„Piazza dei Miraculi“, bedeutet „Platz der Wunder“. Wenn sich eine Stadt erlaubt, seinen Hauptplatz so zu benennen, fehlt es ihr sicher nicht am Selbstbewusstsein. Im Fall der Stadt Pisa ist dieses Selbstbewusstseins aber auch begründet. Ihr Platz mit der Kathedrale, dem Baptisterium und dem schiefen Turm gehört zu den bekanntesten, aber auch zu den schönsten, der Welt. Manchmal wird es auch „Campo dei Miraculi“ also Feld der Wunder genannt, dass ändert aber nichts an der oben genannten Tatsache.
Als ich Pisa das erste Mal in meinem Leben besuchte, es war im Jahr 1993 – noch mit dem Auto Marke Skoda 120, gab es kein GPS und ich irrte machtlos im Gewirr der engen Gassen und suchte ein Plätzchen, wo ich das Auto für einen kurzen Augenblick abstellen durfte um in den Stadtplan einen Blick zu werfen. Ich fand endlich so einen Platz, hielt an, aber noch bevor ich überhaupt den Stadtplan in die Hand nehmen konnte, stand neben meinem Auto ein italienischer Polizist und klopfte an mein Fenster. Als ich es aufmachte, voll Angst, dass ich irgendwo parke, wo das strengst verboten war, fragte er mich kurz: “Torre?“ und zeigte mit den Händen eine schiefe Ebene.
Ich nickte. „Torre.“ So erfuhr ich, dass ein Turm auf Italienisch „Torre“ hieß, über die Geste des Polizisten gab es keinen Zweifel. Er zeigte auf eine Ausfahrt aus dem Platz und sagte: „Questa direttione.“
Obwohl ich damals noch kein Wort italienisch verstand, war mir alles sofort klar und bald parkte ich in der Sichtweite des Wahrzeichens von Pisa ein. Der Polizist wusste, was los war. Was sonst hätte ein Exot in einem merkwürdigen Auto in Pisa gesucht?
Heute scheint es unglaublich zu sein, dass dieser berühmte Platz direkt am Meer stand, genauer an der Mündung des Flusses Arno ins Meer. Heute trennt es zehn Kilometer Pisa vom Meer, so viel Boden konnte in der relativ kurzen Zeit von tausend Jahren der Fluss Arno anschwemmen. Gerade diese Anschwemmungen waren der Grund für den Untergang der stolzen Stadt, die im Frühmittelalter eine echte Großmacht war, viel wichtiger und mächtiger als das damals noch bedeutungslose Florenz. Pisa war eigentlich einer der vier wichtigsten „Meeresrepubliken“ (Pisa, Genua, Venedig und Amalfi). Neben dem Hinterland in der Toskana gehörten ihr auch die Inseln im Tyrrhenischen Meer, seit Anfang 11. Jahrhundert Korsika und seit 1052 auch Sardinien. Der Hauptgegner waren die Sarazenen, also Araber, die 1004 Pisa sogar einmal überfallen und geplündert haben. Sie sollten es lieber nicht tun, die verärgerten Pisaner waren ihnen dann eine Nummer zu groß. Die Stadt ging in eine Gegenoffensive über und vertrieb die Araber aus „ihrem“ Meer.
Gerade in dieser Zeit der Blüte und des Reichtums begann die „Piazza dei Miraculi“ zu entstehen. Der Grundstein für die Kathedrale wurde im Jahr 1063 gelegt und im Jahr 1174 wurde sie geweiht. Der Bau des Baptisteriums wurde im Jahr 1152 gestartet und die Campanile, also der Turm, der Pisa weltweit berühmt machen sollte, folgte im Jahr 1173. Es gibt hier noch den „Campo Santo“, also „Das heilige Feld“.
Das entstand dadurch, dass die Kreuzfahrer (genauer gesagt der Erzbischof Ubaldo Lanfranchi, der an dem verbrecherischen vierten Kreuzzug, der mit Eroberung von Konstantinopel und Vernichtung von Byzanz endete, teilgenommen hat) hierher Erde aus Jerusalem, (angeblich direkt vom Berg Golgota) gebracht haben, um hier in der heiligen Erde die bedeutendsten Bürger der Stadt Pisa begraben zu können. Die Erde schafft es angeblich binnen einigen Tagen den Leichnam in ein kahles Skelet umzuwandeln, also bin ich mir nicht sicher, welchen Stoff hier die Kreuzritter beigemischt haben. Der Friedhof ist überraschend monumental mit einer Kirche mit vergoldeter Kuppel in der Front und hohen Bögen auf den Seiten, die sich anscheinend nicht entscheiden können, ob sie sich noch im Stil der Gotik oder schon der Renaissance präsentieren möchten. Natürlich findet man in den Kolonnaden auch viele Statuen berühmter Persönlichkeiten und Sarkophage aus römischen Zeiten.
Aber zurück zur Kathedrale.
Der Architekt Buschetto mischte den frühchristlichen Stil mit Byzantinischem, Lombardischem und Arabischem, ergänzte das alles mit einigen antiken Elementen und es entstand ein neuer spezifischer Stil, so genannter pisanischer romanischer Stil, nach dem man dann nicht nur in der gesamten Toskana, sondern auch auf Sardinien, Kirchen baute. Imposant wirkt der Wechsel des dunkelgrünen und sahneweißen Marmors, das gefiel den Italiener so lange, dass in diesem Stil noch am Ende neunzehnten Jahrhunderts der Architekt Maccicini sein „Cimitero monumentale“ in Mailand baute. Es ist nämlich wirklich schön. Was der Kathedrale von Pisa ihre Eigenartigkeit gibt, sind vier Säulengallerien in der Fassade, es geht um eine wirklich beeindruckende Schöpfung, wenn wir bedenken, dass bei uns im Mitteleuropa damals gerade erste Rotunden gebaut wurden, nicht zu groß, damit sie nicht einstürzten. Bronzetüre aus der gleichen Zeit findet man im Querschiff der Kathedrale, in der Hauptfassade gibt es eine Tür aus dem sechzehnten Jahrhundert, weil die ursprüngliche holzende bei einem Feuer verloren gegangen ist. Dieses Feuer ist auch der Grund, warum die Kirche in ihrem Inneren überwiegend im Renaissancestil inklusiv einer prächtigen vergoldeten Kassettendecke ausgestattet ist. Es stört nicht, der romanische Stil verträgt sich mit der Renaissance sehr gut. Fünf Schiffe sind dann halt fünf Schiffe, das verleiht jeder Kirche ihr imposantes Aussehen, die Schiffe sind durch antike Säulen voneinander getrennt, die Seeleute von Pisa als Kriegsbeute in die Stadt brachten. Übrigens, die Bögen zwischen den Säulen können sich wieder einmal nicht entscheiden, ob sie romanisch oder arabisch aussehen möchten, es ist etwas dazwischen und damit wieder einmal einfach pisanisch. Was mit dem Rest der Kirche nicht übereinstimmt, ist die Kanzel. Es ist eine wunderschöne Kanzel mit beinahe filigranen Reliefs aus dem alten und neuen Testament, stehend auf den Säulen aus Porphyr – aber gotisch. Sie passt einfach in die wunderschöne romanische Kirche nicht wirklich, aber ich war gern bereit, es ihr zu verzeihen.
Das Baptisterium steht getrennt vor dem Hauptportal und es ist ein ganz anderes Kapitel.
Mit dem Bau wurde bereits im Jahr 1152 begonnen, der Bau musste aber aus finanziellen Gründen unterbrochen werden. Heute kann man „Gott sei dank“ sagen. Die Tatsache machte es nämlich möglich, dass die Fortsetzung des Baus im Jahr 1260 Nicolo Pisano übernehmen konnte, einer der größten Künstler der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, ein Schüler der „Scuola nuova siciliana“ und damit ein Vorläufer der Renaissance. Neben dem Projekt des Baptisteriums, das mit einer Statue des heiligen Johannes des Täufers auf seiner Kuppel im Jahr 1395 finalisiert wurde, schuf Nicolo Pisano auch die Kanzel. Mit Reliefs mit den Bildern aus dem Leben Christi. Mit einem Adler, auf dessen Flügeln sich das Lesepult für den Priester befindet. Gleich wie in der Kathedrale. Es dauerte ein bisschen, bis ich entdeckt habe, dass der Adler das Wappentier der Stadt war. Das Wahrzeichen der Stadt ist aber der „Torre“ also der Turm – Glockenturm, Campanile, wie man ihn nennen möchte. Ein absolut eigenartiger Glockenturm, weil er schief ist. Das Problem war die unzureichende Inspektion des Unterbodens an der Stelle, wo Pisaner den Turm bauen wollten. Wie ich schon sagte, die Stadt stand am Ufer des Flusses Arno, auf seinen Sandanschwemmungen. Schon während des Baus begann sich der Turm auf dem instabilen Boden zur Seite zu neigen, die Pisaner bekamen ein bisschen Angst und sie brachen den Bau im Jahr 1185 ab. Dann aber gewann doch der Stolz, sie passten die Achse des Turmes an und beendeten den Bau.
Der Turm neigte sich aber weiter und im zwanzigsten Jahrhundert drohte bereits der Einsturz, man durfte also EINIGE Jahrzehnte den Turm nicht besteigen. Die Rettung des Turmes war eine schwere Arbeit. Er bekam zuerst eine Art Sicherheitsgurt und auf der nördlichen Seite wurden sieben Kubikmeter des Bodens entfernt. Es gelang den Turm um 43 cm aufzurichten und so die Neigung zu erreichen, die der Turmachse aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entsprach. Man darf also den Turm wieder besteigen. Es führen drei hundert Stufen hinauf, der Aufstieg ist aber lediglich für schwindelfreie Personen geeignet. Es ist nämlich ein eigenartiges Gefühl, wen man auf der nördlichen Seite des Turmes steht und der Boden unter den Füßen weg ins NICHTS läuft. Der Turm ist auf der nördlichen Seite 56,6 Meter hoch, auf der südlichen Seite aber nur 54,25 Meter. Es ist ein unwiederholbares Erlebnis, besonders abends. Ein Blick auf Pisa von oben, wenn man sich schon an die ungewöhnliche Situation mit der abfallenden Plattform gewöhnt hat, ist wunderschön. Obwohl die Medici, nachdem sie Pisa erobert und ihrem florentinischen Imperium angeschlossen hatten, ein Großteil der Altstadt niedergerissen und durch neue Boulevards ersetzt haben. „Piazza die Miraculi“ bleibt das Symbol des ehemaligen Ruhms und Reichtums des alten Pisas.
Nichts dauert aber ewig, nicht einmal der Wohlstand der Stadt Pisa. Das Meer entfernte sich von der Stadt mehr und mehr, die Hegemonie über die Meere musste die Stadt an Genua abgeben. Genua vertrieb Pisa aus Korsika (Sardinien mussten sich diese beiden Mächte ohnehin von Anfang an teilen). Eine echte Tragödie war für die Stadt das Aussterben des Stammes der Hohenstaufen auf dem kaiserlichen Thron. Pisa war, in Gegenteil zu seinen ewigen Rivalen Florenz und Lucca, immer fest auf der Seite der Ghibellinnen, also auf der Seite des Kaisers. Nach dem Jahr 1268, als der letzte Staufer Konradin hingerichtet wurde, wurde die Lage der Stadt immer bedenklicher und im Jahr 1284 erlitt Pisa eine vernichtende Niederlage in der Seeschlacht bei Meloria gegen Genua. Die Zahl der gefangenen Pisaner war so riesig, dass ein Spruch aus dieser Zeit sagte, wenn man einen lebenden Pisaner sehen möchte, muss man nach Genua fahren. Anschließend verfiel die Stadt in einen Bürgerkrieg und der ganze Ruhm war dahin. Auf dem Festland wurde Florenz stärker und stärker und nach langen Kämpfen mit wechselhaften Ergebnissen gliederte es Pisa im Jahr 1406 definitiv in sein toskanisches Imperium ein. An diesen bösen Moment erinnert der Löwe auf den Mauern der „Piazza die Miraculi“ – es handelt sich um einen florentinischen Löwen, den die Eroberer auf den Mauern bauen ließen und die Bürger von Pisa mussten dem verhassten Symbol den Hintern küssen. Der Löwe hat den Adler besiegt.
Außer der „Piazza dei Miraculi“ gibt es in Pisa nicht so viel zu sehen, aber wenn man sucht, dann findet man auch. Suchen bedeutet aber „suchen“ im wahren Sinne des Wortes. Pisa steht in der Ebene und im Gewirr der Gassen ist die Orientierung nicht gerade einfach. Das wirkliche Stadtzentrum war die „Piazza dei Cavallieri“. Hier stehen zwei (eigentlich drei) interessante Gebäude. Im älteren „Palazzo dell´Orologio“ mit dem Uhrturm wurde Herzog Ugolino delle Gherrardesca im Jahre 1288 mit seinen Söhnen und Enkelsöhnen durch Hunger zum Tode gequält, da ihm die Pisaner die Schuld für die katastrophale Niederlage bei Melorie, die ihre Übermacht am See beendet hat, zugeschrieben haben.
Das schönste Gebäude ist der „Palazzo dei Cavallieri“, ein monumentales Gebäude im Stil der Renaissance, gebaut von Giorgio Vasari mit wunderschönen Sgraffiti auf der Fassade. Das dritte Gebäude ist die Kirche „Chieza di Santo Stefano dei Cavallieri“, die ebenfalls ein Werk von Vasari ist. Die Kirche und der Palast waren der Sitz des Ordens des heiligen Stephans, der von Cosimo I. Medici gegründet wurde, als dieser zum Großherzog von Toskana aufstieg.
Es gibt in Pisa wie in jeder italienischen Stadt mehr als genug Kirchen. Eine davon ist aber Pflichtprogramm, ein herrliches Kirchlein am Ufer des Arnos „Santa Maria dell Spina“. Es ist winzig klein, aber wunderschön. Eine Hochgotik mit vielen Türmchen und Fassadenschmuck, trotzdem gibt es hier zumindest auf den Bögen über der Tür (Türen gibt es hier zwei, obwohl immer nur ein geöffnet wird) die typische pisanische Kombination des dunkelgrünen und sahnenweißen Marmors – die Bögen sind natürlich im romanischen Stil. Wie sonst in Pisa? Den Namen hat das Kirchlein von einem Dorn der Dornkrone Christi erhalten, der hier als heilige Reliquie aufbewahrt wird.
Natürlich, wenn man Zeit und Lust hat, darf man durch die Gässchen der Altstadt bummeln. Die einmal reiche und große Stadt schrumpfte im siebzehnten Jahrhundert auf knappe 3000 Einwohner. Aus der berühmten Epoche ist hier noch die Kirche der heiligen Katharina, der „Palazzo dei Medici“, das Kloster der Benediktiner „San Matteo“, wo heute das Nationalmuseum mit den Bildern und Statuen lokaler Künstler untergebracht ist – das wertvollste Stück ist der Reliquienschrein des heiligen Lussorius von Donatello.
Also wie überall in Italien ist auch in Pisa viel zu sehen, aber der „piú bella piazza del mondo“ also dem schönste Platz der Welt, kann nichts in der Stadt das Wasser reichen.
Wunder sind einfach Wunder und die sind nicht wiederholbar.