Pavia ist eine unauffällige kleine italienische Stadt (mit ca. 70 000 Einwohner), die sich in der Nähe ihres riesigen Nachbars  – Mailand – duckt, sie verdient sich aber dank ihrer Geschichte und auch wegen ihrer Schönheit mehr Aufmerksamkeit.

Pavia existierte bereits in den römischen Zeiten unter dem Namen Ticinum, damals wurde über den Fluss Ticino die erste Steinbrücke gebaut. Ihr Ruhm begann mit dem Niedergang des Römischen Reiches, als sie zuerst eine der Hauptstädte des Ostrogotenreiches (neben Verona) wurde und danach die Hauptstadt der Langobarden, die sie im Jahr 572 nach dreijähriger Belagerung einnahmen.

Als ich den Fremdenführer Marco in der Kirche San Michele fragte, warum der Häuptling der Langobarden Alboin, der auch zum ersten König dieses Volkes werden sollte, für seine Hauptstadt gerade Pavia und nicht zum Beispiel das nahe Mediolanum ausgewählt hatte, antwortete dieser: „Das ist doch ganz klar.“ Als er dann meinen überraschten Blick bemerkte, ergänzte er seine Aussage versöhnlich: „Natürlich aus dem Blick eines Einwohners von Pavia.“ Marco war einfach „Il patriota locale.“

Seine Argumente hatten allerdings Kopf und Fuß. Erstens, die Langobarden selbst mussten um die Stadt drei Jahre lang kämpfen. Das musste sie logischerweise auf die Idee  bringen, dass diese Stadt gut zu verteidigen war. (Das bewies sich zwar als wahr, trotzdem aber kapitulierte die Stadt letztendlich nach neunmonatiger Belagerung durch Truppen von Karl dem Großen im Jahr 774). Zweitens hatte die Stadt genug Wasser, da der Fluss Ticino aus dem Laggo Maggiore entspringt und  nie austrocknet. Noch dazu hatte sie immer sauberes Wasser, weil der See wie ein riesiges Filter funktionierte und sogar in der Zeit von Schneetau oder Regenfälle ließ er kein Schlamm in den Fluss kommen. Und drittens liegt die Stadt nahe der Mündung von Ticino in den Fluss Po. Die Stadt war also für Schiffe aus Venedig gut erreichbar und diente als eine Umlagestelle für die Waren, in erster Linie für das naheliegende Mailand.

Auch die Religion könnte eine bestimmte Rolle gespielt haben. Langobarden waren, wie die Mehrheit der germanischen Stämme (mit Ausnahme Franken), Arianen und in einem großen Mailand, das unter dem Einfluss seines ehemaligen Bischofs und Heiligen Ambrosius stand, hätten sie wahrscheinlich größere Probleme beim Durchsetzen ihres Glaubens gehabt als im kleineren Pavia. Sie selbst waren absolut tolerant. In der Stadt gab es eine arianische und eine katholische Kirche, so wie auch in allen anderen Städten ihres Reiches. Den Glauben der eigenen Untertanen unterdrückten die Langobarden nicht. Der arianische Glaube war für sie aber immer wieder ein guter Vorwand, Rom als Zentrum des „falschen“ Glaubens zu überfallen und auszuplündern. Als Rom in der Mitte des siebenten Jahrhunderts ihren Angriff das erste Mal abwehren konnte, traten sie zum katholischen Glauben um. Ein weiteres Beharren auf der Lehre des Arianos verlor damit nämlich an Bedeutung.

Und der nächste und wichtigste Grund für die Wahl von  Pavia zur Hauptstadt des Reiches, war die Tatsache, dass Pavia bereits in den römischen Zeiten ein Zentrum der Bildung war. Hier wurden Beamte für die Reichsverwaltung ausgebildet und diese Funktion behielt die Stadt auch in den Zeiten der Herrschaft der Germanen.

Langobarden unterstützten die Bildung. Sie selbst bildeten in der Gesellschaft nur eine dünne Oberschicht, sie mussten sich also auf die Zusammenarbeit  mit der lokalen römischen Bevölkerung verlassen (nur die Adelsschicht rotteten sie erbarmungslos aus). Aus ihrer Sprache blieb im Italienischen nicht viel, vielleicht nur das Wort für Bier  – Birra –  das ist aber genug, den dieses Wort ist natürlich bei weitem nicht unbedeutsam. Die Administrative in ihrem Reich stützte sich auf Latein und in diese Sprache wurde auch in Pavia unterrichtet. Die Universität besteht hier bis heute. Bei 70.000 Einwohnern der Stadt, studieren hier 25.000 Studenten, was der Stadt ein erfrischendes Bild der Jugend verleiht. In der Nacht wird hier sehr intensiv gefeiert. Die Universität befindet sich in einem riesigen Gebäudekomplex mitten im historischen Stadtkern und bildet hier eigentlich ein eigenes Stadtviertel. Die berühmtesten Absolventen dieser Hochschule waren Alessandro Volta, der Erfinder der elektrischen Batterie (seine Statue steht im Atrium der Universität) und angeblich auch Christoph Columbus (seine Statue suchte ich aber vergeblich).

Marco behauptete, dass die Universität von Pavia die drittälteste Universität in Italien, hinter Bologna und Padua sei. Als ich ihn auf die Universität von Neapel aufmerksam gemacht habe, widersprach er heftig. Er war einfach „Il patriota locale“, angetan von Dingen in seiner Stadt. Das Argument, dass die Gründungsurkunde der Universität aus dem  Jahr 1361 stammte, lehnte er entschieden, als einen Trick des Mailänder Herrschers Gian Galeazzo Visconti, ab. Marcos Meinung nach wollte dieser für sich den Ruhm als Universitätsgründers beanspruchen, als er im Jahr 1360 Pavia eroberte und seinem Herrschaftsbereich angeschlossen hat. Eine Hochschule war hier allerdings schon lange vorher. Übrigens beim Eingang in die Universität wird als erster Gründer der Schule Kaiser Lothar bezeichnet, der in den Jahren 795 – 855 lebte. Wer will, kann dies glauben.

Aber zurück zu den Langobarden. Auf diese Epoche ist Pavia zu Recht stolz. In der Burg Castello Visconteo war im Jahr 2017 eine wunderbare Ausstellung, wo die Welt der Germanen beeindruckend, inklusiv der Bedeutung von Bildung in ihrem Leben, dargestellt wurde. Sie waren also keine Barbaren aus dem Norden (sie kamen aus der Region Panonie und verweilten einige Zeit auf dem Gebiet von Österreich und Mähren) und wenn, dann nur am Anfang ihres Wirkens in Italien. Um die Bedeutung der Bildung und der Schulen in der Stadt zu betonen, kaufte König Liutprand (er herrschte in den Jahren 712 – 744) von den Arabern Knochen des heiligen Augustinus, eines der wichtigsten Heiligen, die sich in Cagliari auf Sardinien befanden und übertrug sie nach Pavia, wo sie heute in der Kirche San Pietro Ciel d´Oro aufbewahrt werden. Natürlich ist die Kirche ein Teil des Klosters des Ordens der Augustiner. Der Heilige Augustin arbeitete das erste komplexe philosophisch-theologische System des christlichen Glaubens, das sich auf Novoplatonismus stützte, aus, und gilt als  „Lehrer der Kirche“. Augustin war vor seiner Konversion zum Christentum ein Universitätsprofessor in der Stadt Hippo, im heutigen Tunesien und verstarb in dieser Stadt im Jahr 430 während der Belagerung durch Vandalen. Damit ist seine symbolische Bedeutung für die Bildung unbestritten. Um dieses Symbol noch weiter zu stärken, ließ er aus Rom die Überreste von Böethius, des letzten großen römischen Philosophen, der in der Zeit der Herrschaft des Ostrogotenkönigs Theodorich des Großen hingerichtet worden war, her bringen. Diese sind in der Krypta der gleichen Kirche des heiligen Petrus (San Pietro Ciel d´Oro) aufbewahrt. Der König selbst ließ sich unter einem Pfeiler der Kirche bestatten, wahrscheinlich um in der Nähe der großen Lehrer und Philosophen bleiben zu dürfen.

Die Liebe zur Bildung unterlag aber der Gewalt. Im Jahr 774 nahm Karl der Große Pavia ein und ließ sich in der Kirche San Michele zum italienischen König krönen. Mit so genannter „eisernen Krone“ die natürlich nicht aus Eisen war. Langobarden hatten eine sehr flache Regierungsstruktur. Einzelne Herzöge (dux) waren mehr oder weniger selbständige Herrscher und den König wählten sie als eine eher symbolische Figur, deshalb hatten Langobarden auch keine Dynastien. Übrigens nach dem ersten König, sein Name war Alboin, probierten sie es zehn Jahre ganz ohne König, bis sie darauf kamen, dass er doch in bestimmten Aspekten von Nutzen sein könnte. Als es aber notwendig war, sich gegen die angreifenden Franken zu vereinen, meinten die Herzöge aus den südlichen Provinzen Spoleto und Benevento, dass sie dieser Krieg gar nicht angeht und kamen daher nicht zur Hilfe, was ein fataler Fehler war. Die Kirche San Michele spielt in Pavia eine zentrale Rolle. Sie ist wichtiger als Duomo, die in den Jahren 1488 – 1939 gebaut worden war. Die ursprüngliche Kirche San Michele, wo Karl der Große die Krone einnahm, gibt es nicht mehr. Im Jahr 924 eroberten Pavia die Ungarn (diesmal ging es ganz schön schnell, die Schutzmauer der Stadt, die so lange Alboin oder Karel dem Großen Wiederstand leisten konnten, versagten diesmal kläglich) und machten sie dem Boden gleich. Dabei vernichteten sie auch diese heilige Kirche. Volontär Marco versuchte mir einzureden, dass ein großes Erdbeben daran schuld war, historische Quellen sprechen aber eine andere Sprache. Auf der Stelle der alten Kirche wurde im elften Jahrhundert eine neue Kirche gebaut. Weil die Fassade aus Sandstein gebaut worden war, sieht man sofort wie alt die Kirche ist. Der Regen und Wind wischte die alten Reliefs ab. Im Inneren der Kirche sind fantastische Mosaike auf dem Boden der Apsis und auch die Stelle, wo die Könige auf ihre Krone warten musste. San Michele ist dem Erzengel Michael gewidmet, der in der Symbolik der Langobarden, aber auch der anderen germanischen Stämme, eine zentrale Rolle spielte. Es war eine Kultur der Krieger und Erzengel Michael war der Anführer der Armee des Himmels, der die aufständischen Engel besiegt und in die Hölle gestürzt hatte. Sein Kult geht durch ganz Europa, von St. Michele in Bretagne bis Monte San Angelo in Apulien (übrigens dieses Heiligtum, in einer Höhle im Gebirge Gargano war auch die Pilgerstätte der Langobarden und Grabstätte ihrer Könige). In der Apsis der Kirche San Michele in Pavia wurden Mosaiken aus dem elften Jahrhundert entdeckt, die Symbole von Zodiac sowie auch die einzelne Monate und mit ihnen verbundenen menschlichen Aktivitäten darstellen.

Pavia war die Hauptstadt des Italienischen Königsreiches, die mehr oder weniger nur noch rein formal weiter existierte, bis ins Jahr 1024. In diesem Jahr machten die Bürger von Pavia einen großen Fehler. Nach dem Tod Kaisers Heinrich II. (er wurde später heiliggesprochen, weil er mit seiner Frau Kunigunde  -ebenfalls eine heilige – angeblich keinen Geschlechtsverkehr pflegte. Ob die Ursache wirklich eine Enthaltsamkeit oder eher Homosexualität oder Impotenz – vielleicht nur infolge einer Phimose war, weiß nur der Gott allein, für eine Heiligsprechung hat das aber gereicht) , zerstörten die Bürger von Pavia die alte kaiserliche Falz, die in der Stadt noch König Theodorich der Große bauen ließ. Der neue Kaiser Konrad war nicht bereit diese Tat zu verzeihen und ließ sich zum italienischen König in Mailand krönen. Die Kommune von Pavia schaffte es noch, ähnlich wie die anderen italienischen Kommunen, ihre Adelige dazu zu zwingen, in die Stadt zu ziehen. Diese bauten in der Stadt dutzende Türme, die wie phallische Symbole ihre Häuser schmückten (diese sind sichtbar auf einem Fresko in der Kirche San Theodoro). Heute stehen die letzten drei hinter dem Gebäude der Universität, auf dem Platz von Leonardo da Vinci und manche davon neigen sich bereits bedrohlich zur Seite (bei weitem aber nicht so auffällig wie ihre Verwandten in Bologna). Wenn man eine wahre Vorstellung gewinnen möchte, wie so eine Stadt ausgesehen hat, dann muss man nach San Gimignano in die Toscana, dort steht noch eine ganze Menge.

In San Michele von Pavia ließ sich im Jahr 1154 noch Friedrich Barbarossa zum italienischem König krönen (weil er mit Mailand in einem kriegerischen Konflikt verwickelt war und seine ursprüngliche Pläne sich in Monza, in Sichtweite von Mailand krönen zu lassen, nicht verwirklicht werden konnten), aber der Niedergang der Bedeutung von Pavia konnte diese Tatsache nicht mehr aufhalten. Im Jahr 1360 marschierten in die Stadt die Truppen des Mailänder Diktators (und späteres Herzogs) Gian Galeazzo Visconti ein und die Selbständigkeit der Kommune von Pavia fand damit endgültig ihr Ende. Kaiser Karl IV. ließ sich am 6.1.1355 bereits im Dom von Mailand krönen. Eine andere Möglichkeit hatte er nicht, wenn er wollte, dass ihn der allmächtige Visconti weiter zu seiner Kaiserkrönung nach Rom reisen ließe. Sein Sohn Sigismund machte es ihm am 25.11.1431 nach. Ein Beweis, dass sich das Machtzentrum nun auch formal nach Mailand verlegt hatte.

In Pavia blieb trotzdem viel Sehenswertes. Piazza dela Vittoria mit dem Rathaus und der Kathedrale. Eine Überdachte Brücke über den Fluss Ticino (ponte coperto), die noch aus den römischen Zeiten stammt und bereits einige male zerstört und wiederaufgebaut wurde (das letzte Mal im Jahr 1951). Sie ist sehr schön. Auf der anderen Seite des Flusses gibt es eine zauberhafte Reihe an Häusern  „Borgo ticino“, ein Denkmal auf das Bombardement der Stadt im zweiten Weltkrieg und eine Statue einer Waschfrau, von der aus sich ein wunderschöner Blick auf Pavia über den Fluss Ticino bietet.

Am Rande der Stadt ließ Gian Galeazzo Visconti eine viereckige Festung, als ein Symbol seiner Macht, bauen. Heute befindet sich hier „Museo civico“, also das Stadtmuseum mit einer Pinakothek und einer wunderbarer Ausstellung zur Geschichte der Langobarden.

Noch einmal geriet Pavia ins Zentrum des internationalen Interesses und zwar im Jahr 1525. Ausgerechnet in dieser Stadt kam es zur entscheidenden Kräftemessung zweier der mächtigsten Männer der damaligen Welt. Nämlich jener von Kaisers Karl V. und des französischen Königs Franz I. Die kaiserlichen Truppen erreichten einen überrachenden Sieg, König Franz wurde gefangen genommen und das Gebiet der Lombardei überging für die nächsten zwei hundert Jahre unter spanische Herrschaft. Seit diesem Schicksalstag fehlt dem Castello Visconteo der Nordflügel, der von der französischen Artillerie während der Belagerung der Stadt (die der Schlacht vorausgegangen war), vernichtet und nicht wieder aufgebaut worden ist. Die Schlacht ist in einem Fresko in der Kirche San Theodoro dargestellt worden. Für mich ist dies eine ziemlich überraschende Tatsache, dass ein Bild von diesem furchtbaren Morden seinen Weg in eine christliche Kirche gefunden hat.

Acht Kilometer von Pavia entfernt in Mitte der Reisfelder befindet sich Certosa di Pavia, ein Kloster der Kartusianer. Es handelt sich um ein monumentales Gebäude, das Gian Galeazzo Visconti als Grabstätte für sich und seine Familie bauen ließ. Neben diesem Grab ist hier auch wunderschön die Gruft von Ludovico Sforza und seiner Frau Beatrice zu sehen, die im Alter von 22 Jahren gestorben ist, aber es trotzdem schaffte, dem Mailänder Herrscher zwei Söhne zu gebären. Die Mönche von Kartusianer sind auch noch heute hier. Sie wohnen jeder in einem der zweiundzwanzig kleinen Häuschen, die angeordnet in einem großem Kreis, um einen riesig großen Garte sind. Bei einem davon besteht die Möglichkeit es zu besuchen, um sich ein Bild über das Leben der Ordensbrüden machen zu können.

Pavia ist eine der wenigen italienischen Städte, die nicht an das Autobahnnetz angebunden sind. Die Studenten reisen offensichtlich lieber mit dem Zug ein. Auch diese Tatsache verleiht der Stadt eine ruhige ländliche Schönheit. Sollten Sie im Besitz eines großen Autos oder Karavan sein, könnten Sie auf dem Weg von Süden über Ticino Probleme bekommen. Hier ist nämlich die Straße nur für PKWs reserviert, mit einem größeren Wagen kommen sie zwischen den Barrieren einfach nicht durch. Große Wägen und Busse müssen durch die mittlere Spur fahren, wie sie zum Schlüssel kommen, damit Sie diese Spur öffnen können, weiß ich leider nicht.

Pavia ist sicher einen Besuches wert, besonders für Menschen, die Ruhe und Geschichte lieben. Der Aufenthalt hier ist ein echter Balsam für die Seele.

 

 

 

 

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