Wenn wir uns vorige Woche am linken Rheinufer in dem kleinen Land namens Rheinpfalz bewegt haben, überqueren wir heute den Fluss und besuchen wir das rechte Ufer. Zu meiner großen Überraschung gehört dieser Teil der historischen Pfalz nicht mehr zum Bundesland Rheinland-Pfalz, wie es historisch gehört hätte, aber zu Baden-Württemberg. Auch diese Tatsache symbolisiert den Untergang des ehemaligen reichen und mächtigen Reichsgebietes. Aber gerade in die ruhmreichen Zeiten möchte ich euch jetzt führen.
Ich möchte euch gerne zu einem historischen Spaziergang ins Zentrum der Pfalz einladen, nämlich in die Stadt Heidelberg. Diese am Fluss Neckar liegende Stadt versperrte den Weg von Rhein nach Osten und spielte deshalb eine strategisch wichtige Rolle. Sie wird für die schönste pfälzische Stadt gehalten, obwohl auch hier Franzosen im Jahr 1689 wüteten. Und wie! Gerade in Heidelberg ist ihr Toben am sichtbarsten und diese Spuren der Zerstörung verleihen der Stadt ein unvergleichbares Flair. Die riesige Festung, die über der Stadt emporragt, wird als die romantischste Ruine Deutschlands betrachtet und im neunzehnten Jahrhundert gab es kaum einen Dichter, der keine Verse unter den bedrohlichen Resten der einmal unüberwindbaren Mauern geschrieben und über die Liebe und die Vergeblichkeit des Seins gedichtet hätte. Ich gebe zu, dass ich selbst, als ich die Burg oberhalb der Stadt das erste Mal sah, sehr beeindruckt von ihrer Schönheit war, obwohl ich kein Dichter, sondern ein Prosaiker bin. Also schreibe ich jetzt anstatt eines Gedichtes einen Artikel. In der Burg von Heidelberg entstand nämlich die Idee es zu schreiben.
Zuerst aber einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Pfalz, um das heutige Heidelberg besser zu verstehen. Im Jahr 1214, also kurz nach Thronantritt des Kaisers Friedrich II. auf den römischen kaiserlichen Thron, kam die Familie der Wittelsbacher in den Besitz von Rheinpfalz. Friedrich II. nahm dieses Gebiet seinem Widersacher auf dem kaiserlichen Thron Otto IV. aus dem Stamm der Welfen weg und beauftragte mit der Verwaltung des Landes die Wittelsbacher, die seit 1180 in Bayern herrschten. Bayern wurde ihnen vom Friedrichs Großvater Friedrich Barbarossa geschenkt, der dieses Land dem Vater Kaisers Otto, Heinrich dem Löwen wegnahm – die Welfen und Staufen mochten sich einfach nicht und die Wittelsbacher (aber auch die österreichischen Babenberger) profitierten von diesem Streit. Sie haben einfach auf das richtige Pferd gesetzt. Während die bayerischen Wittelsbacher nach dem Tod Kaisers Ludwig IV. in sechs zerstrittene Linien zerfallen sind, stieg die rheinische Linie in ihrer Bedeutung. In der Goldenen Bulle Karls IV. aus dem Jahr 1356 wurden die Pfalzgrafen (nicht aber die bayerischen Herzöge) zu Kurfürsten, also zu Wählern der römischen Könige, ernannt. Diese waren sieben an der Zahl, im Westen war aber der pfälzische Kurfürst der einzige weltliche Fürst mit dem Wahlrecht (weitere drei westdeutsche Stimmen besaßen Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, im Osten des Reiches durften der tschechische König und die Herzöge von Sachsen und Brandenburg bei der königlichen Wahl ihre Stimmen abgeben.
Im Jahr 1386 wurde in Heidelberg eine Universität gegründet (die dritte Universität im deutschsprachigen Raum nach Prag und Wien). Lassen wir uns nicht irritieren – Karl IV. gründete die erste Universität in Prag als der römische, also der deutsche und nicht als der tschechische König und die Tschechen besaßen hier bei den Entscheidungen nur eine Stimme von vieren. Zu einer tschechischen Universität wurde die Prager Universität erst durch das Dekret von Kuttenberg aus dem Jahr 1410 – und dadurch verfiel sie in Bedeutungslosigkeit. Der erste Vortrag fand in Heidelberg am 18. Oktober 1386 vor 500 !!! Studenten statt. Zum Vergleich wurde für den ersten Jahrgang der Universität in Graz im Jahr 1586 ganze acht Studenten eingeschrieben. In Heidelberg las an diesem historischen Tage Magister Marsilius von Inghen über die Problematik der Logik. Die Universität in Heidelberg gelangte einen großen Ruhm und besonders in der Welt der Medizin ist sie berühmt bis heute. Ihre Bibliothek „Bibliotheca Palatina“ war weltberühmt, im Jahr 1623 schickte der bayerische Herzog Maximilian nach der Einnahme von Heidelberg im Rahmen des Dreißigjährigen Krieges dem Papst nach Rom 3600 Handschriften und 13 000 gedruckte Bücher und erhielt dafür vom erfreuten Pontifex als Gegenleistung 620 000 Gulden für den Kampf gegen die Ungläubige – gemeint waren natürlich die Protestanten. Nur ein Bruchteil dieses Schatzes kam nach den Napoleonischen Kriegen nach Heidelberg zurück, trotzdem zählt die Bibliothek an 2,5 Millionen Bände und unter ihnen gibt es auch Kopien der Handschriften, die sich seit 1623 im Original in Rom befinden.
Im Jahr 1400 wurde der Pfalzgraf Ruprecht sogar zum Römischen König gewählt (nach der Absetzung des unfähigen tschechischen Königs Wenzel IV., der sich aber bis zu seinem Tod geweigert hat, seine Absetzung anzuerkennen). Ruprecht herrschte zehn Jahre, er blamierte sich aber eher als er geherrscht hätte. Es gelang ihm zum Beispiel niemals, nach Rom zur kaiserlichen Krönung zu kommen, obwohl er das – in Gegenteil zu Wenzel – mehrmals versuchte.
Nach Ruprechts Tod im Jahr 1410 gründeten seine Nachkommen eine ganze Reihe von Nebenlinien und teilten das Gebiet der Rheinpfalz unter sich ein. Die Schönheit und die Pracht der Renaissancestadt Heidelberg kann man heutzutage an einem einzigen Haus, das das Jahr 1689 überlebt hat – es ist das Hotel „Zum Ritter“ – betrachten. Wenn man sich vorstellt, dass die meisten Häuser in damaligem Heidelberg ähnlich wie dieses Gebäude aussahen, muss man vor dem Wohlstand der damaligen Stadt den Hut ziehen.
Nach dem Jahr 1585, als Kurfürst Friedrich III. starb und die Vollmacht für seinen unmündigen Sohn Friedrich IV. sein Onkel Johann Kasimir übernahm, trat die Rheinpfalz zur Reformierten Kirche, also zum calvinischen Glauben, über. Es handelte sich um eine Tat mit katastrophalen Folgen. Vorerst für die pfälzische Küche – wohin einmal die Lehre von Calvin kam, ist das Essen irreparabel verdorben. In weiterer Folge störte dieser Wechsel das Gleichgewicht der politischen Kräfte im Römischen Reich, wo seit 1555 der vom Kaiser Ferdinand I. verhandelte und äußerst brüchige „Augsburger Frieden“ geherrscht hatte. Der Übertritt der mächtigen Pfalz in das calvinische Lager bedeutete eine bedeutsame Kraftverschiebung, was eine politische Spannung erzeugte und in weiterer Folge zur Gründung der Protestantischen Union und der Katholischen Liga und zur Vorbereitung einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden Lagern führte. Für die Pfalz war diese Entwicklung fatal. Nachdem Kurfürst Friedrich V. im Jahr 1619 gegen Ferdinand II. zum tschechischen König gewählt wurde, begann der Dreißigjähriger Krieg. Nach der Niederlage auf dem Weißen Berg bei Prag musste Friedrich nicht nur aus Prag flüchten, sondern die kaiserlichen Truppen besetzten auch sein Kernland, also die Pfalz mit Heidelberg. Gerade damals bemächtigte sich der bayerische Herzog Maximilian der berühmten pfälzischen Bibliothek und schenkte sie dem Papst in Rom, wo die Bücher bis heute geblieben sind. Im Jahr 1623 verlor Friedrich sein Land und die Kurfürstwürde, die an seinen fernen Verwandten, den rechtgläubigen und kämpferischen bayerischen Herzog Maximilian überging. Friedrich V. starb im englischen Exil im Jahr 1632 (er war mit der englischen Prinzessin Elisabeth Stuart, der Tochter des Königs James I. verheiratet). Nur nach dem „Westfälischen Frieden“, der im Jahr 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendet hatte, bekam sein Sohn Karl Ludwig sein Land und die Kurfürstenstimme zurück (seit diesem Jahr gab es anstatt sieben acht Kurfürsten – für eine Wahl also eine absolut unsinnige gerade Zahl). Der Hauptstamm der Wittelsbacher starb im Jahr 1685 mit dem Enkelsohn von Friedrich V. Karl Ludwig II. aus und die Macht ging auf die Nebenlinie Pfalz-Neuburg über, die aber leider katholisch war. Diese Tatsache weckte in den calvinistischen Untertanen ein Misstrauen gegen ihren neuen Herrscher. In diesem Moment roch der französische König Ludwig XIV. seine Chance, da er sich immer die französische Ostgrenze am Rhein wünschte und er eröffnete im Namen seiner Schwägerin Liselotte (Schwester des verstorbenen Karl Ludwig und Gattin des Bruders von Ludwig), Prinzessin von Orleans, den Krieg um das Pfälzische Erbe.
Im November 1688 nahmen französische Truppen Heidelberg ein. Im Jahr 1693 mussten sie die Stadt räumen und Ludwig XIV. entschloss sich, verbrannte Erde zu hinterlassen. Alle besetzten deutschen Städte sollten vernichtet und dem Boden gleich gemacht werden. In Heidelberg verhielten sich die Franzosen ähnlich wie Deutschen in Warschau im Jahr 1944. Unter jedem Haus wurde Sprengstoff gelegt und ein Haus nach dem anderen in die Luft gejagt. (Nur unter dem Haus „Zum Ritter“ explodierte der Sprengstoff wahrscheinlich in Folge einer technischen Panne nicht). Die meiste Arbeit kostete die Soldaten des französischen Sonnenkönigs die Burg, die über der Stadt emporragte. Der Palast und alle Wehrtürme wurden mit Schießpulver gefüllt und dann gesprengt, manche der Türme mit bis zu sieben Meter dicken Mauern mussten sogar mehrmals gesprengt werden. Das Ergebnis dieser Mühe war die Entstehung der monumentalen Ruine, die im neunzehnten Jahrhundert alle deutschen Romantiker anzog wie die Motten das Licht. Das Schloss von Heidelberg wurde zur romantischsten Ruine Europas und möglicherweise auch weltweit erklärt. Es ist nicht verkehrt. Die Burg aus rotem Sandstein ragt hoch über die Stadt empor (man kann sie zum Fuß oder mit der Seilbahn erreichen) und ist gigantisch. Es gibt Führungen durch die Ruine, die Guides können aber nicht viel zeigen. In der Burg gibt es dafür ein interessantes Museum der Pharmazie (in dem ich das erste Mal wirklich ordentlich in Kontakt mit dem Gründer der modernen Medizin Paracelsus kam), gigantische Weinfässer und auf den Resten der Fassade des Palastes gibt es Statuen pfälzischer Herzöge vom Bildhauer Sebastian Götz. Dass die Reihe mit dem Kaiser Karl dem Großen beginnt, kann man nur dadurch erklären, dass sich Götz sein Honorar verdienen wollte, der letzte in der Reihe rechts ganz unten ist der Vater des tschechischen „Winterkönigs“ Friedrich IV. Dann kamen die kaiserlichen Truppen des Generals Tilly und die pfälzische Idylle war dahin.
Auch das Museum in der „Alten Universität“ ist eines Besuches wert. Besonders die „Alte Aula“ ein Festsaal, die zu besonderen Anläsen und auch als Konzertsaal dient. Natürlich sind alle Gebäude der „Alten Universität“ bei Wiederaufbau der Stadt nach dem Jahr 1693 entstanden, die „Alte Aula“ hat ihr heutiges Aussehen im Jahr 1886 anlässlich der Fünfhundertjahrfeier der Gründung der „Ruperto Carola Universität“ nach Plänen von Josef Durm bekommen. Interessant – zumindest für mich als Mediziner – sind im Museum medizinische Exponate und man sollte nicht vergessen, den „Studentenkarzer“ zu besuchen. Es ist ein Gefängnis, wo Studenten für ihre Verstöße gegen die öffentliche Ordnung Buße tun mussten und diese Verstöße gab es mehr als genug. Weil sich die jungen Insassen dort langweilten und kreativ waren, ist der ganze Karzer mit ihren möchtegern künstlerischen und witzigen Werken bekritzelt.
Die Stadt selbst hat ihren Charme, besonders beim Blick von der Burg bei untergehender Sonne. Nach seiner Zerstörung wurde Heidelberg nicht mehr als eine Residenzstadt aufgebaut (Kurfürst Karl Philipp hatte von Streitigkeiten seinen katholischen und protestantischen Untertanen die Nase voll, weil sie sogar in der Mitte der städtischen Kathedrale (die auch der Vernichtung von Franzosen entging) eine Mauer bauten, damit sie sich gegenseitig nicht sahen und getrennt beten und Messen lesen konnten (diese Mauer blieb bis zum Jahr 1936). Der Kurfürst verlegte im Jahr 1720 die Hauptstadt der Pfalz in das nahegelegene Mannheim. Gerade deshalb ist Heidelberg eine junge Stadt, eine Studentenstadt und damit auch wirklich lieb.
Für die Besucher, die Romantik nicht wirklich mögen und brauchen, gibt es in Heidelberg die längste Einkaufsmeile in Deutschland – sie ist sechs Kilometer lang und führt direkt durch die Mitte der Stadt.
Wie bereits gesagt, im Jahr 1720 wurde die Residenzstadt der pfälzischen Kurfürsten nach Mannheim verlegt und dort beenden wir unseren Ausflug in die Rheinpfalz. Die Stadt entstand oder besser gesagt, erhielt die Stadtrechte, bereits im Jahr 1607, als der Vater des Winterkönigs Friedrich IV. auf dem Rheinufer die Festung Friedrichsburg zu bauen begann. Bei der Festung gründete er eine Stadt und weil er ein begeisterter Mathematiker war, ließ er die Straßen der neuen Stadt in rechten Winkeln bauen und anstatt den Straßen Namen zu geben, bezeichnete er die so entstandenen Quadrate mit den Buchstaben A bis U und Nummern eins bis sieben. Also man wohnt nicht in einer nach einem bekannten Politiker oder Künstler benannten Straße, sondern im Quadrat A1 oder zum Beispiel D6. An die gleiche Weise wird man zu unterirdischen Parkhäusern oder zu einzelnen Geschäften geführt. Die Hälfte der Altstadt wurde nämlich zu einem gigantischen Einkaufzentrum verwandelt. Das geschah in den Quadraten L1 bis U7. Die Quadrate A bis K behielten doch einen Hauch der Ursprünglichkeit und man kann dort sogar wohnen. Es ist ein praktisches System. Wenn man im Quadrat M5 parken soll und auf der vierten Straße fährt, ist es klar, dass man einfach abbiegen und um eine Straße weiter fahren muss. Einen Stadtplan braucht man nicht. Das einzige Chaos kann die Tatsache verursachen, dass die Nummer in der Mitte beginnen, die Nummer eins ist also links sowie auch rechts von der Hauptstraße, die direkt in der Mitte eines monumentalen Barockschloss endet (Zwischen den Quadraten A1 und L1). Mannheim behielt dieses System der Quadrate bis heute, nennt sich stolz „Quadratenstadt“ und lockt durch diese Kuriosität die Touristen an. Es hat nämlich im Vergleich mit anderen pfälzischen Städten nicht so viel zu bieten.
Eigentlich nur einen wunderschönen großen Park um den Wasserturm (Friedrichsplatz), ein großes Kongresszentrum „Rosengarten“ und das große Kurfürstenschloss am Rheinufer (angeblich das größte Barockschloss in Europa mit 440 Meter langer Fassade). Das Schloss ist von außen ein Beispiel des Hochbarocks, innen dann halb Rokoko und halb in Empirestil. In den Jahren 1806 – 1811 residierte hier nämlich das Ehepaar Großherzog von Baden Karl und seine Frau Stephanie de Beauharnais (eine Verwandte der Napoleons Gattin Josephine). Diese Dame kehrte im Jahr 1818 nach Mannheim zurück und ließ einen Flügel des Schlosses im damals modernen Stil des Empires einrichten. In der Zeit der Großherzogwitwe Stephanie erlebte das Schloss seine ruhmreichste Epoche.
Bereits im Jahr 1778 verlegte aber Kurfürst Karl Theodor die Hauptstadt seiner Länder nach München und Mannheim sowie auch die ganze Rheinpfalz verloren ihre politische Bedeutung. Der Verfall ist so weit gegangen, dass das Land letztendlich zwischen zwei Bundesländer aufgeteilt wurde, wobei die Grenze ganz einfach der Fluss Rhein bildet.
Zum Schluss nur eine Warnung. Wie überall in der Welt kann man auch in der Rheinpfalz essen. Ich möchte aber auf diesem Wege eindringlich vor örtlichen Spezialitäten warnen. Ich probierte sie auch und es hätte mich fast das Leben gekostet. Damals habe ich noch nicht gewusst, was der Kurfürstonkel Johann Kasimir mit seinem Übertritt zu reformierter Kirche verbrochen hat. Wie ich meinem Artikel „Calvin ist an allem schuld“ geschrieben habe, muss man lokale Spezialitäten in den Ländern, wo dieser Glauben einmal Fuß fasste, unbedingt meiden. Versuchen Sie eine aufgewärmte und gewürzlose Ente zu essen. Ich habe es versucht. Versuchen Sie das nicht nachzumachen!
Also – guten Appetit und schöne Reise!