Was wollt ihr dort tun? So haben mich meine italienischen Freunde gefragt, als ich ihnen mein Absicht diese norditalienische Stadt zu besuchen, mitgeteilt habe. Dort gibt es doch gar nichts! Eine Industriestadt, chaotisch wachsend am Fuß der Alpen, touristisch absolut uninteressant, so lautete  ihre Beurteilung. Ich ließ mich nicht verunsichern, mein Reiseführer versprach mir inmitten des Chaos von Brescia ein wunderschönes Stadtzentrum. Außerdem warnte er vor Unmengen an Schulausflügen. Wenn also so viele italienische Schüler die Stadt besuchen, muss dort etwas Interessantes sein, dachte ich mir. Ich hatte recht. Es gab dort tatsächlich Unmengen der Schulausflügen. Laute italienische Kinder mit noch lauteren italienischen Lehrern, die sich bemüht haben, dem unerzogenen Nachwuchs die glorreiche Geschichte ihres Landes beizubringen. Ich hatte für die Lehrer voller Verständnis. Wenn sie sich in ihren Klassen durchsetzen und etwas ihren Schützlingen mitteilen wollten, mussten sie eine Lautstärke von ungefähr 80 – 100 Dezibel entwickeln. Und sie wollten es. Wo sonst, wenn nicht in Brescia kann man so gut die historische Entwicklung Italiens – und nicht nur des nördlichen Italien – verfolgen.

Ich habe noch nie eine Stadt gesehen, die ihre Geschichte so schätzen und so stolz präsentieren würde. Brescia war in diesem Punkt absolut imposant. Das war der Grund, warum  herum die Schulausflüge überall liefen. Das war aber auch das einzige, was man als negativ bezeichnen konnte, ab und zu war es für ein alterndes Ehepaar (also für uns) ein wenig anstrengend. Sonst war ich aber glücklich, dass ich mich von dem Besuch dieser Stadt nicht abhalten ließ.

Brescia war einmal vor sehr langer Zeit eine gallische Ortschaft, bis sie von Römern eingenommen wurde. Bereits im ersten Jahrhundert vor Christus hatten die Bewohner des damaligen Brixia die bewährte italienische Taktik verwendet, die diese Nation noch immer nutzt und noch immer mit Erfolg. Es ist wirklich ein Phänomen. Egal auf welcher Seite Italien in den letzten zweihundert Jahren in einen Krieg eingetreten ist, es beendete den Krieg immer auf der Seite des Siegers. Und immer hat es etwas dazugewonnen, obwohl auf den Schlachtfeldern seine Soldaten von einer Niederlage in die nächste schlitterten. Brixia verwendete dieses Rezept bereits vor zweitausend Jahren. Im Krieg der Römer gegen ihre Verbündeten verwendete die Stadt eine abwartende Taktik, um sich dann den siegreichen Römern anzuschließen. Als Belohnung bekam die Stadt Rechte einer römischen Kolonie und die Stadt erlebte ihre erste Blüte. Später sorgte der Kaiser Vespasian für den Ausbau der Stadt, nach ihm blieb in der Stadt eine imposante Theaterruine.

Nach dem Zerfall des römischen Reiches wurde Brescia zu einem der langobardischen Herzogtümer und gerade der letzte langobardische König Desiderius war vor seiner Wahl zum König Herzog von Brescia. Er gründete in seiner Residenzstadt ein Kloster San  Salvatore, das heute gemeinsam mit dem benachbarten Klosterkomplex der Heiligen Julia eines der wunderbarsten Museen darstellt,  dass ich in letzter Zeit besuchen durfte.

Im zwölften Jahrhundert entstand in Brescia eine Kommune, die sich nicht dem Kaiser unterstellen wollte und deshalb als ein Mitglied der lombardischen Liga gegen Friedrich Barbarossa kämpfte. Gleichzeitig übte sich die Stadt im Hass gegen das nahe Bergamo. Im Kampf gegen Barbarossas Enkelsohn Friedrich II. erlitt Brescia gemeinsam mit Mailand eine vernichtende Niederlage bei Cortenuovo. Trotzdem weigerte sich die Stadt vor dem Kaiser bedingungslos zu kapitulieren, was zur Folge hatte, dass sich der Kaiser entschied, gleich im darauffolgenden Jahr die Stadt zu erobern und zu demütigen. Er wollte in Brescia ein Exempel statuieren. Brescia sollte die erste in der Reihe der niedergeschlagenen Kommunen sein. Der Brennerpass, den Brescia kontrollierte, war nämlich für den Kaiser von essentieller Bedeutung. Über den Pass konnten nach Italien deutsche Ritter strömen,  die sich im kaiserlichen Dienst auszeichnen  und Geld verdienen wollten und die von Italiener wie Teufel gefürchtet wurden. Die Bürger von Brescia fanden aber die richtige Verteidigungstaktik. Der Kaiser verpflichtete einen jungen genialen Ingenieur, der ihm ermöglichen sollte, die Stadtmauer zu überwinden. Als das die Bürger der Stadt erfuhren, besuchten sie diesen jungen Mann und boten ihm die Bürgerschaft der Stadt sowie auch die Ehe mit der Erbin eines der wichtigsten und reichsten Männer der Stadt an. Der junge Mann verstand richtig, wo seine Zukunft lag. Er nahm das Angebot an, heiratete und als der Kaiser vor der Stadt erschien, stand er bereits auf der Seite seiner Feinde und überraschte die kaiserliche Armee mit immer neuen überraschenden Verteidigungsideen. Der Kaiser konnte die Armee nur für sechs Wochen finanzieren – für mehr gab es kein Geld – er zog enttäuscht ab und die Sieger bauten zur Erinnerung des großen Triumphs das erste Rathaus aus Stein auf dem Hauptplatz – heute der Platz des Pauls VI.

Im Jahr 1311 waren die Brescianer weniger erfolgreich. Sie entschieden sich wieder einmal dem Kaiser nicht zu gehorchen. Diesmal war es der erste Luxemburger auf dem kaiserlichem Thron, Heinrich VII. Dieser ließ in der Anstrengung, die ungehorsame Stadt zu besiegen, nicht nach. Nicht einmal, als die Verteidiger der Stadt seinen Bruder Walram getötet hatten. Die Stadt musste letztendlich kapitulieren, die Stadtmauer wurden niedergerissen und die Anführer des Aufstandes hingerichtet.  Als aber der Sohn des Kaisers, der tschechische König  Johann der Blinde nach Italien einmarschierte, waren es gerade die Bürger der Stadt Brescia, die ihm als erste die Stadttore öffneten und ihn zum „Signore“ wählten, also zum Herrscher und Beschützer der Stadt. Johann blieb der Stadtherr sieben Jahre lang, dann aber, weil er immer leere Taschen hatte und Geld für seine Kriegführung brauchte, verkaufte er die Stadt an Visconti aus Mailand. Unter der Herrschaft von Mailand blieb Brescia bis zum großen Koalitionskrieg im Jahr 1428, danach kam es gemeinsam mit dem benachbarten Bergamo unter die Obhut von Venedig.

Brescia ist eine große Baustelle. Schon deshalb, dass hier eine U-Bahn gebaut wird (für eine Stadt mit 200 000 Einwohner ist es ein sehr mutiges Projekt, aber einige Stationen funktionieren bereits und nach dem Besuch von Brescia begann ich mich zu fragen, warum so etwas nicht in einer Viertelmillionenstadt Graz möglich wäre, wo die Verkehrssituation möglicherweise noch katastrophaler als in Brescia ist). Mein GPS führte mich ins Stadtzentrum, dann kannte es sich aber im Gewimmel der Einbahnstraßen und Baustellen nicht mehr aus und überließ mich meinem Schicksal. Ich verdammte es und fand letztendlich einen Parkplatz am Rande des Stadtparks – wo einmal die Stadtmauer mit dem Graben stand. Von dort war es ins Stadtzentrum  nicht weit.

Der Hauptplatz heißt „Platz Pauls VI.“. Er heißt nach dem Papst, der als Joannes Battista Montini in der Nähe von Brescia geboren und in dieser Stadt zum Priester geweiht wurde. Er wurde hier zum Bischof und Kardinal und von hier wurde er dann im Jahr 1963 zum Nachfolger Johannes XXIII. gewählt. In der Kathedrale in Brescia hat er ein fiktives Grabmal und eine Statue. Und das, obwohl Paul VI. ein bisschen unglücklich als sogenannter „Pill pope“ in die Geschichte eingehen sollte. Papst Paul VI. hatte nämlich einen Zwangsbedürfnis in seinen Enzykliken zu allen, aus seiner Sicht für die Kirche wichtigen Themen, Stellung zu nehmen. Er publizierte sie mehrmals im Jahr und es waren z.B. „Über der Weg der Kirche in der heutigen Welt“ oder „Über das Zölibat“ usw. In seiner Enzyklika „Humannae vitae“ im Jahr 1968 trat er entschieden gegen die kontrollierte Schwangerschaft und Verhütung an. Es war eine Reaktion auf die Einführung der neuerfundenen hormonellen Verhütung, unter anderem ein Beweis, wie weit vom wirklichen Leben die damalige Kirche entfernt war.  Der Spott, den er dadurch ernte, brach ihn und er publizierte weitere zehn Jahre bis zum Ende seines Lebens keine Enzyklika mehr. Die Kirche besteht auf dem Standpunkt von „Humannae vitae“ bis heute, obwohl sie in diesem Punkt beinahe niemand mehr ernst nimmt.

Paul war sicher ein konservativerer Papst als sein Vorgänger. Im Gegensatz zu ihm verweigerte er jede Verhandlung mit den kommunistischen Regimen und beharrte auf mehr Rechte für die Gläubigen in den Ländern des kommunistischen Blocks. Er war kein schlechter Papst, man kann den Stolz der Brescianer auf ihren Landsmann gut verstehen. Die Kathedrale hat aber außer seiner Statue und  der Hand des heiligen Benedikts, des Gründers des Ordens der Benediktiner und Patrons Europas, nicht viel zu bieten. Die Alte Kathedrale, die neben der neuen auf dem Hauptplatz steht und die durch ihre Mosaiken berühmt ist, ist am Montag und Dienstag geschlossen. Wir waren dort am Dienstag. Aber die alte Kirche ist auch beim Blick von außen faszinierend. Sie ist nämlich eine riesige Rotunde, architektonisch im Stil des frühen Mittelalters, in einer so riesigen Dimension habe ich eine Rotunde noch nirgends gesehen.

Auch das Rathaus ist ein imposantes Gebäude mit einem großen Innenhof, es demonstriert die Macht einer reichen Stadt. Spätere Herren der Stadt, die Venediger, mochten aber nicht von diesem Gebäude aus herrschen, sie fühlten sich hier im Angesicht des Stolzes ihrer Untertanen nicht wohl. Sie bauten also auf einem anderen Platz ein neues Gebäude im Stil der Renaissance, nach diesem Gebäude trägt dann der Platz den Namen „Piazza de Lodgia“. Es handelt sich um den schönsten Platz in der Stadt und um einen der schönsten in Norditalien überhaupt. Imposant ist auch die „Via dei Musei“. Diese Straße beginnt bei einer von außen unauffälligen aber im Inneren wunderschönen Kirche, „Santa Maria della Caritá“. Dieses Kirchlein hätten wir ohne weiteres übersehen, hätten uns nicht die Bürger von Brescia auf dieses Juwel aufmerksam gemacht. Ich habe wirklich noch nirgends erlebt, dass die Einheimischen Touristen so eindringlich auf die Denkmäler der Stadt aufmerksam gemacht hätten und darauf aufpassten, dass den Besuchern nichts entging. Die Kirche ist ein echtes barockes Juwel mit einer bemerkenswerten Lorettokapelle hinter dem Altar, sie war sicherlich eines Besuches wert. Bei ihr beginnt dann die „Via dei Musei“. Eine enge Straße, flankiert mit Eingängen in die Renaissancepaläste. Nein, nicht mit Häusern, sondern wirklich nur mit Palästen aus der Zeit der Hochrenaissance, einer neben dem anderen. Alle aus der Zeit der Prosperität und des Reichtums der Stadt im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert. Mit Innenhöfen und dort dann – Ausgrabungen aus den römischen Zeiten. Wie uns ein freiwilliger Aktivist mit einem unglaublich gebrochenen Englisch kombiniert mit dem einfachsten Italienisch erklärte – nur damit wir ihn verstehen konnten – in Brescia ist es egal, wo man mit einer Grabung beginnt, in fünf Meter Tiefe stößt man immer auf Denkmäler und Schätze aus lang vergangenen Zeiten.

Am Ende der Straße findet man das Stadtmuseum. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ein so imposantes Museum der Stadtgeschichte irgendwo gesehen hätte. Es nimmt zwei Komplexe der alten Klöster ein,  eines davon, Kloster San Salvatore, stammt noch aus den Zeiten der Langobarden. Es wurde im achten Jahrhundert gegründet und die Kirche aus dieser Zeit blieb auch erhalten – es ist ein Juwel der frühromanischen Architektur mit hohen Bögen und Fresken (die sind natürlich jünger, im achten Jahrhundert kannte man die Kunst der Wandmalerei noch nicht). Bögen, die von Gotik noch keine Ahnung haben konnten, trotzdem spannen sie sich in mit Gotik vergleichbare Höhe. Das zweite Kloster der Heiligen Julia ist um einiges jünger. Aber wie ich schon sagte, egal wo man in Brescia mit den Ausgrabungen beginnt, überall trifft man auf Erinnerungen auf alte Zeiten. Also, als man unter dem Boden des Klosterns zu graben begann, traf man auf Häuser aus römischen Zeiten mit herrlichen Bodenmosaiken. Dieses „Haus des Dionysos“ nimmt jetzt einen Flügel des Museums ein und es ist dort streng verboten zu fotografieren. Die Kirche des Klosters der heiligen Julia ist ein wildes Gemisch aller möglichen Baustile, jede Zeit baute etwas dazu, das Ergebnis ist fast berührend. In Brescia wird man einfach durch die ganze Geschichte beginnend in der vorrömischen  bis zur modernen Zeit geführt. Das größte Juwel im Museum ist natürlich die Bronzestatue der beflügelten Siegesgöttin Viktoria, nach der sogar die Zentralstation der U-Bahn benannt worden ist. (Und auch der Platz mit einem unterirdischen Parkhaus, das ich bei meiner Anreise  in die Stadt vergeblich gesucht habe).

Nachher fanden wir eine herrliche Trattoria namens Mezzaria, wo wir sehr gut gegessen haben – der Magen war nach zwei Tagen des Fastens schon wieder bereit, Nahrung aufzunehmend und gab es mir durch einen Anfall des Heißhungers bekannt, der mich gerade Mitte in der Stadt erwischt hat. Nach dem Essen gingen wir in die Festung von Brescia. Es ist ein monumentales Gebäude auf einem der ersten Alpenhügel und es wurde im Jahr 1849 berühmt, als Brescia 10 Tage den österreichischen Truppen Widerstand leistete. In den Straßenkämpfen starb auch der österreichische General Nugent, bis mit den Aufständischen der in Tschechien zu Unrecht vergessene Landsmann Marschall Radetzky Ordnung gemacht hat. Für diesen Widerstand verdiente sich Brescia den Beinahmen „Die italienische Löwin“.

Das Gebäude der Festung ist riesig, es hat mehrere Stockwerke, eine ganze Reihe Verteidigungssysteme und Zugbrücken – nur das Museum fanden wir beim besten Willen nicht. Möglicherweise genau so vergeblich suchten es alle die Schulausflüge, von denen die Festung wieder einmal voll war. Nein, Brescia ist nichts für Menschen, die Ruhe und Stille suchen. Sonst war es aber eine sehr liebe Überraschung. So eine, dass wir ganz vergessen haben, das Hütchen für unsere Enkelin zu kaufen.

Wir erinnerten uns daran unterwegs nach Lovere. Natürlich brach im Auto Panik aus und es blieb mir nichts anderes übrig, als noch spät abends in ein Einkaufzentrum im Nachbartort zu fahren und dort einzuparken (was das Schwierigste war) und dann das Hütchen zu suchen. Ich habe versucht, meine Frau zu überzeugen, dass wir in einem Ort, der übersetzt „Fuchsküste“ heißt ( im Original „Costa volpino“) wahrscheinlich kein Hütchen für Kinder finden würden, da hier nur die Füchse „Gute Nacht“ sagen. Ohne Erfolg. Hoffnung stirbt halt zuletzt. Costa volpino bot aber mehr an, als ich erwarten konnte.  Wir suchten das ganze Einkaufzentrum durch, wir fanden ein Geschäft mit Kindersachen, mit sehr lieben Verkäuferinnen und großer Auswahl an Kinder- und Babysachen. Natürlich, das einzige, was sie nicht gehabt haben, war „Capellino“.

Dadurch mutierte unsere Reise nach Norditalien, egal wie erfolgreich sie aus der Sicht eines Historikers und Touristen war, zum absoluten Desaster. Die Hauptaufgabe wurde nicht erfüllt.

Ich werde den Leser nicht mehr auf die Folter spannen, das happy end darf ich ihm nicht verheimlichen. Capellino haben wir drei Wochen später in Paris im Kaufhaus Galerie Laffayette gekauft. Ich weiß nicht, wie weit meine Drohung, das Kaufhaus nicht zu verlassen, bevor das Hütchen nicht gekauft ist, dazu beigetragen hat, meine Frau erwies aber eine erstaunliche Trägheit. Sie beschäftigte zwei Verkäuferinnen mehr als halbe Stunde. Sie brachten uns einige Stücke aus dem Lager, da die richtige Größe nicht in den Regalen ausgestellt war. Dann aber kam der große Moment, wir hielten das Hütchen in der Hand und konnten es abholen.

Es kostete lediglich zehn Euro – so billig haben wir ein Gefühl eines absoluten Glücks seit langem nicht gekauft!

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