Jahrelang habe ich mir den Kopf darüber zerbrochen, warum die Österreicher und die Deutschen eine unglaubliche Affinität zum Gardasee, auf Italienisch Lago di Garda, haben. Alle fahren dorthin, manche sogar jedes Jahr, und erzählen davon, als wäre es ein unglaubliches Erlebnis. Da ich den Grund für ihr Verhalten lange nicht verstanden habe, machte ich mich heuer endlich auf, um dieses Rätsel zu lösen.

Und ich habe es herausgefunden. Alles ist Goethes Schuld! Johann Wolfgang machte sich 1786 von Karlsbad aus (woher auch sonst, in Karlsbad war er praktisch immer) auf seine italienische Reise. Während dieser Reise sollte er endlich die Erfüllung seiner erotischen Fantasien finden, sich neu zu definieren und einen neuen Abschnitt seiner Schriftstellerkarriere zu beginnen. Bis dahin hatte er eine erfolgreiche Karriere als Beamter in Weimar hinter sich, sieben Jahre einer platonischen Beziehung zu einer Hofdame, bei der er keine Chance auf echte körperliche Liebe hatte (sein Roman “Die Leiden des jungen Werthers”, inspiriert von dieser Beziehung, machte ihn jedoch zu einem schriftstellerischen Star seiner Generation).

Aus für mich unverständlichen Gründen bog er von der üblichen Route von Trient nach Verona nach Westen ab und erreichte im September 1786 das Städtchen Riva am Nordufer des Gardasees. Er war von der Schönheit der lokalen Natur so begeistert, dass er in sein Tagebuch schrieb, wie sehr er bedauere, dass seine deutschen Freunde dieses unglaubliche Erlebnis nicht mit ihm teilen konnten. Von Riva aus ging er nach Torbole. Am 13. September wollte er dann mit einem Boot nach Verona weiterfahren, aber der ungünstige Wind trieb ihn nach Malcesine, wo er zuerst als möglicher Spion des österreichischen Kaisers Joseph II. festgehalten wurde (die Region gehörte damals zur Republik Venedig, die gerade noch zehn Jahre existieren sollte und deren Beziehungen zum Kaiserreich traditionell angespannt waren). Dank seiner Redegewandtheit konnte Goethe jedoch schnell alle Verdächtigungen zerstreuen und sogar eine Freundschaft mit dem örtlichen Bürgermeister schließen (der zuvor in Frankfurt am Main studiert hatte). In Torbole gibt es übrigens eine Gedenktafel, die auf den Besuch von Kaiserin Maria Theresia und ihrem Sohn Joseph erinnert. Der nördliche Teil des Sees gehörte zur Provinz Trient und damit zu Südtirol, der südliche Teil zu Venedig. Die Grenze ist auch heute immer noch gut nachvollziehbar, es ist der längste Tunnel an der Ostküste. Die Straße um den See herum wurde erst von Mussolini gebaut, bis in die 1930er Jahre gab es die Verbindung zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil des Sees ausschließlich auf dem Wasserweg.

Die Büste von Goethe in Malcesine


Goethe beschrieb seine Erlebnisse in der Region Gardasee in seinem Tagebuch und veröffentlichte sie später nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1788. Seitdem strömen die Massen von Deutschen und in der Folge auch von Österreichern zu dieser zauberhaften Naturszenerie, von der einst der König aller deutschen Dichter so suggestiv sprach. Die Italiener haben schnell den wirtschaftlichen Nutzen dieser germanischen Begeisterung erkannt und eine entsprechende Infrastruktur ausgebaut. Übrigens haben sie Johann Wolfgang seine Verdienste nie vergessen. In Riva di Garda ist ihm ein Brunnen auf dem Platz vor dem Schloss gewidmet, in Torbole gibt es eine Gedenktafel am Haus, in dem er wohnte, und in Malcesine ist ihm im örtlichen Schloss sogar ein ganzer Saal gewidmet, der seine Reise durch Italien dokumentiert.

In einem Punkt hatte der “poeta mirabilis” allerdings recht. Der Lago di Garda oder Benaco, wie der See zu Goethes Zeiten genannt wurde, ist wunderschön. Es ist der größte See in Italien mit einem Volumen von 49 Milliarden Kubikmetern Wasser (ganz Italien verbraucht jährlich acht Milliarden). Natürlich ist er ein Überbleibsel aus der Eiszeit, als ein Gletscher aus den Alpen eine Moräne bildete und dahinter den See entstehen ließ. Und das auf einer überdimensionalen und beeindruckenden Weise.

Die Entfernung vom südlichen Ende des Sees in Sirmione bis zum nördlichen Ende in Riva beträgt etwa sechzig Kilometer und die Fahrt auf dem Festland dauert anderthalb Stunden. Oder länger, wenn Sie einen oder mehrere Stopps einlegen möchten – Anreize dazu gibt es mehr als genug.

Beginnen wir im Norden, dort gibt es das bereits erwähnte Riva di Garda. Ein zauberhaftes Städtchen mit einer Festung namens „Rocca“, die einst von den Herrschern von Verona aus dem Geschlecht Della Scala erbaut wurde, daher der Name „Rocca Scaligera“.

Angeblich ließen die Herrscher von Verona die Festung bereits im Jahr 1124 bauen, allerdings noch im Jahr 1393 wurde sie als “castrum novum” bezeichnet, also haben sie sich möglicherweise viel Zeit gelassen. Später diente die Burg als Sommerresidenz der Bischöfe von Trient, die ihren Sitz im Renaissancestil umbauen ließen. Die Festung und das Städtchen erlebten ihre größte Blütezeit unter dem Fürstbischof Cristoforo Mandruzza, der vor seinen aufgebrachten Untertanen aus Trient fliehen musste und Riva 1568 zu seiner Residenzstadt machte. Hier lud er Politiker und Gelehrte ein, und das Städtchen konnte sich zumindest für kurze Zeit als Nabel der Welt fühlen. Später befanden sich hier Kasernen der österreichischen Armee, denn Riva war der südlichste Militärposten des österreichischen Kaiserreichs – woran das Datum 1852 mit dem Namen Franz Josephs an der Fassade der Festung erinnert. In dem Gebäude, einer klassischen Wasserburg, gibt es ein Museum mit archäologischen Ausgrabungen und der Geschichte der Stadt im Ersten Weltkrieg, als sie an vorderster Front war und auch im Zweiten Weltkrieg. Die Stadt schaffte es, sich dank örtlicher Partisanen am Ende April 1944 von den Deutschen selbst zu befreien, so dass die 10. Gebirgsdivision der Amerikaner hier ohne Widerstand vorrücken konnte. Nicht so im nahegelegenen Torbole, wo es zu einem intensiven Zusammenstoß mit zurückweichenden deutschen Panzern kam. Die Stadt hat noch das erhaltene „Heilige Michael-Tor“ und die große einschiffige barocke Kirche „Inviolata“ aus dem Jahr 1603. Man kann mit einem Aufzug zum „Bastione“ fahren.

Es ist eine kleine Festung oberhalb der Stadt, die im Jahr 1703 von den Franzosen während des spanischen Erbfolgekriegs zerstört wurde – also in einem Krieg, der die Einheimischen eigentlich überhaupt nicht interessieren sollte. Von dort hat man einen herrlichen Blick auf das Städtchen aus der Vogelperspektive, also lohnen sich die paar Euro für den „Funiculare“, mit dem man hinauffahren kann. Übrigens gibt es auch einen Weg für die Sparsamen, um zu Fuß hochzusteigen.

Riva

Riva ist wunderschön in die hohen Felsen eingebaut, und der Anblick von den engen Gassen aus nach oben raubt einem den Atem, besonders bei der Vorstellung, dass dort ein Felsen abbrechen könnte. Was angesichts der aktuellen Klimaveränderungen nicht ungewöhnlich wäre. Es scheint jedoch nicht, als würde dies die Italiener auf irgendeine Weise beunruhigen. Sie lassen sich sowieso nicht leicht beunruhigen. Und die Tradition steht über allem. Schon im Mittelalter wurden die Einwohner der Stadt von den örtlichen Bürgermeistern unter dem Bogengang des Gebäudes gerichtet, wo sich heute immer noch das Rathaus befindet.

Übrigens befindet sich am Ufer des Sees in der Nähe des Hafens und des Aufzugs zum Bastione das örtliche Kraftwerk. Wasser wird über Röhre von den hohen Felsen zugeführt, die direkt über dem Kraftwerk aufragen. Es handelt sich also um einen umweltfreundlichen Strom. Man muss nur hoffen, dass sich eines dieser Felsstücke nicht anders besinnt und durch seinen Absturz einen Stromausfall für Riva verursacht.

Der Brunnen in der Mitte der Stadt erinnert an Goethes Besuch, genauso wie die Ausstellung im „Rocca“. Dort sind alle Berühmtheiten aufgeführt, die die Stadt jemals besucht haben, idealerweise mit Zitaten, in denen sie Riva gelobt haben. Es ist praktischerweise nichts anderes als Lob überliefert.

Wenn Riva auf seinen historischen Charme setzt, ist das nahegelegene Torbole, durch einen Felsen von Riva getrennt, eine typische Badeortstadt mit Kieselstränden und einer großen Surfschule.

Die Bergwinde sind ideal zum Surfen, und Torbole hat das ausgenutzt. Selbst hier war eine österreichische Garnison, und zwar im „Beuz-Haus“, wo sich heute ein sehr gutes italienisches Restaurant befindet.

Richtung Süden am östlichen Ufer gelangt man nach Malcesine. Die Hauptattraktion in dieser Stadt ist die „Funiculare“, also die Seilbahn, die Touristen auf den „Monte Baldo“ bringt. Der „Monte Baldo“ ist nicht nur ein Aussichtsberg, sondern auch sehr reich an Natur. Da dieser Berg nie ganz vereist war, vermischen sich hier die mitteleuropäische Vegetation mit der mediterranen Flora. Die Seilbahn bringt Sie auf eine Höhe von 1790 Metern, und von dort aus können Sie in alle Richtungen wandern. Am attraktivsten ist wahrscheinlich der Spaziergang entlang des Gratwegs Richtung Süden zum „Monte Telegrapho“ mit einer Höhe von 2215 Metern über dem Meeresspiegel. Angeblich bietet sich von dort oben ein wunderschöner Blick auf den ganzen See. Natürlich nur, wenn es Mitte Mai nicht schneit und die Berge nicht in dichten Wolken versinken, wie es uns passiert ist. Der Hauptgrund für unseren Aufenthalt in dieser malerischen Stadt wurde also durch das Wetter zunichte gemacht. Es schien mir jedoch, dass meine Frau das nicht allzu viel bedauerte. Es ist aber nicht aller Tage Abend, sie sollte sich nicht zu früh freuen.  Der Gardasee ist für einen nächsten Besuch nicht unerreichbar weit.

Malcesine hat auch eine Burg, die von den Della Scala errichtet wurde, die sogenannte „Scaligerburg“.

Neben dem Saal, den Goethebesuch beschreibt und der seine Reise durch Italien inklusiv seiner erotischen Erlebnisse dokumentiert, gibt es hier ein Naturmuseum mit Exponaten zur Fauna und Flora des Gardasees sowie ein Saal, wo eine unglaubliche militärische Operation aus dem mittelalterlichen Italien beschrieben wird. In der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts kämpften Venedig und Mailand um die Vorherrschaft in Norditalien. Venedig wurde von dem berühmten Condottiere Gattamelata geführt (seine Statue von Donatello kann man vor der Kirche des Heiligen Antonius in Padua bewundern), die Mailänder Armee von dem ebenso berühmten Feldherrn Piccinino. Den Mailändern gelang es 1438, Brescia zu erobern, und damit erreichten sie die Kontrolle über den Gardasee. Gattamelata hatte eine Idee, von der er auch den venezianischen Stadtrat überzeugen konnte. Er wollte die Mailänder, die ihre Flotte in Desenzano am südlichen Ende des Sees hatten, mit einem gewagten Trick überraschen. Es wollte die venezianische Flotte stromaufwärts des Flusses Adige transportieren und dann die Schiffe über den Bergpass von Mori bis nach Riva am Land ziehen, Es handelte sich um eine ziemlich große Flotte mit 2 großen Fregatten, 6 Galeeren und 25 kleineren Schiffen. Diese ganze Aktion ging als „Galeas per montes“ in die Geschichte ein. Der Feldzug dauerte ein halbes Jahr bis Mai 1439 (also war Sultan Mehmed doch nicht der erste in der Geschichte mit einem ähnlichen Trick seine Flotte in der Bucht des Goldenen Horns während der Belagerung von Konstantinopel im Jahr 1452 zu positionieren). Gattamelata schaffte es zwar, die venezianische Flotte zum See zu bringen, die Mailänder ließen sich jedoch nicht überraschen und zerstörten die Schiffe bereits beim Auslaufen auf den See.


Malcesine, das sind schmale Gassen am Ufer des Sees. Man kann bis unterhalb der Burg hinabsteigen, zur Bucht, wo die Frauen von der Burg früher Wäsche waschen gingen. Diese Bucht diente auch dem örtlichen Verwalter als ein Nothafen für den Fall der Flucht, wenn es im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung wirklich schlimm würde. Das war allerdings nie der Fall. Der riesige Palast des venezianischen Verwalters, in dem einst Goethe verhört wurde, liegt direkt am Ufer des Sees mit einem Garten und einem eigenen Hafen.

Über seine Geschichte zeugt ein großes Fresko mit dem venezianischen Löwen an der Decke des Korridors, der die Straße mit dem Garten und dem See verbindet. Ein Stück weiter ist dann der moderne Hafen geschmückt mit zeitgenössischen Skulpturen.

Zwischen den Dörfern am Ufer kann man auch mit dem Boot reisen (in jeder größeren Ortschaft gibt es einen Hafen), aber die Reisezeiten sind ziemlich lang – von Malcesine nach Sirmione würde die Bootsfahrt drei Stunden dauern, also haben wir lieber das Auto gewählt.

Südlich von Malcesine liegt Garda, nach dem der See seinen Namen bekam, mit großen Wochenmärkten (die Stände sind samstags und sonntags geöffnet) und weiter südlich Lazise mit einer großen, aber für die Öffentlichkeit unzugänglichen Burg und gut erhaltenen mittelalterlichen Stadtmauern.

Lazise

Überall gibt es Wein, Geschäfte, Weinberge und Weingüter.

Also nehmen wir hier eine kurze Rast. Den westlichen Teil des Sees schauen wir uns in zwei Wochen an.

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