Wenn ich in dem Artikel über Wiesbaden über eine junge Stadt schrieb, deren Bedeutung höchstens zweihundert Jahre zurückliegt, befindet sich auf dem gegenüberliegenden Rheinufer eine weitere deutsche Landeshauptstadt (Die Hauptstädte der Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz trennt wirklich nur der Fluss und damit ca. 10 Kilometer), und die Geschichte dieser Stadt beginnt noch vor Christi Geburt.
Am 14. September des Jahres 9 vor Christi Geburt stürzte hier der adoptierte Sohn des Kaisers Augustus (der Sohn seiner Gattin Livia) Drusus vom Pferd und starb an den Folgen dieses Sturzes. An sein ruhmloses Ende erinnert der so genannte Drususstein, der in der Zitadelle der Stadt steht – derzeit überdeckt von einem grünen Netz, wahrscheinlich um seinen weiteren Zerfall durch Witterung zu verhindern. Drusus wurde in Rom verbrannt und begraben, in Mainz handelt es sich also um ein Scheingrab, ein so genanntes Kenotaph.
Mogontiacum, wie Mainz damals hieß, entwickelte sich in weiterer Folge zu einem wichtigen römischen Stützpunkt an der östlichen Grenze des Reiches und diese Tatsache hatte mehrere Gründe. Hier mündet nämlich der Fluss Main in den Rhein als eine Pforte in das damals barbarische Germanien und deshalb war Mainz ein wichtiger römischer Flusshafen. Zweitens ist die Region sehr günstig für Weinanbau – der berühmte Rheinwein stammt großteils aus der Umgebung von Mainz, es gibt hier riesige Weinproduzenten wie Kupfenberg (er hat in Mainz auch sein repräsentatives Restaurant „Kupfenberg Terrassen“ auf der Terrasse über die Altstadt) oder Henkel – der größte Sektproduzent. Auf dem gegenüber liegendem Rheinufer gab es dann warme Quellen, nach denen die Römer süchtig waren. Gerade deshalb bauten sie gerade in Mogontiacum die einzige Brücke über den Rhein, die auf dem östlichen Ufer durch eine Festung geschützt war – noch heute heißt dieses Stadtviertel Kastel – aus dem lateinischen Wort „castrum“.
An die römische Vergangenheit der Stadt erinnert neben dem bereits erwähnten Drususstein auch das römische Theater unter der Zitadelle,
das ausgegraben worden ist, als die Mainzer den Südbahnhof ausbauen wollten, und vor allem ein hervorragendes Museum der römischen Schifffahrt. Ehrlich gesagt, habe ich gar nicht so viel erwartet, als ich das Museum besuchen wollte. Aber die Mainzer schafften es aus dem Fund einiger Reste der römischen Flussschiffe ein absolutes Maximum zu holen, vielleicht noch ein bisschen mehr. Das Museum stellt nicht nur diese Schiffreste aus Holz aus, es gibt hier Modelle der römischen Schiffe in der natürlichen Größe, detailliert beschriebene Vorgänge beim Schiffbau seit dem alten Ägypten bis heute, detaillierte Informationen über die römische Flotte mit Beschreibung der einzelnen Funktionen in der Flotte sogar auch mit entsprechendem Lohn. Es gibt wirklich mehr als genug zum Schauen und wenn sich jemand für römische Geschichte interessiert, ist er hier absolut richtig – ein besseres Museum habe ich bisher nicht besucht.
Allerdings überwunden die Germanen im fünften Jahrhundert den Rhein und von Mogontiacum blieben nur rauchende Ruinen. Die Stadt musste wieder von Null beginnen und ihr Wideraufbau gelang. Ein großer Verdienst an der Auferstehung der Stadt hatte ein Bistum, das in achtem Jahrhundert zum Erzbistum erhoben wurde und für die Stadtentwicklung im Mittelalter und der frühen Neuzeit eine essentielle Rolle spielen sollte.
Zum ersten Mainzer Erzbischof wurde der heilige Bonifatius ernannt. Seine Statue kann man vor der Mainzer Kathedrale sehen.
Dieser Heilige hieß ursprünglich Winfried und er war ein Engländer. Den Namen Bonifatius (also „ein gutes Gesicht“) gab ihm der Papst, als er ihn zu einer Mission nach Mainz entsandte, um dort Ordnung in das damals noch chaotische germanische Christentum zu bringen. Bonifatius gab sein Bestes und war auch erfolgreich. Er errang eine wichtige Stellung am fränkischen königlichen Hof und setzte auf die richtige Karte, als er die Majordomus aus der Familie der Karolinger gegen die machtlosen Könige aus der Familie der Merowinger unterstützte. Nach einer Legende, die allerdings angezweifelt wird, war es Bonifatius, der im Jahr 751 den ersten König der neuen Dynastie Pippin „den Kurzen“ krönte. Weil ihm das Amt des mainzer Erzbischofs offensichtlich zu langweilig war, entschied er sich für den Märtyrertod und in seinen alten Jahren – er war schon achtzig – unternahm er eine Reise nach Norden, um die Friesen zu taufen. Die hatten aber nicht die geringste Lust sich taufen zu lassen und erschlugen den alten Missionar bei Dokkum. Der Leichnam von Bonifatius wurde nicht in Mainz begraben, sondern in Fulda, in einem Kloster, das er zu gründen half.
Die Machtbereiche der einzelnen Erzbistümer im Reich teilte Karl der Große ein und er war zu Mainz sehr freigiebig. Möglicherweise spielte dabei noch die Dankbarkeit Karls Vaters Pippin eine Rolle. Dieses Erzbistum wurde zu dem größten nördlich der Alpen, in seinen Machtbereich gehörte die ganze Mitte Deutschlands und bis 1346 sogar auch Tschechien mit Bistümern in Prag und Olmütz.
Die Dominante der Stadt ist die romanische Kathedrale, eine der vier berühmtesten in Deutschland (neben Speyr, Worms und Trier). Es ist ein Bau aus dem elften Jahrhundert und mit Ausnahme einiger späteren gotischen Zubauten ist es ein monumentaler homogener Bau im hochromanischen Stil.
Mit dem Bau hat Kaiser Heinrich IV. begonnen, der sich gerade im Kampf mit dem Papst um die Investitur befand und mit diesem Bau dem Papst den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Das Ergebnis ist imposant. Die Kathedrale macht besonders in den Frühmorgenstunden einen düsteren Eindruck, in ihren drei Schiffen mit riesigen Säulen fühlt man sich verloren, aber im Moment, wenn durch die Fenster die ersten Sonnenstrahlen in das Kircheninnere dringen, bekommt der Raum ein unglaubliches Flair. Die Kirche hat zwei Apsiden, sie ist in Gegensatz zu anderen Kirchen nach Westen orientiert und der Westchor gehörte dem Erzbischof. Im Ostchor saß der König, nur eine Spur niedriger als der Domherr auf der anderen Seite der Kirche. Die Krypta befindet sich aber unter dem Ostchor. Interessant sind die Grabsteine der mainzer Erzbischöfe. Die Nummer 1 und 2 gehören den so genannten Kaisermachern. Einer davon war Peter von Aspelt, ein Kanzler des tschechischen Königs Wenzel II. Dieser Bürger der Stadt Basel machte eine unglaubliche Karriere – er wurde durch die Intervention Wenzels zum Erzbischof von Mainz. Er hatte ein Verdienst an der Wahl Heinrichs VII. von Luxemburg zum Kaiser und nach seinem Tod hatte er den entscheidenden Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers Ludwig IV. von Bayern. Ein nicht-adeliger wurde so zum mächtigsten Mann in Deutschland. Auf seinem Grabstein ducken sich unter dem rechten Arm des riesigen Erzbischofs diese zwei Kaiser, während unter seinem linken Ellbogen steht der tschechische König Johann von Luxemburg, dem er zur tschechischen Königskrone verhalf. Alle drei natürlich deutlich kleiner als der große Erzbischof.
Aspelt gegenüber gibt es den Grabstein von Siegfried III. von Eppstein. Dieser ließ gegen den damaligen Kaiser Friedrich II. gleich zwei Gegenkönige wählen, zuerst Landgraf von Thüringen Heinrich Raspe, den er sogar im mainzer Dom selbst krönte und als dieser viel zu früh starb, ließ er Wilhelm von Holland zu seinem Nachfolger wählen. Beide ducken sich auf dem Grabstein unter seine Arme und sind laut ihrem Gesichtsausdruck ihrem Wohltäter entsprechend dankbar. In den Fenstern der Kathedrale gibt es Porträts der Erzbischöfe aus Glas, diese Reihe endet mit Aspelt. Seit seinem Nachfolger Mathias von Buchegg werden die Porträts durch Wappen der neuen Herrn von Mainz ersetzt. Es wurde nämlich eine Regel erlassen, dass zum Erzbischof von Mainz nur ein Adeliger, der mindestens in sechs Generationen seine adelige Herkunft nachweisen konnte, werden durfte. Somit wurde mit dem Treiben gemeiner Bürger von Typ Aspelt, die sich einbildeten, die höchste Politik machen zu dürfen, Schluss gemacht.
Die Erzbischöfe von Mainz gehörten zu den sieben Reichskurfürsten, also zu Herren mit dem Wahlrecht bei der Wahl der römischen Könige. Wenn der tschechische König als der erste die Stimme abgeben durfte und damit die Richtung andeuten konnte, hatte der Erzbischof von Mainz das Recht, als der letzte die Stimme abzugeben, was ihm bei Stimmengleichheit eine besondere Bedeutung verlieh. Die Stadt mit der Umgebung beherrschten die Erzbischöfe bis zum Jahr 1792 als französische Truppen in die Stadt einmarschierten und mit dem kirchlichen Fürstentum ein schnelles Ende machten. Nicht immer war die Fürstenkrone des Erzbischofs ein Segen. Der Thron in Mainz war viel zu verlockend und so kämpften nicht nur einmal zwei Kandidaten um dieses Privileg. Im Jahr 1462 wurde die Stadt von den Truppen des päpstlichen Kandidaten Adolf II. von Nassau eingenommen und ausgeplündert und verlor alle ihre Rechte. Damals musste auch der berühmteste Bürger von Mainz Johann Guttenberg die Stadt verlassen (später durfte er aber zurückkehren).
Übrigens auch die Luthers Reformation hat indirekt mit Mainz zu tun. Albrecht von Brandenburg war im Jahr 1514 der Erzbischof von Magdeburg und der Administrator in Halberstadt. Das war ihm aber nicht genug. Er sehnte sich nach dem Titel eines Kurfürsten, war aber nicht bereit, auf die Einkünfte aus Magdeburg zu verzichten. Zwei verschiedene Erzbistümer zu verwalten (und besonders zwei Einkünfte zu konsumieren) widersprach den damaligen kirchlichen Gesetzen. Papst Leo X. (Giovanni Medici aus einer Kaufmannfamilie) war bereit, eine Ausnahme zu machen – wenn er dafür genug Geld bekommen würde, das der Fertigstellung des Petersdomes in Vatikan zugutekommen könnte. Albrecht ließ also in ganz Deutschland Ablässe verkaufen, er beauftragte mit dem Verkauf den größten Bankier der Zeit, Jakob Fugger, der dafür einen beträchtlichen Teil des Geldes selbst behalten durfte. Diese Unverschämtheit hat Martin Luther zu seinem Auftreten in Wittenberg am 31. Oktober 1517 veranlasst. Albrecht wurde trotzdem zum Kurfürsten von Mainz und blieb in dieser Funktion bis zum Jahr 1545, er wurde sogar zum Kardinal und Erzkanzler des Römischen Reiches. An seine Person erinnert der Rohrbrunnen auf dem Markt vor der Kathedrale und ein Grabstein drinnen, in den der Autor unter dem Porträt des Erzbischofs ein bisschen böswillig einen Teufel gemeißelt hat.