Im Jahr 1240 griffen mongolische Horden Kiew an. Sie zerstörten die Stadt und zogen weiter nach Westen. Sie vernichteten das polnische Heer bei Legnica und das ungarische Heer bei Mohi. Der polnische Herzog Heinrich konnte sich vor dem Tod auf dem Schlachtfeld nicht retten, der ungarische König Bela IV. hat es dank seiner unglaublichen Tapferkeit geschafft. Das mongolische Heer verbreitete Angst und Schrecken, mordete Zivilisten, ganze Landstriche blieben entvölkert. Durch diese Taktik wollten sie den Widerstandwillen der Gegner brechen und diese Taktik ging meistens auf.

Um knappe acht hundert Jahre später sind diese Horden wieder gekommen. Sie stehen wieder von Kiew, wie ein ewiges Memento mori. Sie verwenden die gleiche Taktik der Einschüchterung und der Gewalt. Das Leben ist in ihrem Denken nichts wert. Die Mongolen haben zwar inzwischen ihre Kultur und Sprache verloren, die Gene sind aber immer noch da, die sie in die slawische Bevölkerung des europäischen Ostens eingepflanzt haben. Das Denken ist gleichgeblieben – sich mit Gewalt zu nehmen, was ich selbst nicht erzeugen kann. Die modernen Mongolen sprechen heute russisch.

Ich bete für die Ukraine. Ich bete dafür, dass sie diese Horden aufhalten kann und sie nicht in Europa rein lässt, wie es in dem Jahr 1240 passiert ist.

Wir alle beobachten die heldenhafte Abwehr der Ukrainer gegen die schreckliche Übermacht der russischen Truppen, die ohne Grund in ihr Land eingedrungen sind. Männer melden sich freiwillig, um auf die Russen schießen zu dürfen, obwohl sie wissen, dass sie in der absoluten Mehrheit sterben werden, ohne einen Feind töten zu können.

Es ist faszinierend und es treibt eine Angst an. Ich gestehe, dass ich seit einer Woche sehr schlecht schlafe, weil mich die Gedanken wecken, was gerade in Kiew passiert. Ich bewundere ukrainische Männer, die bereit sind, für ihr Land zu sterben. Gleichzeitig frage ich mich, wie es möglich ist? Warum kam nicht das afghanische Szenario in Gang, mit dem Vladimir Putin und seine Nächsten offensichtlich gerechnet haben? Nämlich, dass die ukrainische Armee widerstandlos die Waffen niederstrecken würde, beziehungsweise die russisch sprechenden ukrainischen Einheiten auf die russische Seite überlaufen würden. Diese Erwartungen erfüllten sich nicht. Die Apelle Putins an die ukrainische Armee, den demokratisch gewählten Präsidenten zu stürzen und die Macht zu übernehmen, wurden von der ukrainischen militärischen Führung ignoriert. Die Ukrainer kämpfen und sterben und verursachen der Führung in Kreml Kopfweh und Wutanfälle. Die in Russland präsentierte Darstellung des armen ukrainischen Volkes, das von den neonazistischen Gruppierungen in Namen Banderas terrorisiert wird und auf die russischen Befreier wartet, kann man immer schwerer sogar vor dem eigenen manipulierten Volk verteidigen.

Woher kommt aber dieser Widerstandwille der Ukrainer? Mit dem historisch bedingten Hass zwischen diesen zwei Nationen zu argumentieren ist zu kurzsichtig. Natürlich, die Ukrainer haben den Terror Stalins nicht vergessen, die derzeitigen Ukrainer haben es aber nicht erlebt. Der Hass macht aus dem Volk keine Nation, dafür braucht man eine nationale Idee. Im Jahr 2014 war die Ukraine noch auf der Suche nach der eigenen Identität. Jetzt fand sie sie. Wie war es in so einer kurzen Zeit nur möglich?

Im Jahr 2014, also vor nur acht Jahren, gab es eine solche Identität noch nicht. Die Ukraine war ein gespaltetes Land zwischen europäischem Westen und asiatischem Osten ohne gemeinsame Geschichte oder Zusammengehörigkeitsgefühl.

Die Entstehung einer ukrainischen Nation ist nämlich das Werk des Vladimir Vladimirovic Putins. Zwar handelt sich um ein unerwünschtes Produkt seiner Politik, aber es ist so. Hinter dieser Tatsache gibt es gleich mehrere Faktoren:

  1. Noch im Jahr 2014 war der Lebensstandard in Russland höher als in der Ukraine. Menschen aus Charkiw fuhren über die Grenze nach Russland und verdienten sie dort mehr als zu Hause. Das war natürlich eine Motivation, um auf den großen Bruder mit Respekt zu schauen. Ähnlich war es auch in Österreich in den Dreißigern Jahren des vorigen Jahrhunderts, als Menschen nach Deutschland zur Arbeit fuhren und mit dem Geld aber auch mit der nazistischen Ideologie zurückkamen. In den letzten acht Jahren drehte sich aber die Situation um. Die Ukraine fing an sich langsam, aber doch aufwärts in der Sache des Lebensstandards zu bewegen, in Russland nahm die Entwicklung – auch in Folge der Sanktionen – die verkehrte Richtung. Russland als Arbeitsplatz verlor seine Attraktivität und es bietet nichts, was diesen Verlust kompensieren könnte.
  2.  Die Bevölkerung der separatischen Republiken Luhansk und Doneck erwartete von der Abspaltung von Ukraine Verbesserung ihres Lebens. Das erfüllte sich nicht. Anstatt dessen übernahmen die Macht in diesen Republiken Warlords des tschetschenischen Typus, Abenteuer mit Maschinengewehren um den Hals und von einer Demokratie gibt es dort nicht einmal einen Anschein. Die Bevölkerung dieser „Republiken“ verbesserte also ihr Leben in keiner Weise. Also es ist nicht gelungen, ein folgewürdiges Modell zu erzeugen, dem der Rest der Ukraine folgen möchte.
  3. Die russische Verherrlichung der imperialen Vergangenheit, vor allem aber die Wiederbelebung des Kultes Stalins konnte möglicherweise das Selbstwertgefühl der Russen, die mit immer schlechter werdender Lebensqualität zu kämpfen haben, erhöhen. In der Ukraine wirkte aber die Verherrlichung Stalins kontraproduktiv. Nur jetzt konnte man die Erinnerung an die Ermordung von Millionen Ukrainer oder an die aus Moskau gesteuerte Hungernot 1932/1933 und das russische social Engineering mit der Aussiedlung der Tataren von Krim in die Region von Kazan und mit der Besiedlung der Schwarzmeerküste mit Russen wieder lebendig machen. Je mehr die Russen Stalin verherrlichten, desto mehr wandten sich Ukrainer von ihnen ab
  4. Putin brachte die Unterdrückung der politischen Opposition zur Perfektion. Nicht nur durch das Verbot der unabhängigen Medien und Vertreibung der ausländischen gemeinnützlichen Organisationen. Der Mordversuch an Alexej Navalnyj und seine nachträgliche Verurteilung (eigentlich zu lebenslanger Haft) überschritt jede rote Linie. Die Russen demonstrierten der ganzen Welt die Unterwürfigkeit ihrer Justiz der politischen Führung gegenüber. Ihr Regime wurde aber dadurch nicht populärer, im Gegenteil, jetzt begann es den Schrecken zu verbreiten. Natürlich sollte die russische Justiz den Schrecken vor allem bei eigener Bevölkerung wecken, diese Wirkung überschreitet aber logisch auch die politischen Grenzen. Diese Entwicklung der brutalen Unterdrückung der politischen Opposition begann bereits im Jahr 2012, im Jahr 2014 war sie aber noch nicht so offensichtlich. Heute kann es nur ein Blinder nicht sehen oder jemand, der für seine Loyalität von Moskau bezahlt wird – ich denke, ob sich die FPÖ Führung gerade nicht angesprochen fühlt.
  5. Niemand mag, wenn jemand über ihn unverschämt lügt. Die Ukrainer konnten mit Erstaunen die immer aggressiver gelogene Argumentation der russischen Propaganda beobachten. Dass sie Nazisten sind, Antisemiten, die eine Genozid der ethnischen Russen betreiben. Mit diesen Lügen fütterte die russische Propaganda ihre Bevölkerung und die Ukrainer konnten sich gegen diese Lügen nicht wehren. Die Machtlosigkeit hat Hass zu Folge. Sie konnten sich ärgern, sie konnten einen Juden zu ihrem Präsidenten wählen – und sie taten es. Normale Russen hatten aber keine Möglichkeit, es zu erfahren.
  6. Der letzte Tropfen war dann Weißrussland. Als die Weißrussen gegen ihren Diktator aufgestanden sind, als sogar das weißrussische Staatsfernsehen sich weigerte, dem sadistischen Gangster Lukasenko zu dienen, als es schien, dass sein Ende die Frage von Stunden oder höchstens Tagen wäre, eilten die Russen zu Hilfe. Sie verstärkten den repressiven Apparat, sie lieferten loyale Redaktoren für das Fernsehen. Putin mag nämlich eine Idee der Satellitenstaaten, die von den vom Volk verhassten Diktatoren beherrscht werden. Die sich nur aus seiner Gnade an der Macht halten, weil sie sonst mit einem Strick um den Hals auf der ersten Laterne enden würden. Die Ukrainer konnten also aus der nächsten Nähe ihre eigene mögliche Zukunft beobachten. Also, was auf sie warten würde, wenn sie wirklich zu einem von Russland abhängigem Staat werden. Das Model Weißrussland ist für Lukasenko oder für Putin attraktiv, vielleicht auf für ihre OMON Leute, nicht aber für einen normalen Menschen. Der weißrussische Diktator mordete sogar auf dem ukrainischen Staatsgebiet – das Beispiel war Vital Schyschov. Es war eine klare Botschaft, was auf die Ukrainer warten würde, wenn sie von Russen beherrscht oder wenn sie vor ihnen in die Knie gehen würden. Putin hat sicher bereits einen solchen Diktator für die Ukraine gewählt. Ob es Viktor Janukowitsch oder der Oligarch Viktor Medvedschuk wäre. Ein Russe, geboren in Sibirien in der Krasnojarsk Region, er wurde in der Ukraine reich und stellt hier die russische fünfte Kolonne dar. Er sitzt derzeit im Hausarrest, er würde aber nicht zögern unter dem Schutz vom Kreml die Macht zu übernehmen und ein Lukaschenko ähnliches Regime zu führen. Nur diese Vorstellung reicht den Ukrainern, um zu Waffen zu greifen.

Ich bete täglich für die Ukrainer, dass sie ausharren können. Ich bete für die Kämpfenden, ich bete für die Leidenden, ich bete für die Kinder, die ihr zu Hause verlassen mussten, ohne zu wissen, warum.  Ich bete für die Einigkeit der Europäer, um den mongolischen Horden Stirn zu bieten. Der ukrainische Botschafter gab zu, dass er weinte, als er deutsche Minister um Hilfe bat und eine Antwort bekam „Ihr habt ein paar Stunden Existenz vor euch, es zahlt sich nicht aus, euch zu helfen.“ Inzwischen ist die Lage anders. Denkt auch Angela Merkel darüber nach, warum sie für den russischen Diktator lange Jahre eine unerklärbare Schwäche hatte? Ich bete darum, dass Putin, der im Falle einer Niederlage wirklich um sein Leben rennen würde, nicht zu den Massenvernichtungswaffen greift. Sein Status des Kriegsverbrechers ist schon fix, er hat also nichts zu verlieren, egal ob er Zehntausende oder Millionen ermorden würde. In Russland erfährt das ohnehin niemand.

Bei Kiew wird auch für Prag, Wien oder sogar Berlin oder Paris gekämpft. Der Ideologe Putins Alexander Dragutin spricht von einer neuen euroasiatischen Kultur, die die westliche ablösen und von Lissabon nach Wladiwostok reichen würde. Die Russen sind vorbestimmt, Europa zu retten und es von seiner Verdorbenheit und der Dekadenz zu befreien. Die Russen sind in seiner Vorstellung die letzten Erben der griechisch-römischen Kultur, die in Europa wiederhergestellt werden müsste.

Die österreichische politische Repräsentation hat die russische Aggression fast einheitlich verurteilt – mit Ausnahme FPÖ, aber das wundert wahrscheinlich niemanden. Herbert Kickl bewahrt dadurch die Chance, der österreichische Lukasenko zu werden.

Die Tapferkeit des ukrainischen Volkes muss man bewundern. Dimitrij Medvedev erklärte, dass Russland keine diplomatischen Beziehungen mit demokratischen Ländern braucht, wir können doch durch die Gewähre auf uns schauen. Diese Botschaft verstehen nur mehr die absoluten Dummköpfe nicht.

Die mongolischen Horden stehen vor Kiew. Wenn diese Stadt fällt, wer würde sie noch aufhalten?

       Übrigens, die mongolische Invasion im dreizehnten Jahrhundert beendete der Tod des Chans. Aber bis dahin hat der Kontinent furchtbar gelitten. Und die heutige Medizin ist viel besser als sie vor sieben hundert Jahren war. Die Lebenserwartung hat sich beträchtlich erhöht.

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