Im Jahr 1071 verloren die Byzantiner die Schlacht bei Manzikert gegen die Seldschuken-Türken, was den unaufhaltsamen Niedergang ihres Reiches einleitete. Kaum eine andere Schlacht hatte solche weitreichenden Folgen. Die Schutzmauer der europäischen griechisch-römischer Kultur und damit auch Christentums ist damit gefallen. Die Byzantiner mussten ganz Anatolien räumen und konnten es nie wieder zurückerobern. Das Reich beschränkte sich auf die Küstengebiete und die Ägäis Inseln. Die Expansion der Türken führte zu Kreuzzügen, von denen der vierte im Jahr 1204 sich gegen die Griechen wandte. Die Kreuzfahrer eroberten Konstantinopel und gründeten dort das Lateinische Kaiserreich.

Eroberung Konstantinopels durch den vierten Kreuzzug 1204

Wahrscheinlich inspiriert von diesem Triumph ließ Papst Innozenz III. im Jahr 1215 auf dem Vierten Laterankonzil das “filioque” als kirchliches Dogma in das offizielle Glaubensbekenntnis aufnehmen. Er hatte wohl das Gefühl, endgültig über die Orthodoxie gesiegt zu haben, die sich in das sogenannte „Reich von Nicäa“ zurückziehen musste. Die Katholiken beherrschten beide Hauptstädte des ehemaligen römischen Reiches und wollten bestimmen, was richtig war.

Die Griechen gaben jedoch nicht auf. Im Jahr 1261 eroberten sie Konstantinopel zurück, und es folgten weitere zweihundert Jahre eines allmählichen Verfalls des Byzantinischen Reiches, bis es im Jahr 1453 endgültig unterging. Der Eroberer von Konstantinopel von 1261, der Kaiser Michael Palaiologos, versuchte, eine Kirchenunion mit dem Westen zu schaffen, und diese Union entstand tatsächlich im Jahr 1274 in Lyon. In Byzanz stieß sie jedoch auf allgemeinen heftigen Widerstand, und der Kaiser, obwohl er sich durch die Rückeroberung der Hauptstadt und die Gründung einer neuen Dynastie einen Namen gemacht hatte, starb im Exil. Der Glaube und die damit verbundenen Emotionen besiegten die Vernunft, die von einem weisen Herrscher in die Ost-West Beziehungen eingeführt werden sollte.

Die Bedrohung durch die Türken wurde jedoch auch im Westen sehr wohl wahrgenommen, insbesondere vom ungarischen König und deutschen Kaiser Sigismund, der an seiner südlichen Grenze ununterbrochen mit dieser Bedrohung konfrontiert wurde. Der Plan für einen großen Kreuzzug scheiterte genau an den Uneinigkeiten der Kirche. Die militärischen Expeditionen der Jahre 1395 (Nikopol) und 1444 (Varna) endeten jeweils in Katastrophen.

Die byzantinischen Kaiser waren sich vollkommen bewusst, dass sie ohne Hilfe des Westens der türkischen Expansion nicht standhalten konnten und suchten dort Hilfe. Aber die Päpste waren unnachgiebig. Sie waren nur bereit zu helfen, wenn die Griechen in den Schoß der allgemeinen Kirche zurückkehren, also wenn sie sich mit den Veränderungen in den Ritualen und im Glaubensbekenntnis versöhnen würden. Zu diesem Zweck wurde vom Papst Eugen ein Konzil nach Ferrara einberufen, das im Jahr 1438 begann. Symptomatisch für die Asymmetrie der beiden Kirchen war die Tatsache, dass die katholische Delegation Papst Eugen IV. selbst anführte (der diese Gelegenheit nutzte oder missbrauchte, um das Konzil von Basel zu boykottieren, das seit 1431 tagte und an dem eigentlich der Papst teilnehmen müsste), während die griechische Delegation vom Kaiser Johannes VIII. Palaiologos geleitet wurde. Der Patriarch Josef II., der mit ihm kam, durfte zwar diskutieren, alle Schlussfolgerungen mussten aber vom Kaiser abgesegnet werden. Daran hat sich in Osten seit tausend Jahren nichts geändert. Nach langen Verhandlungen und der Verlegung des Konzils von Ferrara nach Florenz wurde am 6. Juli 1439 in der Kathedrale von Florenz feierlich die Kirchenunion verkündet. 31 Bischöfe, darunter auch der Patriarch von Konstantinopel Josef II., unterzeichneten das Dokument für die griechische Seite. Der Patriarch starb allerdings bald darauf und wurde in der florentinischen Kirche Santa Maria Novella begraben.

In Konstantinopel stieß aber dieser Vertrag wieder einmal auf einen unüberwindbaren Widerstand. Der Hass auf den Westen war enorm. Er war nicht nur die Folge der Erinnerungen an die demütigende Eroberung der Hauptstadt durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204. Es war der Hass eines Machtlosen, der sich nicht wehren konnte und nichts anderes als Hass übrig hatte. Das Motto der orthodoxen Christen wurde “Lieber den türkischen Turban als den Kardinalshut”. Die mit dem Kaiser loyalen Bischöfe, wie Metrophanes II. (1440-1443), Gregor III. Mammas (1443-1450) oder Athanasios II. (1450-1453), konnten das Volk für die Rettung der “ewigen Stadt” nicht gewinnen. Für einfache Griechen war die Vorstellung von Heterodoxie, also Ketzerei, so schrecklich, dass sie sich lieber entschieden, allein gegen die Türken zu kämpfen. 21 von 31 Bischöfen, die das Unionsdokument in Florenz unterzeichnet hatten, zogen ihre Unterschriften unter Druck des Volkes zurück. Der Hauptakteur des Widerstandes gegen die Union war der Mönch Gennadios Scholarios, der dann durch die Gnade von Sultan Mehmed der erste Patriarch von Konstantinopel wurde, nachdem die Türken die Stadt 1453 erobert hatten. Gennadios Scholarios war der beste Philosoph seiner Zeit. Er nahm am Konzil von Florenz als persönlicher Sekretär des Kaisers teil und unterzeichnete sogar das Unionsdokument. Danach wechselte er jedoch die Seiten. Er zog seine Unterschrift zurück und zog sich nach der Verkündung der Union in der Hagia Sophia am 12. Oktober 1452 (es dauerte so lange, bis der letzte byzantinische Kaiser Konstantin Palailogos sich dazu entschloss), aus Protest in ein Kloster zurück. Von dort aus wirkte er weiter als symbolische Person, die den unerschütterlichen wahren Glauben verkörperte. Unter türkischer Herrschaft verlor der Patriarch von Konstantinopel seine Bedeutung, da es keinen Kaiser mehr gab. Die Orthodoxie suchte nach einer neuen Führung, die dem muslimischen Herrscher nicht untergeben war. Noch im Jahr 1448 (also unmittelbar vor dem Fall von Konstantinopel) erhielt die orthodoxe Kirche des fernen Moskauer Fürstentums eine Autonomie. Die orthodoxe Kirche war nie so strikt hierarchisch organisiert wie die katholische. Die einzelnen Völker, die sich zum orthodoxen Glauben bekannten, erhielten in der Regel das Recht, ihre Angelegenheiten in ihrer eigenen Kirchenprovinz unabhängig zu regeln. Das ist auch heute noch der Fall. Praktisch jede Nation, die sich zum orthodoxen Glauben bekennt, hat ihren Patriarchen – seit dem 15. Dezember 2018 auch die Ukraine. Dazu kommen wir später noch zurück. Im Jahr 1448 wurde der erste Moskauer Metropolit, Bischof Jona, ernannt. Zu dieser Zeit erkannten die Moskauer Metropoliten jedoch noch die Überlegenheit des Konstantinopler Patriarchen an. Im Jahr 1547 ließ sich Ivan der Schreckliche zum “Zaren von ganz Russland” krönen und übertrug damit offiziell die Kaiserkrone des Byzantinischen Reiches nach Moskau. („Zar“ ist der russische Ausdruck für Kaiser). Ivan hatte jedoch kein Interesse an der gleichzeitigen Übertragung des Patriarchats. Der Patriarch in entferntem Konstantinopel war ihm lieber, als wenn er neben ihm im Kreml sitzen und ihm Leviten lesen würde (was er bei Ivan wahrscheinlich nicht lange getan hätte).

Die Gründung des Moskauer Patriarchats geht auf einen anderen russischen Politiker, nämlich auf Boris Godunov, zurück.

Boris Godunov

Boris Godunov war für seine Zeit ein genialer Stratege und hatte in Russland praktisch keine Konkurrenz. Er regierte als Vormund des geistig behinderten Sohnes Ivans dem Schrecklichen, Fjodor I. Er erkannte, dass Moskau, um zum Oberhaupt der orthodoxen Kirche zu werden, benötigte, Russlands Ansprüche auf die Stellung als Erbe und Nachfolger des Byzantinischen Reiches zu legitimieren. Die kaiserliche Krone ohne eine Untermauerung durch den Glauben (also die Kirche) war nicht genug. Er begann sofort nach Ivans Tod im Jahr 1584 mit den Vorbereitungen für diesen Schritt. Im Jahr 1589 wurde das Moskauer Patriarchat ausgerufen und ein Jahr später genehmigte die Synode in Konstantinopel seine Gründung – was konnte sie schon tun? Jove wurde der erste Patriarch und belohnte Boris Godunov damit, dass er nach dem Tod von Fjodor I. im Jahr 1598 einen entscheidenden Anteil an seiner Wahl zum Zaren hatte. Die kaiserliche Krone brachte Boris kein Glück. Bis zu seinem Tod im Jahr 1605 kämpfte er gegen die Rebellion der Bojaren, gegen eine polnische Intervention, Missernten und Hunger. Das alles wurde von fanatischen Mönchen als göttliche Strafe interpretiert (angeblich für den Mord an Ivans dem Schrecklichen jüngstem Sohn Dimitrij, der jedoch Boris niemals nachgewiesen werden konnte). Boris Godunov ist wohl eine der meistverarbeiteten Figuren in der russischen Literatur (Puschkin und Alexej Tolstoi schrieben Dramen über ihn, Modest Mussorgskij eine Oper und Sergej Bondartschuk drehte über den unglücklichen Zaren einen Film). Das Schicksal von Boris Godunov ist das Schicksal eines Menschen, der in Russland etwas voranbringen wollte und am russischen Mystizismus, Fatalismus und der Passivität scheiterte. Nur Peter der Große konnte Russland reformieren, allerdings nur weil er brutaler als alle seine Gegner war und bei Bedarf sogar persönlich Rebellen die Köpfe abschlug.

Es funktionierte in diesem Land auf eine gute Weise nie etwas, oder etwa doch, Herr Gorbatschow?

Moskau übernahm zwar die Machtansprüche von Konstantinopel, wenn es um die Führungsposition in der orthodoxen Kirche ging, vermisste jedoch vollständig die feine und hochentwickelte griechische Philosophie. Dazu hatte das russische Reich einfach keine Kapazitäten. Es konnte sie auch nicht haben. Kenntnisse des Griechischen waren rudimentär und die russische Sprache wurde sogar von den Russen selbst bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als literarisch unbrauchbar angesehen. Die bessere Gesellschaft unterhielt sich auf Französisch und die schlechtere konnte weder lesen noch schreiben. Erst Puschkin und Gogol (übrigens ein gebürtiger Ukrainer) machten aus dem Russischen eine Salonsprache. Anstatt Philosophen wie Photios, Gennadios Scholarios oder Gregorios von Nazianz sollte also die Entwicklung der orthodoxen Kirche in Russland von Propheten, Narren und Rasputins bestimmt werden. Es war ein Rückzug ins dunkle Mittelalter (eigentlich ist sogar diese Formulierung ungenau, jeder von den Patriarchen im Konstantinopel sogar im vierten Jahrhundert war bei weitem mehr gebildet als russische Patriarchen, sogar die derzeitigen) und diesen Weg hat die russische Orthodoxie bis heute nicht verlassen. Die Patriarchen spielten eine sehr wichtige Rolle im Leben Russlands und konservierten mittelalterliche Bräuche. Moskau war das Zentrum ihrer Arbeit – und der Rückwärtsgewandtheit. Das ging dem reformorientierten Kaiser Peter dem Großen (der auch aus diesem Grund eine neue Hauptstadt weit entfernt von Moskau gründete) ungemein auf die Nerven.

Peter der Große

Im Jahr 1721 entzog er dem Patriarchat seine Rechte und unterstellte die Kirche dem Staat – also sich selbst. Die “Heilige Synode” unter staatlicher Aufsicht entschied über organisatorische Angelegenheiten im Patriarchat und seit 1742 war der Vorsitzende der “Heiligen Synode”. anstelle des Patriarchen der Oberste Staatsanwalt.       

Interessanterweise wurde das Patriarchat nach der Oktoberrevolution 1918, also nach der Machtergreifung der Bolschewiki, wieder eingeführt. Die Kommunisten gingen zwar im Allgemeinen unerbittlich gegen Religion vor (Religion war für sie das „Opium des Volkes“), aber Stalin erkannte die Möglichkeiten, die ihm die Frömmigkeit des russischen Volkes bot. Er verwandelte das Patriarchat mit seinen Strukturen und Anhängern in eine Filiale des KGB. Im Grunde musste jeder Priester mit dem KGB zusammenarbeiten, viele von ihnen hatten in dieser Organisation sogar bedeutende Positionen. Wie auch der gegenwärtige Patriarch Kyril oder sein Vorgänger Alexios (1990-2009). Stalin förderte die orthodoxe Kirche auch auf “befreiten” europäischen Gebieten. Im östlichen Teil der Slowakei wurden orthodoxe Priester mit verschiedenen Vorteilen gelockt, insbesondere Mitglieder der griechisch-katholischen Kirche, und viele von ihnen verfielen den Verführungen. Die KGB war erfreut.

 Die Russen fanden nach 1990 sehr schnell den Weg zurück zum orthodoxen Glauben. Zum Beispiel wurde die Alexander-Newski-Kirche in Tallinn, die von der estnischen Regierung ursprünglich abgerissen werden sollte, sehr schnell zum Treffpunkt für die in Estland lebende Russen. Die Russen kehrten willig in den Schoß ihrer Kirche zurück. Die Kommunisten trennten die Bevölkerung gewaltsam von der Religion, aber der wirkliche Atheismus, der in Europa auf der Grundlage der Aufklärung entstand, fand nie einen Weg nach Russland. Die Russen verstanden den Verzicht auf die Orthodoxie im Grunde genommen als eine Abtrennung von ihren kulturellen Wurzeln. Die Aufklärung hat Russland nie wirklich berührt. Selbst Katharina II. die Große, eine begeisterte Anhängerin der Ideale von Jean-Jacques Rousseau, gab schnell ihre Bemühungen auf, diese Ideale in Russland zu verbreiten, als sie erkannte, mit welchem Widerstand sie konfrontiert wäre und dass es sie höchstwahrscheinlich sowohl die Krone, als auch den Kopf kosten würde. Als eine gebürtige Deutsche und eine Protestantin, also eine Heterodoxe, musste sie täglich beweisen, dass sie es mit der Konversion zum orthodoxen Glauben ernst meinte und dass sie sich mit diesem Glauben identifizieren konnte.

Katharina die Große

Aber ohne den Einfluss der Aufklärung fehlt den Menschen der Vernunft. Es bleibt lediglich ein blinder Glaube – an Gott, an den Zaren und an den Patriarchen. Ihre Befehle müssen blind befolgt werden, kritisches Denken ist nicht erwünscht. Was kann sich ein Monarch – Diktator – mehr wünschen? Vor allem, wenn der Leiter der Kirche – der Patriarch – daran gewöhnt und bereit ist, dem Zaren zu dienen.

Die orthodoxe Kirche ist einer der Pfeiler des aktuellen totalitären russischen Systems geworden. Ihre Ablehnung von allem Westlichen ist symptomatisch für die Reinheit des Glaubens! Sie ist nicht einmal bereit, den Kalender zu reformieren, weil der katholische Papst Gregor es angeordnet hat und sie hält weiterhin am julianischen Kalender fest. Aus Prinzip! Auch wenn sie bereits um 14 Tage zurückliegt. Sie wäre bereit, Weihnachten im Sommer zu feiern, nur um ihre Ablehnung des Papsttums zum Ausdruck zu bringen. Nichts davon hat sich geändert, nicht einmal als die Bolschewiki aus praktischen Gründen den gregorianischen Kalender übernommen haben. Die russische Orthodoxie kennt keine praktischen Gründe, sondern nur ideologische. Und die Hauptideologie ist der Hass auf den Westen. Kirchen (auch die katholische Kirche) haben sich nie für Demokratie begeistern können, ihre Strukturen sind totalitär und sie kommen daher besser mit totalitären Regimen zurecht (es war schließlich die katholische Kirche, die als erste den faschistischen Mussolini-Regime im Austausch für den Lateranvertrag anerkannt hat). Putin verbindet mit Kyrill außerdem eine gemeinsame Vergangenheit im KGB und beide sprechen fließend Deutsch (Kyrill liebt Aufenthalte in der Schweiz, wo er sein luxuriöses Anwesen hat). Welche Rolle Putins Beichtvater Tichon, den ihm Kyrill zugewiesen hat, bei derzeitigem Verhalten seines Präsidenten spielt, können wir nur vermuten. Es scheint, dass diese graue Eminenz einen erheblichen Anteil an der Entfachung des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine hatte. Vielleicht hat er Putin einen Platz im Himmel und Vergebung all seiner Sünden versprochen. Und Putin muss sich im Klaren sein, dass er nicht gerade wenige dieser Sünden begangen hat, die er beim jüngsten Gericht zu verantworten haben wird. Aber warum würde Tichon das tun? Also der russische Patriarchat hat die Ausrufung der ukrainischen autokephalen Kirche im Jahr 2018 nie verdaut. Die Ukrainer hatten beim Patriarchen in Konstantinopel (wie die Griechen und orthodoxen Gläubigen Istanbul immer noch nennen) um Autokephalie angesucht und die Konstantinopler Synode hatte ihren Antrag trotz heftiger Proteste aus Moskau positiv beurteilt. Kyrill hat also ein Drittel seiner Gläubigen verloren. Dennoch haben viele orthodoxe Gläubige in der Ukraine weiterhin die Moskauer Priorität akzeptiert (obwohl sich die Priester dieser Kirche weigerten, die in den Kämpfen in Donbas gefallenen ukrainischen Soldaten zu beerdigen) – allerdings nur bis zum 24. Februar 2022. Ab diesem Tag möchte niemand mehr in der Ukraine etwas mit Kyrill zu tun haben. Aussagen wie die, die ich am Anfang meines ersten Artikels zitiert habe, nämlich: “Der russische Soldat ist heute ein Krieger des Lichts, der für die Rettung des wahren Glaubens und Russlands kämpft, er ist buchstäblich ein Kämpfer der himmlischen Armee, hinter der sich Engel unter der Führung des Erzengels Michael befinden”, heben selten die Moral der kämpfenden Truppen an, entschuldigen aber dafür im Voraus alle Verbrechen, die diese “heilige” Armee begehen wird. Ein Verbrecher kann sich nichts mehr als eine absolute Amnestie für alle seine Verbrechen wünschen, die er begehen will. Mit umso größerer Freude begeht er sie dann. Wie die Kreuzfahrer im Jahr 1099 in Jerusalem und die Russen 2022 in Butscha und anderen ukrainischen Städten.

Die orthodoxe Kirche, die Waffen segnet (ihre Priester haben sogar eine Rakete namens “Satan” geweiht, als Beweis für den gegenwärtigen russischen Wahnsinn), wird für die Ewigkeit mit Blut beschmiert werden. Der Glaube der einfachen Russen an die Unfehlbarkeit des Zaren und Patriarchen sowie an die Erlösung durch genaue Erfüllung ihrer Befehle wird sich jedoch wahrscheinlich nicht ändern. Dass der Kriegstreiber Kyrill von der Europäischen Union auf die Liste der sanktionierten Personen gesetzt wurde, war mehr als logisch. Umso erstaunlicher war es, dass Viktor Orban seine Streichung von dieser Liste erpresst hatte, als er mit einem Boykott des Sanktionspakets, dass gegen den russischen Ölimport gerichtet war, drohte. Die Tatsache, dass Calvinisten (also Ungarn) gleich wie orthodoxe Gläubige gesäuertes Brot bei der Messe essen, spielte in seinem Handeln sicherlich keine Rolle. Es ging wahrscheinlich auch nicht um den Aufbau von Orbáns eigenem Ego. Die Anweisung, dass Orbán die Sanktionierung des Oberhaupts der russischen Kirche blockieren sollte, kam zweifellos aus Moskau, wahrscheinlich von Putin selbst. Vielleicht hatte ihm sein Beichtvater Tikhon mitgeteilt, dass die Voraussetzung für seine eigene Erlösung darin besteht, dass Kyrill den Sommer 2022, wie gewohnt, in seiner Residenz in den Schweizer Bergen (umgeben von der ketzerischen Bevölkerung, was ihn erstaunlicherweise nicht stört) verbringen konnte. Umso überraschender war es, dass sich Orbán für ihn so heftig eingesetzt hat und nicht einmal vor der Gefahr seiner eigenen Blamage zurückschreckte. Das wirft die Frage auf, was Putin gegen Onkel Viktor hat und womit er ihn erpressen kann. Worum ging es bei Orbáns Treffen mit Putin in Moskau im Februar 2022 unmittelbar vor dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine?

Alte Freundschaft rostet nicht

Hat Putin Orbán damals die Transkarpaten-Ukraine versprochen? War es so etwas wie der Molotow-Ribbentrop-Pakt und jetzt sitzt Orbán in einer Falle, weil er entweder etwas unterschrieben hat oder sein Gespräch aufgezeichnet wurde? Es wäre denkbar. Vielleicht werden wir es eines Tages erfahren. Patriarch Kyrill kann jedoch dank Orbán seine Schäfchen weiterhin straffrei zum Krieg anstacheln. Und sie werden weiterhin blind gehorchen und morden mit der Erwartung einer Erlösung.

Ohne den Einfluss der Aufklärung ist es nicht möglich, Glauben mit Vernunft zu verbinden. Die Verwendung von Vernunft riecht in Russland nach Heterodoxie, das heißt Ketzerei. Im Westen wurde man im Mittelalter dafür verbrannt. Im Osten geschieht dies bis heute.

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