In keiner deutschen Stadt war ich so häufig wie in Wiesbaden. Ich weiß eigentlich nicht einmal, wie oft es war, bestimmt mindestens siebenmal – über keine deutsche Stadt, die ich besucht habe, habe ich so wenig gewusst, wie über Wiesbaden.
Der Grund dieses Widerspruchs ist der Kongress der deutschen Internisten, der in dieser Stadt alljährlich seit dem Jahr 1882 stattfindet, heuer also im Jahr 2021 bereits das 127. Mal. (Es gab offensichtlich auch Pausen, die durch Kriege und die unmittelbare Nachkriegszeit verursacht wurden). Meine Besuche in Wiesbaden beschränkten sich also meistens auf den Weg zwischen dem Hotel und der Kongresshalle. Die prächtige „Rhein-Main Hallen“ auf der Wilhelmstraße wurde in den letzten Jahren großzügig zu einem riesigen Gebäudekomplex aus Marmor und Glas umgebaut, damit deutsche Internisten (aber nicht nur sie) in würdigen Räumen tagen könnten.
Der Kongress wurde in Jahren des Umbaus nach Mannheim verlegt, was einen ziemlich großen Unwillen der Teilnehmer zur Folge hatte. Die deutschen Internisten dürfen sich nämlich in keinem anderen Ort als in Wiesbaden zu ihrem Kongress treffen, das wurde bereits bei der Gründung der Deutschen internistischen Gesellschaft in den Gründungbestimmungen festgeschrieben. Das sollte eine Vorbeugungsmaßnahme gegen den Berliner Zentralismus im neu entstandenen Deutschen Kaiserreich sein. Es war eine ein bisschen scheinheilige Entscheidung. Wiesbaden war eigentlich die zweite Hauptstadt Deutschlands, der kaiserliche Hof verbrachte die Sommersaison jedes Jahr in dieser Kurstadt, ähnlich wie der österreichische Kaiser in Bad Ischl.
Der Grund des regelmäßigen Aufenthaltes der kaiserlichen Familie in Wiesbaden waren dortige Thermalquellen – an siebenundzwanzig Plätzen drängt hier das Wasser mit einer Temperatur 49 Grad Celsius an die Erdoberfläche und diese Quellen brachten Wiesbaden, wie dieser Ort bereits in der Zeit Karls des Großen genannt wurde (Wisibada), seinen Ruhm. Übrigens bereits für die Römer, die auf dem westlichen Rheinufer in Mogontiacum (heutigem Mainz) residiert haben, wurden diese Quellen zu so einer Versuchung, dass sie den Fluss überquerten und hier eine Siedlung namens „Aquae Mattiacorum“ gründeten. Gerade hier und aus diesem Grund begannen sie ihren „Limes romanum“ zu bauen, der die Flüsse Rhein und Donau verband und von Germanien eine Provinz namens „Argi decumatis“ abspaltete. Die Römer hielten sich hier bis zu den Jahren 260 – 270, bis sie von den Germanen doch gezwungen wurden, sich hinter den Schutz der europäischen Hauptströme zurückzuziehen und auf das warme Bad in schwefelhaltigen Thermen in Wiesbaden zu verzichten.
Der wahre Ruhm von Wiesbaden begann aber nach dem Jahr 1816, als es zu Hauptstadt des vom Wiener Kongress neu gebildeten Großherzogtums Hessen wurde. Aus diesem Grund findet man hier keine Gebäude aus den Zeiten der Gotik oder der Renaissance. Es ist eine Kurstadt mit allem was dazu gehört, in erster Linie dann mit Luxus, den es gern zu Schau stellt.
Die Altstadt ist bescheiden und bildet ein Fünfeck am Fuß des Gebirges Taunus. An ihrem oberen Ende kann man die Reste der römischen Vergangenheit in Form der so genannten „Heidenmauer“ sehen, in die in der modernen Zeit ein „Römertor“ für den Straßenverkehr geschlagen wurde. Um die Mauer sind römische Artefakte platziert, besonders damalige Grabsteine.
Das Stadtzentrum bildet der Schlossplatz, der von drei Gebäuden dominiert wird und mehr oder weniger mit dem etwas größeren Marktplatz verbunden ist. Auf dem Marktplatz finden Märkte statt und es gibt hier ein elegantes Restaurant namens „Lumen“. Hier ein Bierchen zu trinken ist dank der Aussicht auf den Marktplatz angenehm, bezüglich Essen ist Lumen nicht unbedingt meine erste Wahl – aus dem immer wieder wiederkehrenden Grund. Die Bürger von Wiesbaden gehörten zur Reformierten Kirche, also zum Calvinismus.
Aber zurück zum Schlossplatz mit seinen drei Gebäuden. Die Dominante der Stadt ist die „Marktkirche“, also die örtliche Kathedrale, deren schlanke rote Türme hoch in den Himmel emporragen und alle anderen Gebäude in der Stadt übertreffen.
In ihrem Inneren ist die Kathedrale nur sehr bescheiden geschmückt, freilich aus dem Grund, dass die Grafen von Nassau, aus denen dann später die Herzöge von Hessen wurden, dem calvinistischen Glauben anhörten. Vor der Kirche steht die Statue des berühmtesten Mitglieds der Nassauer Familie Wilhelm von Oranien, genannt „Schweiger“.
Wilhelm, geboren im Jahr 1533 in Dillenburg, der damaligen Hauptstadt der Grafschaft Nassau-Dillenburg, sollte zum „Pater patriae“ der heutigen Niederlande werden. Das konnte er bei seiner Geburt nicht einmal ahnen. Als er allerdings elf Jahre alt war, machte ihn sein Onkel, der Herzog von Oranien, zum Universalerben seiner riesigen Besitzungen im heutigen Holland, damals waren es die habsburgischen Niederlande. Wilhelm wuchs am kaiserlichen Hof Karls V. auf und verstand sich mit dem toleranten Kaiser sehr gut – er war in dieser Zeit selbst noch ein Katholik. Nur die Schreckherrschaft Phillips II. und seiner rechten Hand, des Herzogs von Alba, rückte ihn immer mehr an die Seite der niederländischen Rebellen, die sich im Jahr 1566 gegen die spanische Unterdrückung erhoben haben. Wilhelm selbst trat unter dem Einfluss seiner zweiten Gattin Anna von Sachsen zur lutherischen Lehre über, später entschied er sich aber für die reformierte Kirche – seine zwei weiteren Gattinnen waren Hugenottinnen. Er selbst fühlte sich in erster Linie als Christ und die Konfessionen konnten ihm gestohlen bleiben. Er wollte nur seine Untertannen vor der brutalen Unterdrückung von Seite des fanatischen spanischen Königs schützen. Seine Freunde wurden vom Herzog von Alba heimtückisch gefangengenommen und hingerichtet, drei seine Brüder starben in Schlachten gegen spanische Heere. In damaliger Zeit war es nicht einfach „nur ein Christ“ zu sein, es wurde ein religiöser Fanatismus verlangt, gegen den Wilhelm schweigend – wie es sein Brauch war – Widerstand leistete. Die Aufständische riefen im Jahr 1581 in den sieben nördlichen niederländischen Provinzen eine Republik aus und wählten Wilhelm zum Landverweser. Philipp schrieb Kopfgeld für seinen Tod aus. Wilhelm überlebte das erste Attentat im Jahr 1582 mit Glück „nur“ schwer verletzt, seine dritte Gattin Charlotte von Bourbon-Montpesier kümmerte sich um ihn so selbstlos, dass sie selbst von Erschöpfung starb. Das zweite Attentat, das ein katholischer Fanatiker Balthasar Gérard durchführte, kostete Wilhelm das Leben. Den Willen der Holländer, ihre Freiheit zu verteidigen, konnte sein Tod aber nicht brechen, nach achtzig Jahren Krieg gewannen sie im Westphälischen Frieden im Jahr 1648 ihre Unabhängigkeit.
Mit der Marktkirche ist noch eine Legende verbunden, die ich bei meinem ersten Besuch in Wiesbaden hörte, allerdings konnte ich später nie mehr den Namen der Person erforschen, mit der diese Legende verbunden war. Im Jahr 1866 wurde Hessen von Preußen eingenommen und wurde zum Mitglied des Norddeutschen Bundes. Damals war in der Marktkirche ein Pfarer tätig, der mit flammenden Reden gegen die preußische Okkupation kämpfte (Die Preußen waren im Gegensatz zu calvinistischen Einheimischen Lutheraner) und verteidigte die Unabhängigkeit von Hessen. Dann kam eine Vorladung nach Berlin. In der Überzeugung, dass er eingekerkert oder sogar hingerichtet werde, verabschiedete er sich von seinen Gläubigen und fuhr in der Erwartung eines Märtyrertodes nach Berlin. Dort wurde er von Kaiser Wilhelm I. empfangen und mit einer Medaille für Mut und Patriotismus geehrt. Verwirrt kehrte er nach Wiesbaden zurück, seinen Reden hörte niemand mehr zu. Der Widerstand in Wiesbaden wurde durch diese eine Medaille gebrochen. Kaiser Wilhelm war einfach ein listiger Fuchs. Er wärmte nämlich sehr gern seine alten Knochen in den Thermen von Wiesbaden, er brauchte also die Ruhe und die Liebe seiner neuen Untertanen.
Das zweite imposante Gebäude auf dem Platz ist das Gebäude des neuen Rathauses, gebaut am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Neobarockstil. Im Rathaus befindet sich im Keller ein Restaurant „Ratskeller“, wo sich die Mönche aus dem bayerischen Kloster Achdechs eingenistet haben. Also natürlich nicht alle, sie öffneten hier ein Restaurant mit einer echten bayerischen Küche. Also für einen Calvinisten sicherlich eine Sünde, für einen Touristen ist der Besuch hier aber einer Sünde wert. Wie ich bereits mehrmals erwähnt habe, waren die Nassauer Calvinisten und wenn man die Möglichkeit hat, sollte man örtliche Spezialitäten lieber meiden. In Wiesbaden gibt es mehr als genug solche Möglichkeiten. Außer des bayerischen Gasthauses gibt es hier eine Menge italienische Restaurants, sogar das populäre Vappiano. In Wiesbaden kann man also trotz seiner calvinischen Vergangenheit sehr gut essen. Oder wenn man im interessanten Ambiente essen möchtet, bietet sich das Restaurant „Jagdschloss Platte“ im Gebirge Taunus in der Nähe der Stadt an.
Das ehemalige Jagdschloss der Herzöge von Nasau (gebaut von Herzog Wilhelm in den Jahren 1823 – 1826) wurde im zweiten Weltkrieg bis auf die Grundmauern zerstört. Eine Stiftung hat es bis zum Jahr 2007 restauriert, wobei aber die historischen mit modernen architektonischen Komponenten kombiniert wurden – der Ergebnis ist interessant und besuchswert.
Das dritte Gebäude auf dem Schlossplatz ist das ziemlich unauffällige „Stadtschloss“. Es ist die ehemalige Residenz, die in den Jahren 1837 – 1841 Nassauer Herzöge bauen ließen und wo heutzutage der hessische Landtag seinen Sitz hat.
Wiesbaden ist die Hauptstadt des Bundeslandes Hessen, obwohl es in diesem Land nicht die größte Stadt ist – das ist Frankfurt. (Frankfurt war nämlich nach dem Wiener Kongress eine freie Reichstadt und gehörte nicht zu Hessen). Wiesbaden ist eindeutig die reichste Stadt im Bundesland, nicht umsonst wird gesagt, dass das Geld, das man in Frankfurt verdient, in Wiesbaden ausgibt. Hunderte Luxusvillen in der Richtung vom Stadtzentrum in die Peripherie der Stadt, besonders im Stadtviertel Neroberg, legen von diesem Reichtum Zeugnis ab.
Am südlichen Stadtrand gibt es die auffällige St. Bonifatius Kirche. Es handelt sich um eine katholische Kirche, was hier ein Kuriosum ist. Katholische Gottesdienste waren in der Nassauer Grafschaft streng verboten, die Grafen von Nassau waren ständig mit dem mächtigen Gegner konfrontiert – mit dem Erzbischof von Mainz, der sie über den Fluss anstarrte und große Landesteile sogar auf dem rechten Rheinufer in ihrer direkten Nachbarschaft besaß. Es dauerte bis zum Jahr 1787, als der tolerante Fürst Karl Wilhelm katholische Gottesdienste erlaubte, vorerst nur im privaten Bereich. Im Jahr 1820 durften die Katholiken endlich ein Grundstück auf dem Luisenplatz kaufen und hier eine Kirche im neogotischen Stil bauen, die ihren Namen nach dem Heiligen aus dem benachbarten Mainz, dem ersten dortigen Bischof, dem heiligen Bonifatius, bekam.
Der Luisenplatz, der seinen Namen der Gattin des ersten Großherzogs von Hessen Wilhelm von Nassau verdankt, ist ein großes Rechteck. In seinem Zentrum steht ein Obelisk zu Ehre der gefallenen Soldaten, die in der Armee des Generals Wellington bei Waterloo kämpften und zur Napoleons Niederlage beitrugen. Das Zweite Denkmal mit einem auf den Hinterbeinen stehenden Pferd, das einen Besucher sogar mehr anzieht, ist neuer und ist dem Artillerieregiment Oranien aus dem ersten Weltkrieg gewidmet. Auf dem Luisenplatz vor der St. Bonifatius Kirche ist der Hauptverkehrsknoten – hier halten beinahe alle Buslinien, also wenn man irgendwohin in Wiesbaden mit dem Bus hinfahren möchte und nicht weiß, wo man einsteigen sollte, ist der Luisenplatz ein guter Tipp. Übrigens, unter dem Luisenplatz gibt es eine große Tiefgarage, also für die, die in die Stadt mit dem Auto kommen, ist es hier der beste Ausgangspunkt zum Kennenlernen der Stadt.