In dem ehemaligen Bischofspalast in Vilnjus residiert der litauische Präsident, seit dem Jahr 2019 ist es Gitanas Nauséda. Im Jahr 2013, als wir die Stadt besucht haben, war Dalia Grybauskaite im Amt und sie genoss bei der Bevölkerung große Beliebtheit und das Vertrauen. Die Methode, das zu erreichen, war ziemlich einfach. Sie hat sich nicht bereichert, sie hat nicht getrunken (Litauen hat den größten Alkoholkonsum europaweit und schlägt dabei auch solche Favoriten, wie Tschechien oder Österreich) und sie sagte immer die Wahrheit. Also ein einzigartiges Phänomen in der Politik, vielleicht deshalb durfte sie nicht mehr eine Kommissarin in Brüssel sein. Übrigens Litauen hat für seine 3,4 Millionen Einwohner 161!!! Abgeordnete. Dagegen konnte nicht einmal die populäre Präsidentin etwas tun.

               Der litauische heilige Kazimir war eigentlich ein polnischer Prinz, ein Sohn des Königs Kazimir IV. und seiner Gattin Elisabeth, der Enkelin des Kaisers Sigismund, älterer Schwester des ungarischen und tschechischen Königs und österreichischen Herzogs Ladislaus Postumus. In die litauische Geschichte trat sie unter dem Namen Elisabeth von Habsburg ein, da sie eine Tochter des deutschen Königs Albrecht II. war. Sie gebar ihrem Mann insgesamt zehn Kinder. Kazimir war der jüngere Bruder des tschechischen und ungarischen Königs Vladislav I. Jagiello und nachdem sein älterer Bruder die Königskrone von Tschechien und Ungarn angenommen hatte, hatte Kazimir eigentlich den Anspruch auf die polnische Krone. In seiner Jugend entsandte ihn sein Vater nach Ungarn, um dort Mathias Corvinus zu pazifizieren. Er bezog von den Ungaren furchtbare Prügel und verlor jedes Interesse an Regierungsgeschäften. Im Jahr 1483 im Alter von 25 Jahren übernahm er zwar auf Anweisung seines Vaters die Verwaltung von Litauen und übersiedelte nach Vilnjus, ein Jahr später starb er aber hier in Folge seines asketischen Lebens an Tuberkulose. Weil er keine Machtgelüste hatte und sich durch die Fürsorge für die Armen und durch Taten der Barmherzigkeit berühmt machte, wurde er im Jahr 1602 heiliggesprochen. Es wird erzählt, dass als bei der Gelegenheit seiner Heiligsprechung sein Sarg eröffnet wurde, sein Leichnam unversehrt gefunden wurde (das machen angeblich die Mykobakterien, also die Verursacher der Tuberkulose sehr gerne – sie verteidigen ihren Lebensraum, also den Leichnam ihres Opfers, sehr konsequent und die üblichen Fäulnisbakterien können sich in den Leichnam einfach nicht durchkämpfen).

               Natürlich gibt es in Vilnjus auch die Kathedrale des Heiligen Kazimirs (obwohl er selbst in der Kathedrale des heiligen Stanislaus bestattet ist). Es ist eine monumentale Barockkirche mit einer fürstlichen Krone auf der Turmspitze (weil Kazimir ein litauischer Fürst war). In der Kirche wurde von den Sowjets – absolut pervers – ein Museum des Atheismus errichtet. Also in der Kirche, die dem örtlichen Heiligen gewidmet wurde, mussten die Lehrer in den Pflichtstunden der Atheismuslehre erklären, dass es keinen Gott gibt. Es half nicht einmal das. Die Litauer blieben trotz allen sowjetischen Bemühungen katholisch und sie sind es bis heute. Die Sowjets fühlten sich angesichts ihrer einzigen Republik der Sowjetunion, die so hartnäckig auf ihrer Religion beharrte, ziemlich machtlos. Letztendlich erlaubten sie in Kaunas das einzige katholische Seminar für die Ausbildung katholischer Priester in dem gesamten Imperium zu gründen und die Litauer durften auf dem Hauptplatz von Kaunas sogar die Statue ihres nationaler Weckers Maironis errichten. Das Problem gab es in der Tatsache, dass Maironis (mit eigenem Namen Jonas Mačiulis) ein katholischer Priester war und demzufolge zu seiner Kleidung automatisch ein Kreuz um den Hals gehörte. Nach langen Verhandlungen wurde ein Kompromiss beschlossen (in Litauen mussten sogar die Kommunisten Kompromisse beschließen). Maironis durfte in einem Priestergewand dargestellt werden (er trug ohnehin niemals etwas anderes), er hält aber seine Hand nachdenklich unter dem Kinn und so ist sein Kreuz verdeckt.

               Nicht einmal die Schwarze Madonna aus dem 16.Jahrhundert, die sich über dem „Tor der Morgendämmerung“ in Vilnjus befindet, trauten sich die Kommunisten zu vernichten oder sie zumindest wegzubringen – es handelt sich doch um die Stadtbeschützerin und man konnte nicht wissen, was nach der Entfernung der Staue mit dem passieren hätte können, der den Befehl zu Vernichtung der Statue gegeben hatte. Obwohl nicht einmal die Madonna der Stadt Vilnjus wirklich half. Im Jahr 1795 bemächtigten sich die Russen der Stadt, im Jahr 1915 die Deutschen, im Jahr 1920 die Polen und wenn Vilnjus im Jahr 1939 endlich litauisch wurde, ging ganz Litauen im Jahr 1940 – absolut unfreiwillig – in den Bund der brüderlichen sowjetischen Republiken. Trotzdem strömen zur Madonna tausende Pilgern, um hier zu beten. Der berühmteste von ihnen war – ihr könnt nur einmal raten – natürlich Johann Paulus II. Seine Gedenktafel gibt es an vielen Stellen. Karol Wojtyla waren die Litauer bereit sogar die Tatsache, dass er ein Pole war, zu verzeihen. Hauptsache, er hat geholfen sie von den Kommunisten zu befreien.

               Kaunas rühmt sich mit einer Brücke, die 12 Jahre lang die längste Brücke der Welt war. Es dauerte nämlich beinahe zwei Wochen, um sie zu überqueren. Die Erklärung ist einfach. Der Fluss Nemen bildete nach der dritten Teilung Polens im Jahr 1796 die Grenze zwischen Russland, wo der julianische Kalender galt, und Preußen mit dem gregorianischen Kalender. Nach dem Wiener Kongress rückten die Russen weiter nach Westen und die Brücke verkürzte sich auf die normale Länge.

In Kaunas erinnert man sich auch an ein historisches Ereignis, das entscheidend die Weltgeschichte ändern sollte. Im Jahr 1812 überschritt gerade hier Napoleon mit seiner „Grand armee“ die russische Grenze. In diesem Moment, als er den Boden des Russischen Imperiums betrat, lief aus dem Busch ein Hase heraus. Das Pferd des Kaisers scheute und Napoleon stürzte zum Boden. Dies wurde allgemein für ein schlechtes Zeichen gehalten, wie dann der Napoleon Feldzug nach Russland ausgegangen ist, wissen wir alle. Die Bürger von Kaunas entschieden sich dieses historische Ereignis mit einem Denkmal zu verewigen. Sie errichteten aber keine Statue von Napoleon, der sie in ihren Hoffnungen, sie von den Russen zu befreien und auch durch französische Bemühungen, ihnen den katholischen Glauben aus den Köpfen zu schlagen, enttäuschte, sondern eine Statue des Hasen.

            Die Altstadt von Vilnjus ist verhältnismäßig klein und kann sich keinesfalls mit Riga messen- ihrer Größe entsprechen aber auch die Preise, also man kann hier für vernünftige Preise essen und trinken und das abendliche Vilnjus hat auch sein Zauber. Das litauische Bier heißt Švyturis und ist ziemlich trinkbar. Litauen war bei unserer Reise preismäßig von allen baltischen Staaten am annehmbarsten. Zur Eurozone trat Litauen im Jahr 2015, also zwei Jahre nach unserem Besuch. Ob sich dann in den Preisen etwas geändert hat, weiß ich nicht.

            Wie ich schon schrieb, Litauen ist nicht nur Vilnjus. Es gibt auch Klajpeda. Im Vergleich zu großzügig renoviertem Vilnjus ist die Stadt ein bisschen vernachlässigt und dadurch frustriert, so ist es aber einfach überall in der Welt. Das Geld strömt in die Hauptstadt und zögert dann, sie zu verlassen. Trotzdem sollte Klajpeda die reichste Stadt Litauens sein, es ist ein großer Handelshafen an der Mündung des Flusses Nemen, des größten litauischen Flusses. Auch Klajpeda (auf Deutsch Memel, nach dem Fluss, der auf Deutsch auch Memel heißt) hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Bis zum Jahr 1920 war Memel der nördlichste Hafen Deutschlands. Danach wurde es von Deutschland getrennt und von Franzosen verwaltet und später von Litauern besetzt. Gleich nach der Besetzung Tschechiens im März 1939 verlangte Hitler die Rückgabe der Stadt an Deutschland, was Litauen im April 1939 auch tat. Hitler zog in Memel ein und sprach zur versammelten begeisterten Bevölkerung vom Balkon des Theaters. (Beinahe 100% der Bevölkerung waren damals Deutsche).  Alle standen mit dem Gesicht zu Hitler gewendet und jubelten, nur eine Person stand mit dem Rücken zu ihm und jubelte nicht. Es war die Statue von Ännchen von Tharau, des Mädchens, über das einmal der preußische Dichter Simon Dach Liebesgedichten schrieb.

            Er schrieb sie eigentlich im Auftrag von einem gewissen Johann von Klinsporn, aber auch auf diese Weise hatte der verliebte Johann bei dem Mädchen keinen Erfolg. Aber obwohl ihm das Gedicht „Ännchen von Tharau“ keinen ersehnten Erfolg in der Liebe brachte, das Gedicht wurde vertont und ist bis heute das berühmteste Volkslied in der Region von Preußen und Nordlitauen. Aus diesem Grund verdiente sich Ännchen ihre Statue vor dem Theater von Klajpeda und brachte das Blut des großen Adolf vor Zorn zum Glühen. Hitler bestand danach auf der Entfernung der Statue, diese musste verschwinden und nach ihr auch ganz Memel. Nach der Einnahme der Stadt von der Roten Armee, wurden die Deutschen vertrieben (an dieses Ereignis erinnert ein rührendes Denkmal vor dem Bahnhof von Klajpeda) und danach wurde die Stadt zu einer geschlossenen sowjetischen Militärzone. Mit dieser Erbschaft kämpft sie bis heute. Zwischen neuen modernen Häusern sieht man immer noch furchtbare Betonwohnhäuser aus den kommunistischen Zeiten. Der Hafen wurde zwar modern ausgebaut, in seiner Nähe stand aber eine große zerfallende Kaserne. Klajpeda ist die jüngste Stadt Litauens – was die Zusammensetzung der Bevölkerung betrifft. Es zieht junge Leute an, die auf eine Karriere hoffen und trauen sich hier das Geld zu verdienen. Wie weit sie erfolgreich sind, das weiß ich nicht, aber mindestens die schönsten Mädchen in der gesamten Region Baltikum waren nicht in Lettland, wie ich es erwartete, sondern in Litauen, konkret in Klajpeda. Die Stadt selbst ist also nicht schön, aber neben der sehr hübschen Bedienung in den Bars und Restaurants gibt es hier auch schöne Natur – nämlich das Kurische Haff, das die große Süßwasserbucht der Mündung von Nemen von dem Baltischen Meer trennt. Der Zauber der Sanddunen, der malerischen Fischdörfer und Städtchen lockte einmal auch Thomas Mann, der hier im Jahr 1930 für 99 Jahre ein Haus gemietet hat. Er verbrachte hier aber lediglich drei Jahre, danach hatte er von den ständigen nazistischen Provokationen genug und emigrierte nach Amerika.

            Das Kurische Haff teilten sich die Litauer mit den Russen (beinahe) halb halb. Zu meinem Erstaunen bekamen die Litauer vier Kilometer mehr, weil sonst die Grenze direkt durch die Hauptplatz des größten Städtchens in dem Naturreservat namens Nida laufen würde. Es ist eine schöne Kleinstadt, mit einem guten Kaffee und litauischen Liquoren (ich sah hier sogar das estnische Vanna Tallinn), zum Baden ist aber das Meer nicht wirklich einladend – höchsten in einem Neoprenanzug. Die Liquoren sind nämlich eine Abwehr gegen die Kälte und es ist hier kalt – deshalb wahrscheinlich auch der bereits erwähnte höchste Alkoholkonsum pro Kopf in Europa.  In der Nähe von Nida gibt es eine riesige Sonnenuhr (sicherlich eine interessante Idee, eine Sonnenuhr in einem Land zu errichten, in dem es kaum Sonnenschein gibt) die ein Symbol der heidnischen Vergangenheit Litauens, auf die Litauer stolz sind, ist . In der Ferne im Wald kann man die russische Grenze mit Grenztürmen und Maschinengewehren sehen. Es ist eine dunkle Bedrohung, die Litauen nie loswerden konnte.

            Litauen hat also nicht gerade wenig Probleme mit seiner eigenen Identität. Es ist stolz auf sein Heidentum, aber bigott katholisch. Hunderte Jahre in gemeinsamen Staat mit Polen, jetzt aber den großen Bruder eher hassend und mit Versuchen, die gemeinsame Geschichte zu vergessen oder zumindest zu bagatellisieren. Hassend die Russen für die lange Unterdrückung aber an Russland wirtschaftlich festgebunden und von ihm abhängig. Stolz zeigend seine ehemalige Größe, die einmal von Moskau bis zum Schwarzen Meer reichte aber bewusst des derzeitigen bescheidenen Ausmaßes seines Landes.

            Vielleicht deshalb entstand in Vilnjus die „Unabhängige Republik Užupio“, gegründet von einem Haufen der litauischen Intellektuellen in einer Kneipe namens „Užupio Kaviné“ am Ufer des Flüsschens Vilnia. Als wir dort waren, war dort absolut nichts los. Es half nicht einmal, dass der Patron der Republik Franz Zappa ist und ihre Botschafter zahlreiche bedeutsame Persönlichkeiten, wie zum Beispiel der Dalajlama. Mit Christiania in Kopenhagen kann Užupio nicht verglichen werden und sie strebt auch nicht danach. Die Verfassung der Republik ist aber interessant durchzulesen, es hat mich besonders der Paragraf drei angesprochen.

            Dieser heißt: „Jeder Mensch hat das Recht zu sterben, ist aber nicht verpflichtet es zu tun.“

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