Es gab Zeiten, in denen ich Bergtouren mit einer Höhendifferenz von weniger als tausend Metern nicht für echte Wanderungen hielt. Von meinem Freund Vladimír ganz zu schweigen; ich hatte seine körperlichen Fähigkeiten vor einigen Jahren in einem Artikel namens „In den Bergen mit Vladimír“ beschrieben, in dem ich ihn verdächtigte, ein Außerirdischer zu sein. Denn jemand, der nach einer ganztägigen elf Stunden langen Wanderung mit Höhenunterschied von 1800 Metern Eishockey spielen ging, dann bis spät in die Nacht mit Freunden feierte und am nächsten Morgen um sechs Uhr in der Früh aufstand, um zur Arbeit zu gehen, überstieg völlig meine Vorstellungskraft von einem normalen Menschen.

            Aber in der Zwischenzeit sind wir älter geworden (oder gereift und weiser, je nachdem, wie man es betrachtet), und plötzlich sind uns (nicht nur mir aber sogar auch dem Vladimir) Aufstiege über tausend Meter etwas zu viel, und wir akzeptieren es beide mit Freude, wenn uns eine Seilbahn einen erheblichen Teil des Bergaufstiegs abnimmt.

            Umso größer war mein Schock, als ich kurz vor unserer Reise in Osttirol im Internet herausfand, dass die Seilbahnen in der Nähe von Matrei nicht funktionierten; eine davon war die ganze Saison über (unter dem Vorwand von Pistenumbauten) geschlossen, und die andere wurde vorzeitig am 3. September außer Betrieb genommen. Ich war außer mir vor Wut, als ich fieberhaft ein neues Programm erstellen musste, in dem wir ohne technische Hilfe auskommen könnten. Osttirol stand nämlich schon lange auf unserer Liste, und ich hatte nicht vor, darauf zu verzichten. Dieses kleine Stück Tirol, das seit 1918 von seinem Vaterland mit der Hauptstadt Innsbruck getrennt ist, da damals der südliche Teil von Tirol abgetrennt und an Italien angeschlossen wurde – ist einen Besuch wert. Es besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen: dem südlichen Teil um seine “Hauptstadt” Lienz (eine zauberhafte kleine Stadt mit 12.000 Einwohnern), von wo aus man in den osttirolerischen Dolomiten wandern kann, und dem nördlichen Teil um das Städtchen Matrei mit knapp unter 5.000 Einwohnern, von wo aus man die Hohen Tauern besuchen kann, das höchste Gebirge Österreichs mit insgesamt 266 Gipfeln über dreitausend Meter. Wir haben in Matrei gewohnt.

Dieses Städtchen ist der zentrale Punkt, an dem sich mehrere Täler treffen, genauer gesagt das Tauerntal aus dem Norden und das Virgental aus dem Westen, die gemeinsam das Iseltal bilden, benannt nach dem wichtigsten Fluss dieser Region – dem Isel-einem Gletscherfluss. Ein Stück weiter flussabwärts zweigt das Kalser Tal ab, das nach Osten in Richtung des höchsten österreichischen Berges, dem Großglockner, führt, und im Westen führt das Defereggental von hier aus zum Pass nach Südtirol am Staller Sattel. Diese vier Täler bilden also den nördlichen Teil von Osttirol, und alle vier sind einen Besuch wert. Wir hatten drei Tage zur Verfügung.

            Als uns die freundliche Frau Eva, die Mieterin des Apartmenthauses Rainer, begrüßte, fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach, ob doch vielleicht irgendwelche Seilbahn in Betrieb sei. Sie bestätigte mir jedoch das Horrorszenario, dass alle geschlossen seien. Das versetzte mich in eine schwere Depression und ich entschloss mich dazu, einen Artikel über Osttirol zu schreiben, der alle Touristen von einem Besuch dieser Region abschrecken würde, insbesondere dann Männer im Vorruhestand- und im Rentenalter mit bereits nachlassender Kondition, aber noch immer mit einem großen Ehrgeiz, die Welt von oben zu betrachten. Am Ende war jedoch alles anders, und dieser Artikel wird davon berichten.

Am ersten Tag machten wir uns auf den Weg nach Norden ins Tauerntal. Dort verläuft die zentrale Verbindung, die Felberstraße, die in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut wurde. Während ihrer Konstruktion kamen fünfzehn Arbeiter ums Leben, aber mit dem Bau des 5304 Meter langen Felbertauerntunnels wurde schließlich die Verbindung zwischen Osttirol und dem Norden hergestellt (obwohl über das Pinzgau in Salzburg). Bevor diese Straße gebaut wurde, wurden Güter über einen Hochgebirgspass nach Norden transportiert, und die letzte Station vor diesem beschwerlichen Übergang war das „Matreier Tauernhaus“. Heute ist es der Ausgangspunkt für Wanderungen in das Hochtal Gschlösstal (falls Sie es nicht aussprechen können, machen Sie sich keine Sorgen, ich auch nicht – das Tiroler Dialekt ist nun mal so).

            Entweder ein Taxi oder der Panoramazug also ein Traktor, der Wagen mit Touristen zieht, bringt Sie zu den Almbetrieben in Aussengschlöss und dann weiter nach Innergschlöss. Die Fahrt kostet 6 Euro für Erwachsene und 3 Euro für Kinder, egal ob man das Taxi oder den Traktor nimmt.

Es lohnt sich diesen Dienst zu konsumieren, zu Fuß sind es nämlich gut zwei Stunden, und das Taxi bringt Sie bis zum Venedigerhaus auf 1691 Metern Höhe. Selbst dann werden Sie beim nächsten Aufstieg gut gefordert sein. In Außengschlöss gibt es eine Kuriosität, nämlich eine in den Felsen gehauene Kapelle – “Felsenkapelle”. Ein Stück von ihr entfernt befindet sich die Quelle „Frauenbrünnl“, die angeblich Augen- und gynäkologische Krankheiten heilt. Der Legende nach soll hier die Mutter Gottes Maria die Windeln Jesu gewaschen haben. Versuchen Sie nicht, den Tirolern diese Legende auszureden. Solche Argumente, dass die Jungfrau Maria Palästina nie verlassen hat, würden auf wenig fruchtbaren Boden fallen. Ihr Versuch, den Tirolern ihren Katholizismus zu nehmen, endete sogar für Napoleons Franzosen schlecht. Nach dem Frieden von Preßburg im Jahr 1809 wurde Tirol von Österreich abgespalten und Napoleons Verbündetem, Bayern, angegliedert. Dass die Tiroler Steuern nach München anstatt nach Wien zahlen sollten, war für sie noch erträglich. Dass sie in die französische Armee einrücken mussten, schmerzte schon mehr, aber sie kamen damit gerade noch klar. Dass die Tiroler Verfassung, die ihnen bestimmte Privilegien und Freiheiten sicherte, abgeschafft wurde, brachte ihr Blut zum Kochen, aber noch nicht zum Überlaufen. Aber im Moment, als die Franzosen, von Aufklärung infiziert, begannen, den Tirolern den Kirchgang zu verbieten, war das Maß der Geduld voll. Die Tiroler griffen unter der Führung von Andreas Hofer zu den Waffen, und es kam zu einem sehr blutigen Aufstand. Es dauerte fast ein Jahr, bis es den vereinten französischen und bayerischen Armeen gelang, den Aufstand, den Wien im Stich ließ, zu unterdrücken. Die Franzosen erlitten mehrere blutige Niederlagen, was für die durch Siege verwöhnten Soldaten ein neues Erlebnis war, auf den sie gerne verzichtet hätten, bevor sie schließlich in der dritten Schlacht auf dem Bergisel bei Innsbruck (heute gibt es dort eine Skisprungschanze, auf der im Rahmen der Vierschanzentournee am Übergang vom alten zum neuen Jahr gesprungen wird) die Tiroler doch besiegten, Andreas Hofer wurde gefangen genommen und in Mantua hingerichtet. Die Tiroler sind jedoch unheimlich stolz auf diesen Aufstand, der in ihrer Geschichte glorifiziert wird, und auch auf dem Staller Sattel-Pass gibt es ein Denkmal für die Tiroler Solidarität – ein Osttiroler aus Defeggertal hält gemeinsam mit einem Südtiroler aus Antholzertal die Fahne und sie ziehen gemeinsam gegen die bösen Franzosen.

Es gibt Dinge, über die in Tirol nicht gescherzt wird. Ich würde auch nicht empfehlen, das Antholzertal mit seinem heutigen Namen “Valle di Anterselva” zu bezeichnen, nicht einmal deshalb, weil es sich besser ausspricht.

            In Matrei, vor der riesigen klassizistischen Kirche St. Alban aus den Jahren 1776-1784, findet man neben den üblichen Gedenkstätten für die Opfer der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts auch eine Erinnerung an die Opfer dieses Aufstands. Aus Matrei stammten zwei Anführer des Aufstands, Anton Wallner, der den Kampf in den Salzburger Bezirken Pongau und Pinzgau führte, und Johann Panzl, der bei Saalfelden kämpfte. Beide zogen sich dann nach Osttirol zurück und organisierten den Widerstand im Iseltal. Nach der Niederlage des Aufstands wurden sie in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Wallner gelang die Flucht, und auch Panzl schaffte es, sich aus seinem Versteck in Sicherheit zu bringen. An ihrer Stelle wurden Geiseln hingerichtet, die von der Gemeinde Matrei an die siegreichen Franzosen ausgeliefert wurden, der örtliche Metzger Johann Weber und Franz Obersammer. Heute werden alle vier auf dem Denkmal geehrt; die beiden Anführer haben dort ihre Plastiken, auf hingerichtete Geiseln wird dort nur durch ihre Namen erinnert.

            Aber zurück zu unserem Ausflug. Innergschlöss ist ein wunderschönes grünes Hochtal, in dem Kühe weiden, durch das die Gletscherströmung „Gschlösserbach“ fließt. Hier beginnt der “Gletscherlehrpfad”. Er führt steil nach oben; die ersten fünfhundert Meter sind anstrengend, aber zu Beginn der Strecke ist man noch motiviert und konzentriert, so dass der Weg über den hohen Wasserfall zum ersten See auf 2240 Metern Höhe bewältigt werden kann. Gleich in der Nähe befindet sich die größte Attraktion des Tals, der “Auge Gottes”-See. Dieser dreieckige See mit einer kreisförmigen Insel sieht wirklich so aus, wie sein Name es sagt.

Von hier aus teilt sich der Weg. Eine Richtung führt weiter entlang des Lehrpfads mit der Möglichkeit, zur “Alten Pragerhütte” abzuzweigen, die jedoch außer Betrieb ist und in ein Museum umgewandelt wurde. Diese “Alte Prager Hütte” war die älteste Schutzhütte im Tal und wurde irgendwann um das Jahr 1870 gebaut, als es bei der Besteigung des Großvenedigers noch um Leben und Tod ging. Dieser – meiner Meinung nach schönste Berg Österreichs – dominiert das gesamte Tal. Wir haben überlegt, ob wir uns in diese Richtung begeben sollen, oder den Gipfel des „Innerer Knorrkogel“ besteigen sollen. Die Höhe war ungefähr gleich, aber die Aussicht auf eine Erfrischung, die wir von der Hütte erwarteten, war letztendlich entscheidend. Der Name der Hütte ließ uns überlegen, ob in der “Neuen Pragerhütte” original pragerisch „Staropramen“ oder vielleicht doch das kommerziellere „Pilsner Urquel“ serviert wird. Da wussten wir noch nicht, welche Überraschung uns erwartete. Das erfuhren wir, als wir bei der Alten Prager Hütte ankamen, die von einer großen Herde Schafe umgeben war.  Die Schaffe stürzten sich freudig auf uns und fingen an, uns abzulecken, weil sie nach Salz dürsteten, und wir nach dem Aufstieg auf 2489 Metern vom salzigen Schweiß bedeckt waren.

Denn dort erwartete uns auch die Hiobsbotschaft – die “Neue Pragerhütte” war nämlich aufgrund von Wassermangel geschlossen. Da ich bereits ziemlich müde war, schlug ich vor, dass wir es für heute gut sein lassen sollten, aber mein Vorschlag wurde abgelehnt. Wir gingen weitere dreihundert Höhenmeter zur “Neuen Pragerhütte”, weil sie in Sichtweite war und die anderen Teilnehmer der Expedition, nämlich Vladimír und seine beiden Söhne, betonnten, dass es auf keinen Fall nochmal dreihundert Höhenmeter sein könnte. Doch, sie waren es!!!

Neue Pragerhütte

            Allerdings war der Ausblick von dort oben erstaunlich schön. Wir befanden uns direkt unter dem Gletscher, der immer noch die Hänge des Großvenedigers bedeckt, hoch über seinem Gletschersporn und dem Gletschersee.

Dieser schöne Berg schien zum Greifen nah und ist normalerweise auch erreichbar. Gerade in der “Neuen Pragerhütte”, die im Jahr 1904 erbaut wurde, übernachten Touristen, die den Gipfel des Großvenediger mit einer Höhe von 3657 Metern zum Ziel haben.

Wir bekamen sogar vom “Hüttenwart”, der die verlassene Hütte bewachte, ein Bier in der Dose angeboten (es störte nicht, dass es weder Staropramen noch Pilsner war und dass das Bier bereits drei Jahre über dem Ablaufdatum war). Er bot uns sogar an, dort zu übernachten. Der Aufstieg zum Großvenediger über den Gletscher ist jedoch nur mit einem Bergführer möglich, der natürlich nicht da war. Wir hatten keine Lust in einer Gletscherspalte zu landen und zu neuem „Ötzi“ zu werden. Wir hatten nicht die entsprechende Ausrüstung, und die Vorstellung, am nächsten Tag weitere 900 Höhenmeter hinaufzusteigen (und das im Schnee, was viel anstrengender als Felsen ist) und danach 2000 Höhenmeter hinunterzugehen, stieß auf meinen Selbsterhaltungstrieb. Das müsste nämlich an einem Tag geschafft werden. Und dieser Berg ist auch von unten wunderschön anzusehen, und von der Hütte aus ist er geradezu optisch zum Greifen nah.

            Als wir zurück ins Tal kamen, stellten wir fest, dass das Schild mit der Information, dass die Hütte vorzeitig geschlossen sei, dort stand, nur auf dem anderen Ufer des Gschölbaches, an dem entlang wir am Morgen gegangen waren. Wir wollten nämlich den Menschenmassen entkommen, die der Panoramazug ausgespuckt hatte. Wenn wir das gewusst hätten, wären wir wahrscheinlich auf den Innerer Knorrkogel gegangen – und das wäre ein großer Fehler gewesen. Man muss einfach Glück haben.

            Wir fuhren mit dem Taxi (wie uns der Fahrer sagte, es war die letzte Fahrt) zurück zum „Matreier Tauernhaus“, und wir hatten Hunger. Das Gasthaus bot eine sehr begrenzte Speisekarte *neben dem Schnitzel nur eine Blutwurst), also zögerten wir, aber schließlich entschieden wir uns für vier Wiener Schnitzel, denn dieses Gericht geht immer. Beim Verlassen der Hütte sah ich an der Rezeption einen Prospekt – ein Büchlein, das sich von selbst auf einer Seite öffnete, auf der für die Seilbahn “Kalser Bergbahn” geworben wurde. Und es wurde dort geschrieben, dass sie bis zum 24. September in Betrieb wäre. Ich starrte ungläubig auf diese Information und wagte es nicht zu verstehen, dass uns das Schicksal vielleicht doch mochte. Das dauerte ein paar Minuten, aber meinen Lesern überlasse ich ganze zwei Wochen, um das zu begreifen. Dann werde ich Ihnen erzählen, wie sich unsrer Urlaub durch dieses Büchlein geändert hat.

4 Comments on Osttirol I

  1. Immer spannend und interessant,Deine Reiseberichte zu lesen.
    Es motiviert,hinzufahren,um diese Gegenden zu erkunden.
    Liebe Grüsse
    Heinz

    • Danke, Heinz! Wenn ich jemanden motovieren kann die Orte, von den ich schreibe zu besuchen, dann hat mein Artikel seinen Ziel erreicht. Schöne Grüße nach St.Peter

  2. Hallo Toni!
    Da ich gebürtig aus Oberdrauburg komme und in Lienz geboren wurde hab ich deinen Bericht interessiert gelesen.
    Ich hab Verwandte in Matrei und war dort als Kind auf Sommerfrische (du hast es in deinem Artikel zur Stadt erhoben- das hätten die Mottinger(so nennen wir die Einwohner liebevoll) ganz bestimmt gerne 😁)
    Vor 2 Jahren war ich mit meinen Kinder auch im Innergschlöss, weil ich ihnen diese schöne Gegend unbedingt zeigen wollte!
    Ich bin gespannt, wie es weiter geht!
    Lg Daniela

    • Liebe Daniela!
      Schön von dir zu hören. Dass du eine gebürtige Tirolerin bist, höre ich das erste mal, um so mehr freut mich, dass dir der Artikel gefallen hat. Ich liebe die Berge von Tirol. Mit Vladimir erkunden wir ein Tal nach dem anderen, nach Südtirol war das Ötztal, Pitztal und voriges Jahr Zillertal. Es macht mir Spass darüber mit ein bisschen Humor zu berichten, damit die Leute Lust bekommen dorthin zu fahren – obwohl über manche Dinge scherzt man in Tirol nicht – oder?

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