescheidenen Meinung nach gibt es in Lissabon viel mehr Hügel als sieben, aber ich will nicht streiten.
Die Festung São Jorge wurde 1147 von Afonso Henriques von den Mauren erobert. Ein Tor der Festung trägt den Namen des Ritters Martim Moniz, der es schaffte, es zu durchbrechen und bis zum Eintreffen der Hauptstreitkräfte des Königs zu halten. Die Festung selbst wurde von den Königen verlassen, als Manuel I. den Palast unten in der Stadt am Flussufer errichtete. 1755 wurde sie durch das Erdbeben beschädigt und erst 1938 von António Salazar restauriert. Sie bietet einen großartigen Blick auf die Stadt darunter, aber die 15 Euro Eintritt für dieses Erlebnis schienen mir etwas übertrieben.
Viel mehr als diese wunderschöne Ausblicke gibt es hier nämlich nicht. In der Mitte des zum Park umgestalteten Innenhofs steht die Statue des Eroberers Afonso Henriques und die Hauptattraktion sind die Mauern mit Türmen, die man umrunden kann, um die Stadt Lissabon von oben zu betrachten und zu fotografieren. Einer der Türme ist nach Odysseus benannt, weil sich die Lissabonner die Legende nicht nehmen lassen, dass Lissabon von Odysseus während seiner zehnjährigen Irrfahrt auf dem Heimweg von Troja gegründet wurde.
Auf dem Weg zur Festung kommt man an der Kathedrale Sé vorbei.
Es ist – wie überall in Portugal – ein romanisches Gebäude, das einer Festung ähnelt. Allerdings wieder einmal auf einer Ebene, also ohne Krypta, gebaut. Innen ist es eine Mischung von verschiedenen Baustilen, weil die Kathedrale beim Erdbeben von 1755 stark beschädigt wurde. Schon in der Kathedrale wird einem klar, wie wichtig der berühmteste Heilige Portugals, der Heilige Antonius von Padua, ist. In Padua hat er zwar gewirkt und ist dort gestorben, aber geboren wurde er in Lissabon, angeblich in einem Haus nur ein Stück unterhalb der Kathedrale. An der Stelle seines Geburtshauses, das beim Erdbeben einstürzte, steht heute eine ihm geweihte Kirche. In der Kathedrale befindet sich links vom Eingang eine Franziskanerkapelle mit dem Taufbecken, in dem er angeblich 1195 getauft wurde. Azulejos zeigen hier seine berühmte Predigt an die Fische. Die Kathedrale ist dem Heiligen Vinzenz geweiht, dessen sterbliche Überreste 1173 von Cabo de São Vicente nach Lissabon überführt wurden. Das Schiff, das seine Überreste nach Lissabon brachte, wurde von zwei Raben bewacht; ein Schiff mit zwei Raben wurde somit zum Symbol von Lissabon. Übrigens ist es derselbe Heilige Vinzenz, der auch der Schutzpatron von Valencia ist, wo er gewirkt und 304 den Märtyrertod erlitten hat. Schon damals sollen seine sterblichen Überreste von Raben vor Geiern bewacht worden sein, damit diese sie nicht zerfetzen und er würdevoll bestattet werden konnte. Bis seine Gebeine von Mauren zerstreut und später von den Christen wieder eingesammelt wurden. Da sowohl Lissabon als auch Valencia Anspruch auf den Heiligen Vinzenz erheben, wird eine seiner Hände in der Kapelle der Auferstehung in der Kathedrale Seu in Valencia aufbewahrt.