Wichtig ist, dass man den Namen richtig aussprechen kann. Meine Bergámo machte die Italiener offensichtlich nervös. Nachdem sie mich das fünfte Mal aufmerksam gemacht hatten, dass die Betonung auf der ersten Silbe liegt (also Bérgamo), begannen die sonst immer sehr toleranten und freundlich wirkenden Gastgeber nervös und gereizt zu sein. Ich weiß nicht, ob ich mit der falschen Betonung vielleicht etwas Unanständiges gesagt hatte. Ich traute mich nicht zu fragen, ich passte aber danach sehr darauf, die erste Silbe zu betonen.
Alle unsere Bekannten lobten einstimmig meine Entscheidung, diese Stadt zu besuchen. Bergamo hat den Ruf einer schönen Stadt und bewirbt sich um den Titel der Kulturhauptstadt Europas für das Jahr 2019. Meine Erwartungen waren also dementsprechend hoch. Dann aber betrat die Szene ein Darmvirus.
Zuerst habe ich gedacht, das Mittagessen in Mailand würde von meinem Verdauungstrakt abgelehnt und damit Schuld an meinem Zustand sein. Bereits auf dem Weg aus Mailand musste ich ganz akut eine Toilette aufsuchen und das war natürlich Wasser auf die Mühle meiner Frau, die mir alle Meeresfrüchte (sie nennt sie Meeresungeheuer) aufgezählt hat, die ich als Vorspeise gegessen hatte. Ich liebe nämlich Meeresfrüchte, sie verträgt sie aber nicht. Als dann aber auch sie betroffen war und wir auch noch erfuhren, dass am gleichen Tag sogar unser Sohn an den gleichen Problemen litt, der Graz in Richtung Berlin am gleichen Tag verlassen hatte, an dem wir nach Italien aufgebrochen waren, musste auch sie zugeben, dass die Meeresungeheuer mit größter Wahrscheinlichkeit keine Schuld an unserem bedauernswerten Zustand hatten. Schuld war ein böser Virus. Ein wirklich böser Virus.
Wir wohnten im Städtchen Lovere ( bitte auch Lóvere aussprechen) unter den Bergen über den See Lago d´Isolo. Auf der Landkarte kann man ihn zwischen Lago di Como und Lago di Garda finden. Er ist kleiner als diese zwei größeren und berühmteren Brüder, er ist aber nicht weniger schön. In der Mitte des Sees ragt ein Berg – also eine Insel – aus dem Wasser empor, natürlich mit einem Kloster auf der Bergspitze. Auch in Lovere gibt es eine riesige Kirche Santa Maria in Valvendra – für die Größe des Ortes absolut überdimensioniert. Bei ihr anzuhalten glich bei dem lokalen Straßenverkehr einem Selbstmordversuch, daher habe ich auf einen Besuch des lokalen Heiligtums verzichtet.
Wir wohnten oberhalb der Stadt und sollten eigentlich eine schöne Aussicht auf den See und ihn umgebene Berge haben. Hatten wir nicht. Ich verbrachte die ganze Nacht sitzend mit der Aussicht auf das Waschbecken. In der Früh war ich nicht wirklich ausgeschlafen und mein Verdauungstrakt, obwohl er absolut leer sein musste, weigerte sich immer noch hartnäckig, etwas einzunehmen. Aber nicht einmal dieser erbärmliche Gesundheitszustand konnte uns vor der geplanten Reise nach Bergamo abhalten, an deren Ende sollte, wie schon bereits so viel Mal – der Kauf des „capellino“, also des Hüttchens für unsere Enkelin Veronika, sein.
Nach Bergamo zu kommen und hier einen Parkplatz zu finden ist wirklich kein Problem. Die Altstadt sieht man nämlich bereits aus der Ferne. Die so genannte „Obere Stadt – Citta alta“ ragt auf einem hohen Hügel über die moderne Stadt „Citta bassa“ in der Ebene empor und ist mit einem gut erhaltenen, fünf Kilometer langen, Mauerring aus dem sechzehnten Jahrhundert umgeben.
Wir stellten das Auto ins unterirdische Parkhaus und brachen auf, sich vor der furchtbaren viralen Infektion zu retten, die uns bedrohte. Als erstes besuchten wir einen Supermarcato und kauften eine Flasche Grappa. Die Flasche machten wir gleich vor dem Geschäft auf (um zehn Uhr morgens!) und nahmen beide je einen ordentlichen Schluck aus ihr. Ich kam mir ein bisschen wie ein russischer „Muzik“ vor Gorbatschovs Reform vor, aber Schande hin oder her – es ging ums Leben. Grappa hat uns geholfen. Dank seiner Hilfe konnten wir durch die Stadt wandern ohne engmaschig intime Plätze aufsuchen zu müssen. Aufs Essen verschwendeten wir aber keinen einzigen Gedanken. Das war möglicherweise schade. Wie ich bereits mehrmals erwähnte, ich liebe es, lokale Spezialitäten zu kosten und Bergamo ist durch eine solche berühmt.
Bergamo ist durch seine Küche in ganz Italien bekannt und nicht nur dort. Das Haupt- und meiner Meinung nach auch einzige lokale Gericht ist die Polenta. Der gut bekannte Brei aus Mais, hier aber salzig, süß, mit Zucker, mit Kakao und mit unterschiedlichsten Zutaten, einmal als ein Kuchen, dann wieder eine Torte, mit Fleisch, ohne Fleisch, gekocht und gebacken. Manche Geschäfte boten ausschließlich Gerichte aus Polenta an. Weil wir aber im Vorfeld gewarnt wurden, dass das Essen in Bergamo sehr üppig sei und unsere Mägen beinahe hysterisch bei der Vorstellung, dass sie auch mit dem leichtest verdaulichem Essen belastet werden könnten, waren, kosteten wir Polenta diesmal nicht. Vielleicht beim nächsten Besuch. Bergamo zu besuchen, zahlt sich nämlich sicher aus.
Bergamo war immer eine reiche und stolze Stadt. Durch die Stadt führte nämlich eine Straße (durch unser Lovere) zu zwei strategisch wichtigen Pässen in den Alpen. Einer davon in Richtung Bolzano und dann weiter über den Brennerpass, der viele Jahrhunderte der Hauptweg aus Italien nach Deutschland war. Sollte aber ein Feind etwas gegen eine solche Reise oder einen Feldzug auf diesem Wege gehabt haben, gab es bei Bedarf eine Möglichkeit auszuweichen und über Splügenpass in die Schweiz und dann ins Rheintal und zum Bodensee zu gelangen. Dank dieser hervorragenden strategischen Lage kam es bald nach Ausrufung einer selbständigen „Signoria“ in der Hälfte des zwölften Jahrhundert zum Streit mit dem nahen Brescia. Brescia beanspruchte nämlich den Weg zum Brenner für sich. Aus diesem Grund finden wir in der folgenden Zeit Bergamo immer im Lager, das mit dem Lager rivalisierte, in dem Brescia Mitglied war. Im zwölften Jahrhundert kämpfte die Stadt als ein Mitglied der lombardischen Liga gegen Kaiser Friedrich Barbarossa und dieser Kampf endete – wie ich bereits im Artikel über Mailand erwähnt habe, mit einem Erfolg, nämlich dem Friedenvertrag von Konstanz im Jahre 1183, in dem der Kaiser der Selbstverwaltung der italienischen Kommunen zustimmte. Im Jahre 1237 kämpften die Bürger von Bergamo auf der Seite des Kaisers Friedrich II. bei Cortenuovo, wahrscheinlich nur deshalb, weil Brescia auf der anderen Seite stand, nämlich in den Reihen der Lombardschen Liga unter Anführung von Mailand. Die Bergamesen konnten bei Cortenuovo den Sieg über den verhassten Nachbaren auskosten, die Freude war aber nicht von langer Dauer. Kaiser Friedrich II. verstarb im Jahr 1250, der Stamm der Staufen starb bald danach mit gewaltiger Hilfe des Papstes aus und im Jahr 1261 standen unter den Mauern von Bergamo vereinigte Armeen von Mailand und Brescia, die sich nach Rache sehnten.
Im Jahr 1264 musste Bergamo kapitulieren und einen Podesta aus Mailand akzeptieren. Sehr glücklich waren aber die Bergamesen unter dieser Herrschaft nicht. Die Rettung suchten sie bei der neuen kaiserlichen Dynastie der Luxemburger. Im Jahr 1310 halfen sie selbstverständlich Kaiser Heinrich VII. bei Eroberung von Brescia. Als dann im Jahr 1331 der tschechische König Johann von Luxemburg (der Sohn Heinrichs) nach Italien einmarschierte, wählten sie ihn zu „Signore“ und erwarteten von ihm einen militärischen Schutz. Von dem lieben Johann konnte man alles Unheil der Welt erwarten, nur keinen wirksamen Schutz. Nach einigen Monaten gab er die Stadt auf, weil er sich gegen den Herrscher von Verona, Mastino II. de la Scala, nicht behaupten konnte. Danach kämpften um diese Region Mailand mit Venedig, bis nach dem Krieg der Großen Koalition im Jahr 1428 die Stadt auch mit dem benachbarten Brescia unter die Herrschaft von Venedig kam. Mit einer kurzen Pause in den Jahren 1509 – 1516, als sie von Franzosen eingenommen wurde, bleib die Stadt bis zum Jahr 1796 unter dem Schutz der Flügel des Löwen von Venedig. Den Marcuslöwen aus dem Wappen von Venedig trifft man hier sehr oft. Nicht nur auf dem barocken Eingangstor (geklebt absolut unpassend auf die mittelalterliche Stadtbefestigung, aber wie schon gesagt, Italiener reißen extrem ungern etwas nieder, was noch steht), aber auch auf dem Rathaus auf der „Piazza Vecchia“ oder auf der Festung „La Rocca“.
Auf die „Citta alta“ kann man mit einer Seilbahn fahren und gleich nach dem Ausstieg öffnen sich vor dem Besucher schmale Gassen steigend und fallend auf dem Hügel der Altstadt, mit Geschäften für Souvenirs und Polenta. So kamen wir auf die „Piazza Vecchia“. Der alte Platz hat es in sich. Er hat sogar zwei Kathedralen, ein Rathaus mit dem bereits erwähnten Marcuslöwen und eine Reihe weiterer schöner Gebäude.
Als wir den Platz betraten, sprach uns gleich ein Mädchen namens Samuela an. Eine junge sympathische Italienerin mit unglaublich langen Haaren (sogar gebunden zu einem Pferdeschwanz reichten sie ihr immer noch bis unten ihren – schönen – Hintern). Sie sprach uns englisch an, war aber bereit, mit uns auch auf Italienisch oder Deutsch zu kommunizieren, nach Bedarf. Sie bot uns eine Stadtführung an – eine Stunde einer intensiven Führung durch die Stadt für 35 Euro. Ich wäre fast einverstanden gewesen, Samuela war mir nämlich sehr sympathisch, Studenten soll man finanziell unterstützen und schon allein für ihre Sprachkenntnisse verdiente sie sich eine Belohnung. Meine Frau war aber dagegen. Ich weiß nicht, ob ihr Samuela viel zu anziehend vorkam, um mit ihr eine ganze intensive Stunde verbringen zu dürfen, aber im Grunde hatte sie Recht. Unsere Magen- und Darmlage war nicht so weit stabil, um die Stunde mit Samuela wirklich in Ruhe genießen zu können.
Meine liebe Gattin wendete eine ganze Artillerie von Argumenten an, eines davon war, dass man für 35 Euro ein so schönes Hütchen für unsere Enkelin kaufen könnte, dass sie von allen beneidet würde. Außerdem zeigte sie Bereitschaft, sofort und auf der Stelle die Altstadt zu verlassen und in der Zeit meines Spazierganges mit Samuela durch die Stadt nach „Citta Bassa“ zu gehen und dort Shopping zu betreiben. Im Grunde genommen war das auch keine ganz schlechte Idee, aber in Betracht der Tatsache, dass sich die lebensrettende Flasche mit Grappa in ihrer Tasche befand, gab ich schnell auf. Die Stadtbesichtigung absolvierten wir allein und ohne diese hübsche Begleitung.
Ohne Führer konnten wir zumindest unser Tempo der Stadtbesichtigung selbst bestimmen und sich wirklich nur auf die Zeugen der alten berühmten Vergangenheit der Stadt konzentrieren. Das schönste, was zu sehen war, war die Basilika Santa Maria Maggiore, gebaut bereits in der Mitte des zwölften Jahrhunderts. Weil auf dem Hügel von Bergamo für eine übliche Kirchenfassade nicht genug Platz war, hat die Kirche zwei kleinere Fassaden, aber ganz ungewöhnliche, die Säulen werden von weißen Löwen im Süden und von roten Löwen im Norden getragen. Das Innere der Barockkirche ist vollständig mit Gobelins geschmückt. Ich gebe zu, dass ich noch nichts Ähnliches gesehen hatte, es war aber imponierend. Jeder Quadratzentimeter war mit kostbaren Teppichen mit biblischen Motiven überdeckt.
Die Kirche hatte einmal fünf Apsiden. Im Jahr 1470 entschied ein erfolgreicher Condotierre Bartolomeo Colleoni fünf Jahre vor seinem Tod, sich ein Grabmal bauen zu lassen und reservierte sich dafür den schönsten Platz in der Stadt. Bedauerlicherweise stand auf diesem Platz die Kathedrale. Weil aber Colleoni während seiner militärischen Karriere genug Geld gesammelt hatte, geschah ein Unglück. Die Kathedrale wurde von einem Feuer heimgesucht und eine der Apsiden wurde vollständig zerstört, glücklicherweise gerade die, in der Colleoni sein Grabmal haben wollte. Also hat er es dort. Im Krieg der siegreichen Partei beizutreten war offensichtlich immer ein ertragreiches Unternehmen.
Der Duomo von Bergamo imponiert zwar durch seine Größe, aber das schroffe klassizistische Gebäude kann der Basilika Santa Mari Maggiore nicht das Wasser reichen. Auf dem höchsten Punkt der Altstadt im Norden befindet sich ein Priesterseminar, das den Namen Johannes XXIII. trägt. Giuseppe Roncali war nämlich Rektor in diesem Seminar bevor er Patriarch von Venedig und in weiterer Folge im Jahr 1958 Papst wurde. Der so genannte „Il Papa buono“ also “der gute Papst“ war mit Bergamo eng verbunden. Er wurde in der Provinz von Bergamo in Sotto Il Monte geboren, in den Jahren 1904 – 1915 war der Sekretär des Bischofs von Bergamo, Radini-Tedeschi und unterrichtete im Priesterseminar kirchliche Geschichte. Erwähnungswert ist vieleicht auch die Tatsache, dass nach seinem Tod im Jahr 1963 zu seinem Nachfolger der Bischof aus der verfeindeten Nachbarstadt Brescia, Giovanni Battista Montini, gewählt wurde, bekannt unter seinem päpstlichen Namen Paul VI.
Den Abschluss unseres Ausfluges ließen wir in der Stadtfestung La Rocca (Also „der Felsen“)ausklingen. Die massive Festung aus dem fünfzehnten Jahrhundert auf eine Anhöhe im südlichen Teil der Altstadt mit wunderschönen Aussichten über die Altstadt wurde zu einem Park umgewandelt, in dem es eine Ausstellung des italienischen antifaschistischen Widerstandes gibt. Also im Grunde die Geschichte des zweiten Weltkrieges aus italienischer Sicht und zwar nach dem Jahr 1943, als die Italiener erfolglos versucht hatten, Mussolini loszuwerden und die klassische italienische kriegerische Taktik anzuwenden, – nämlich sich der siegenden Partei anzuschießen. Diese bewährte Taktik ging diesmal nicht vollständig auf, mit Deutschen es ist nicht ratsam sich zu verscherzen. Sie schickten Oberst Skorzeny um Mussolini zu befreien und dann überrollten sie die italienischen Einheiten, die ihnen Widerstand leisten wollten, egal wo sie sich gerade befanden. Nur auf der Insel Kefalonia(die damals von Italien okkupiert war) wurde zehntausend italienische Soldaten als Verräter erschossen (darüber hat der Film „Corellis Mandoline“ mit Nicolas Cage und Penelope Cruz in den Hauptrollen erzählt). Als ich die im Park von Bergamo ausgestellten italienischen Waffen gesehen habe, verstand ich, dass die Italiener gegen deutsche Panzer keine Chance hatten. Übrigens, mit gleichen Panzer italienischer Herkunft wurde auch die Österreische Armee ausgerüstet.
Ach so, wie ging die Sache mit „Capellino“ aus? In der Altstadt von Bergamo gibt es ausschließlich Geschäfte mit Souvenirs und Polenta. Wir haben zwar ein Geschäft mit Kleidung entdeckt, aufgrund der in Schaufenstern ausgestellten Ware trauten wir uns nicht einmal zu fragen, ob es dort „Capellino“ geben könnte. Die untere Stadt von Bergamo ist überhaupt nicht verlockend, um dort zu bummeln und nach einem Kleidungsgeschäft zu suchen. Also beschlossen wir einstimmig, dass der Kauf von „Capellino“ verschoben wird. Am nächsten Tag sollten wir doch nach Brescia fahren. Die Hoffnung blieb also am Leben.