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Breslau – Wroclaw – Vratislav

               Die Stadt an der Oder nördlich der tschechischen Nordgrenze hat alle diese Namen, was dadurch verursacht ist, dass sie mehrmals ihre Herrscher wechselte. Sie wurde um das Jahr 900 vom tschechischen Fürst Vratislav auf einer Insel des Flusses Oder gegründet, schon im zehnten Jahrhundert ging sie aber in die Herrschaft der polnischen Fürsten aus der Piast Familie über, bis sie vom Herzog Heinrich V. dem tschechischen König Johann von Luxembourg vermacht wurde. Seit dem Jahr 1335 war die Stadt mit dem umliegenden Herzogtum ein Teil des tschechischen Königreiches, davon zeugt der tschechische zweischwanzige Löwe, den man nicht nur im Stadtwappen von Wroclaw findet, aber zum Beispiel auch an der Fassade der Franziskanerkirche der Heiligen Dorothea, Wenzel und Stanislav auf dem Freiheitsplatz (Plac Wolnosči).

Im Jahr 1526 übernahmen die Habsburger die Herrschaft über die Stadt und im Jahr 1741 marschierte die preußische Armee Friedrichs II. ein. Die Stadt blieb preußisch bzw. deutsch bis zum Jahr 1945, als sie der Polnischen Republik übergeben wurde. Also verdient diese Stadt ihren deutschen Namen ebenso wie ihren tschechischen oder den polnischen, den sie heute trägt.

               Ich habe gehört, dass Wroclaw eine sehr schöne Stadt wäre, also entschied ich mich, sie zu besuchen. Ich habe aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht geahnt, wie WUNDERSCHÖN die Stadt ist. Historisch, sowie auch modern, gepflegt und sauber. Einfach zum Verlieben. Wer dort noch nicht war, sollte es unbedingt nachholen.

               Auf dem Platz, an dem die Stadt entstanden ist, also auf der Insel im Fluss Oder, befindet sich heutzutage das religiöse Zentrum der Stadt. Der Name Wroclaw ist im polnischen männlich, auf Deutsch Breslau natürlich Neutrum, tschechisch Vratislav aber weiblich. Ich glaube, ohne meine tschechische Herkunft hervorheben zu wollen, dass der tschechische Name zu der Stadt am besten passt, ihre Schönheit ist nämlich wirklich vom weiblichen Typ. Übrigens, der lateinische Name der Stadt behält die tschechische Form Vratislavia. Wroclaw wurde im Jahr 1000 zum Bistum – es war die Arbeit des polnischen Königs Boleslaw Chrobry (der Tapfere), der sich dadurch seine Statue im Park auf der Stelle der ehemaligen Stadtbefestigung verdiente. Heute liegt das Zentrum nicht mehr auf einer Insel, weil der nördliche Arm der Oder zugeschüttet wurde. Die Gebäude, die sich hier befinden, sind einfach atemberaubend. Schon die spätromanische Kirche „St. Maria auf dem Sande“ ist imposant, aber sie ist nur ein Vorspiel vor der „Kirche des Heiligen Kreuzes“, die der Fürst Heinrich IV. bauen ließ. Er trug den Beinahmen „der Gerechte“. Jeder Herrscher, auch der gerechteste, hat aber ein paar Sünden, die er durch Kirchenbauten gut machen möchte. Der Herzog wurde vergiftet, angeblich von seinem Leibarzt. Weil er aber von seiner Schuld nicht überzeugt war, ließ er den Arzt außer Landes bringen, damit dem Medikus nach seinem eigenen Tod nichts passieren würde. Also doch ein gerechter Herrscher bis zum letzten Atemzug. Das Bauwerk der Kirche ist so imposant, dass man es eigentlich gar nicht fotografieren kann. Es wettfeiert um den Titel der schönsten Kirche der Stadt mit der Erzbischofskathedrale „St Johann der Täufer“, in der unmittelbaren Nachbarschaft. Übrigens, alle Gebäude auf der ehemaligen Insel sind sehr schön, wie das ehemalige Waisenhaus oder die theologische Fakultät, die Verwaltungsgebäude des Erzbistums oder der zwar bescheiden aussehende aber trotzdem sehr elegante Bischofpalast.

               Es gibt natürlich eine Menge Kirchen in Wroclaw, wie übrigens auch in ganz Polen (Obwohl die höchste Konzentration der Kirchen auf einem Quadratkilometer gibt es in Vilnius im benachbarten Litauen). Alle wurden nach der deutschen Art aus Backsteinen gebaut – der Stein war hier einfach Mangelware. Ihre Türme sind in eine unglaubliche Höhe gezogen und die Gebäude schauen unglaublich imposant aus. Ob es sich um die Kirche des Fronleichnams unweit vom Denkmal Boleslaws Chrobry oder um die bereits erwähnte Franziskanerkirche der Heiligen Dorothea, Stanislaus und Wenzel handelt oder um die Dominikanerkirche mit der Kapelle des seligen Cieslaw, eines Dominikanermönches, der hier in der Zeit des Mongoleneinfalls im Jahr 1241 lebte. Nachdem die mongolische Streitkraft die Armee der schlesischen Herzöge, die vom Herzog Heinrich II. angeführt wurde, in der Schlacht bei Liegnitz vernichtet hatte, plünderten die Eindringlinge das ganze Land furchtbar aus. Cieslaw überlebte das Toben der Plünderer, er starb im Jahr 1242. Viel interessanter als sein Leben ist aber das Schicksal seiner Kapelle, wo seine irdischen Überreste begraben sind. Am Ende des zweiten Weltkrieges litt Breslau furchtbar. Hitler erklärte die Stadt zur Festung und ließ die Mehrheit der 630 000 Einwohner evakuieren. Am 15.Februar 1945 wurde die Stadt von der Roten Armee eingekesselt. Die Kämpfe in der Stadt, wo um jedes Haus gekämpft wurde, dauerten bis 6.Mai. Sie kosteten 6000 deutschen und 7000 russischen Soldaten das Leben. Es wurden 75% aller Gebäude vernichtet und die Zerstörung schonte auch die Kirchen nicht. Von der Dominikanerkirche blieb so gut wie nichts übrig – außer der Kapelle des seligen Cieslaw, die das Toben des Krieges ohne den geringsten Schaden überstanden hat. Ich verstehe nicht, wieso Johann Paul II. es nicht geschafft hat, diesen seinen Landsmann heilig zu sprechen. Es war doch sein größtes Hobby und er sprach 483 Menschen heilig (mehr als alle Päpste vor ihm zusammen).

               Nahe dem Stadtzentrum ragt die Kirche der heiligen Agnes in den Himmel empor. Sie wird hier richtig Agnes von Ungarn genannt, weil sie als ungarische Prinzessin in Bratislava – im damaligen Preßburg (oder ungarisch Pozsony) – das Licht der Welt erblickte. In Deutschland wird sie als Agnes von Thüringen verehrt – dorthin wurde sie verheiratet. Diese Kirche wurde von Johann Paul II. zu Basilika Minor erhoben. Es zahlt sich aus, den Aussichtsturm zu besteigen, obwohl man dafür mehr als 300 Stufen in einem engen Turm mit Gegenverkehr überwinden muss. Der Blick vom Turm ist aber fantastisch. Direkt gegenüber steht eine ziemlich düstere „Kirche der Maria Magdalena“. Auffällig ist, dass nur einer ihrer zwei Türme ein Dach hat. Bei der Gelegenheit des 90. Geburtstages Kaisers Wilhelm I. im Jahr 1887 wurde von diesem Dach ein Feuerwerk abgefeuert und das Dach verbrannte. Weil die Einwohner von Wroclaw, das damals noch Breslau hieß, dieses Ereignis als Strafe Gottes verstanden, reparierten sie das Dach nicht und dieses fehlt der Kirche bis heute.

               Das Stadtzentrum bildet der „Rynek“ – also der Hauptlatz. Er ist ein bisschen untypisch in seiner Mitte verbaut. Hier steht das Rathaus, eines der schönsten Gebäude in Mitteleuropa.

Wroclaw war eine ungemein reiche Stadt. Es war nämlich ein Mitglied der Hansa, der Handelsgesellschaft der nordeuropäischen Städte und durch diese Städte liefen alle Warenströme nach Mitteleuropa – der Fluss Oder eignete sich dafür hervorragend. Die Oder war der Segen für die Stadt, obwohl sie ab und zu auch gefährlich werden und große Schäden einrichten konnte, wie das letzte Mal im Jahr 1997. Sie war aber die Ader für die gewinnbringenden Geschäfte. Die größeren Schiffe konnte gerade noch nach Wroclaw fahren, dort musste dann die Ware umgeladen werden. Als Karl IV. Prag zur Hauptstadt des Heiligen römischen Reiches machte, profitierte gerade Wroclaw von den neuen Warenströmen am meistens. Übrigens im Jahr 1346, als Karl an die Macht kam und Prag gerade 8000 Menschenseelen zählte, lebten in den Mauern von Wroclaw bereits 35 000 Einwohner und diese Stad war also damals die größte im Tschechischen Königreich. Den damaligen Reichtum sieht man heute noch. Ob an dem prächtigen Rathaus oder an den Häusern auf dem „Rynek“ oder in den umliegenden Straßen. Wie zum Beispiel das „Haus zu sieben Kurfürsten“ oder das „Haus unter den Gryfen“, aber nicht nur diese, sind wirklich sehenswert. Der Reichtum weckt aber Unruhe, besonders dann, wenn der Wohlstand nicht gerecht verteilt wird. Bei einem Aufstand der Handwerker gegen das Patriziat im Jahr 1418 kam es zu dem ersten europäischen Fenstersturz. Prag, das dadurch später sogar zweimal in die Weltgeschichte einging, kann sich die Idee, sich auf diese Weise der unpopulären Politiker zu entledigen, nicht patentieren lassen. In Wroclaw wurden damals sechs Stadträte aus den Fenstern des Rathauses rausgeworfen, der siebente, der im Turm seine Rettung suchte, wurde ebenso hinuntergeworfen – mit einem noch verlässlicheren Ergebnis. Der Aufstand der Zünfte wurde von Kaiser Sigismund im Jahr 1420 niedergeschlagen, der in Wroclaw den Kreuzzug gegen Prag vorbereitete (der dann mit einer beschämenden Niederlage auf dem Berg Vitkov bei Prag zu Ende ging). Sigismund ließ damals exemplarisch 27 Anführer des Aufstandes hinrichten und die Patrizier kehrten zurück an die Macht.

               Von der Bedeutung von Wroclaw zeugt auch die Tatsache, dass gerade in dieser Stadt, in der ehemaligen Kapelle des Rathauses, die schlesischen Stände im Jahr 1741 ihrem neuen Herrn, dem preußischen Könige Friedrich II. huldigten. Das Museum der Stadtgeschichte gibt es aber nicht im Rathaus, sondern im königlichen Palast Kazimirs des Großen. Leider begrüßte mich hier eine Tafel mit Anschrift: „Expozycia niedzynna, przeprasamy“. (Wir entschuldigen uns, die Ausstellung ist außer Betrieb). Das Museum war wegen Rekonstruktionsarbeiten geschlossen. Ich hatte nicht vor zu verzeihen, wie mich die Tafel bat, aber was sollte ich schon tun? Es ging mir sonst in dieser Stadt doch so gut!

               Ein Erlebnis, das sich ein Besucher in Wroclaw nicht entgehen lassen darf, ist ein Besuch der Universität. Ihre erste Gründung im Jahr 1505 von König Vladislav Jagiello misslang noch. Die zweite Gründung von Kaiser Leopold I. hatte aber schon Erfolg. Deshalb heißt die Universität zur Ehre des Kaisers „Universitas leopoldiana vratislaviensis“. Das Universitätsgebäude wurde in nur zwei Jahren fertig gebaut, die Universität dann dem Jesuitenorden zur Verwaltung übergeben. Atemberaubend ist die Aula der Universität, geschmückt mit Fresken und Statuen des Kaisers und seiner zwei Söhne, der späteren Kaiser Josef I. und Karl VI. Viel zurück in seiner Schönheit bleibt auch das Oratorium Marianum nicht. Es ist ein prächtiges Zimmer ebenso bedeckt mit Fresken, die gleich wie die der Aula sowie auch in der Jesuitenkirche „Zum heiligen Jesusnamen“ der Maler Christoph Handgke aus Olmütz schuf. Auch die Statuen in allen Universitätsgebäuden haben einen mährischen Ursprung, sie wurden von Franz Josef Mangold aus Brünn geschaffen. Das Oratorium, sowie auch die ganze Universität wurde in den Kämpfen des zweiten Weltkrieges vernichtet. Seine Restaurierung wurde von der Bundesrepublik Deutschland finanziert. Es war eine schöne Geste für die Versöhnung, die aber nicht ganz die erhofften Früchte brachte, sonst wäre in Polen nicht Jaroslaw Kaczynski an der Macht. (In Wroclaw übrigens hat seine Partei „Recht und Gerechtigkeit“ nicht gewonnen, die Bevölkerung von Wroclaw war immer sehr sensibel gegen jede Totalität, Wroclaw war auch eines der Widerstandzentren gegen das kommunistische Regime – auch die Bewegung Solidarność (Solidarität) war hier seit dem Jahr 1981 aktiv).

In den Nischen der Aula sind Philosophen und Gelehrte wie Sokrates oder auch der Rektor der Pariser Universität Sorbonne Gerson abgebildet. Auch Johann Capistranus hat hier sein Portrait, das ich weniger gutheißen kann. Dieser Mensch wurde von der katholischen Kirche im Jahr 1690 heiliggesprochen (er ist ein Patron der Staatsanwälte und Feldkuraten). Er kam nach Wroclaw im Jahr 1453. Er wurde in die Stadt von König Ladislaus Postumus entsandt, um einen Fall der Hostienschändung zu untersuchen. Capistranus war so etwas wie ein Familienkaplan und Beichtvater der Königsfamilie, unter anderem vermählte er auch Anna, die Schwester des Ladislaus mit dem polnischen König Kazimir IV. Durch Folter erzwang er von örtlichen Juden ein Geständnis und in weiterer Folge wurden 41 Juden auf dem Scheiterhaufen verbrannt und weitere mehr als 400 aus der Stadt vertrieben. Ihr Besitz wurde eingezogen, was wahrscheinlich der ursprüngliche Grund der Mission von Capistran war. Es war die Gier, die die Menschen zu Tode hetzte. Im Jahr 1455 hat Ladislaus für die Stadt das „Privilegium de non tolerantis iudaeis“ erlassen, das den Juden den Verbleib im Stadtgebiet von Wroclaw untersagte. Mit einigen katholischen Heiligen wie Capistranus habe ich ein echtes Problem. Er hat sich seine Heiligsprechung verdient, als er an dem Kriegszug von Janos Hunyady und dem Sieg über die Türken bei Belgrad im Jahr 1456 teilgenommen hat. Er hat sich dabei gleich wie auch der Heerführer Hunyady mit Pest angesteckt und starb.

               Die Universität in Wroclaw produzierte acht Nobelpreisträger, was eine wirklich bewundernswerte Zahl ist. Unter ihnen war zum Beispiel der Schriftsteller Theodor Mommsen, der Atomphysiker Max Born, der Chemiker Eduard Buchner oder der Vater der deutschen Epidemiologie Paul Ehrlich. Leider war die Mehrheit von ihnen Juden und als im Jahr 1933 in Schlesien wie in ganz Deutschland Nazi die Macht übernahmen, hat das hohe Level der Universität ein jähes Ende genommen. Heute hat sie eine passable Qualität und fünf Fakultäten, medizinische, juristische, philosophische und zwei theologischen, eine katholische und eine evangelische. Weitere Nobelpreisträger zeugt sie aber nicht mehr.

               Ich wurde ein wenig von einem Burschen mit einem Degen in der Hand im Universitätsmuseum überrascht. Burschenschaften, die als Studentenvereine im neunzehnten Jahrhundert entstanden sind, sind heutzutage die Hauptträger der pangermanischen und rechtsradikalen Ideen. Das Fechten ohne Gesichtsschutz ist hier eine Pflicht und deshalb rühmt sich ein echter Bursche mit zumindest einer Hiebwundenarbe im Gesicht. In Wroclaw schockierte mich diese Tatsache nur kurz. In der Zeit, als diese Studentenvereine entstanden sind, gab es hier Preußen. Auch deshalb gibt es auf dem Brunnen vor der Universität eine Statue eines Burschen, der sich auf einem Degen stützt.

               Nicht weit von der Universität gibt es ein prachtvolles Gebäude des Ossolineums, des Museums des Grafen Ossolinski, das auch einen Teil des Manuskriptes des Romans „Pan Tadeas“ (Herr Thadeus) von Adam Mickiewicz (den zweiten Teil gibt es in Warschau) besitzt. Dieses Buch hat für die polnische Kultur als ein Symbol der nationalen Identität eine zentrale Bedeutung und dementsprechend groß ist die Verehrung des Werkes.

               Eine Kuriosität von Wroclaw, die sehenswert ist, ist das „Panorama von Raclawice“, das im „Park J-Slowacki“ unter der ehemaligen Stadtfestung, von der nur die Grundmauern erhalten blieben, steht. Dieses monumentale Werk ehrt ein Sieg der polnischen Rebellen unter der Anführung von Tadeus Kosciusko über die russische Übermacht bei dem Städtchen Raclawice am 4. April 1794. Dieses 14 Meter lange und 5 Meter hohe Bild stellt den Kampf dar– wahrscheinlich malten die Autoren Jan Styka und Wojciech Kossak jeden einzelnen Soldaten, weil in dem Scharmützel um die 2000 polnische Soldaten gegen ungefähr eine gleiche Zahl Russen kämpften. Die Schlacht hatte keine strategische Bedeutung, weil die Polen nicht im Stande waren, die geschlagenen Russen zu verfolgen, geschweige sie aus Kleinpolen zu verdrängen. Für den polnischen Nationalstolz hat aber dieses Ereignis eine riesige Symbolkraft.

Das Schicksal dieses Panoramabildes dokumentiert wieder einmal die bewegte Geschichte Polens. Ursprünglich wurde es in Lwow (Lemberg) gemalt und ausgestellt.  Lemberg gehörte bis zum Jahr 1939 zu Polen. Dann aber wurde der Ostteil Polens von der Roten Armee besetzt (Infolge des Vertrages zwischen Molotov und Ribbentrop, der den Deutschen den Westteil und den Russen den Ostteil Polens zusprach) und Russen zogen sich aus dem besetzten Land – wie es schon immer ihr Brauch war – nie mehr zurück. Auf der anderen Seite war Wroclaw, das vor dem Krieg 630 000 Einwohner hatte, nach dem Krieg praktisch entvölkert. Im Jahr 1946 lebten hier lediglich 170 000 Menschen und das waren überwiegend neue Einsiedler aus Lwow, die Stalin nicht mehr dort haben wollte. Sie mussten also nach Schlesien übersiedeln, das ein Teil von Polen wurde und sie durften ihr Raclawice-Monument mitnehmen. In der Sowjetunion wäre eine Verehrung des Sieges der polnischen Waffen über die russischen störend gewesen. Zumindest ließ es Stalin nicht vernichten, sondern im Jahr 1946 nach Wroclaw übertragen. Seit dem Jahr 1985 hat das Monument eine eigene Rotunde, die man besuchen kann. Auf den Eintritt muss man allerdings bis zu zwei Stunden warten, weil der Besuch des Monuments ein Pflichtprogramm aller polnischen Schulausflügen ist, die Wroclaw besuchen möchten.

               An dem Oderufer kann man die Markthalle besuchen. Sie ist riesig und es wird hier einfach alles angeboten. Am schönsten waren aber die Blumengeschäfte. Es gab hier eine unglaubliche Menge an Begräbniskränzen, alle sehr schön mit Schnittblumen, Orchideen, Rosen usw. In Wroclaw muss es einfach ein Vergnügen sein zu sterben. Der Kai und die Parkanlagen sind alle schön gepflegt und sauber, die Stadt ist dazu auch voll von schönen Mädchen. Eigentlich habe ich so viele hübsche junge Frauen noch nie gesehen, vielleicht mit Ausnahme Kopenhagen, aber im Gegensatz zu gleich schönen, lächelnden und gepflegten Däninnen sprechen die Polinnen nicht mit dem furchtbaren dänischen Dialekt, sondern mit einer lustigen, flotten polnischen Sprache (die ich dazu auch noch verstehen kann). Wenn ich aber in diesem Punkt meine männlichen Leser zum Besuch dieser Stadt motivieren konnte – die, wie bekannt, meistens nur wenige sind – kann ich auch meine weibliche Leserschaft beruhigen – an Wroclaw werden auch sie Gefallen finden. Nicht einmal moderne Kunst kommt zu kurz, es gibt in der Stadt eine Menge interessanter Freilichtskulpturen. Am Oderufer gibt es moderne Skulpturen und direkt vor unserem Hotel stiegen aus dem Boden Figuren der nach dem zweiten Weltkrieg vertriebenen Menschen. Wroclaw ist bereit, sogar mit seiner Vergangenheit abzurechnen.

               Wroclaw war im Jahr 2016 eine der zwei Kulturhauptstädte Europas (neben dem baskischen San Sebastian) und verdiente sich sicherlich diese Ehre. Hier trifft sich die alte Geschichte mit der neuen, die moderne Kultur mit der klassischen und sollte jemand die polnische Küche meiden wollen (die nicht gerade den besten Ruf genießt), gibt es eine verlockende Alternative im tschechischen Originalrestaurant in Swidnicka ulica 8a (ich hoffe nur, dass dieses Lokal die Coronakrise überlebt hat). Es wird hier das tschechische Prazdroj (Pilsner Urquel, bekanntlich das gesündeste Bier der Welt und dazu auch sehr wohl trinkbar) serviert und das Essen ist hervorragend – die Portionen waren so riesig, dass sie für zwei Personen ausreichten. Ich habe nicht widerstehen können und beide Entenkeulen aufgegessen. So konnte ich mir am nächsten Tag das Frühstück im Hotel ersparen.

               Aber am besten sind die Zwerge. Sie sind allanwesend. Sie kriechen überall hin und vermehren sich offensichtlich sehr schnell. Ihre kleinen Statuen aus Metall sind auf den Gehsteigen vor allen wichtigen Gebäuden, mit Laptop oder als Feuerwehrmänner oder vor der Universität als ein Herr Professor mit Brille. Sie verleihen der sowieso freundlichen Stadt den echten goldenen Punkt. Sie sind eine Erinnerung an die Studentenbewegung „Die Orangenalternative“ aus dem Ende der Achtziger, als diese an der örtlichen Universität entstanden ist. Der erste Zwerg entstand auf einer Metallkugel in der Swidnickastraße, nur ein paar Schritte von dem gezapften Pilsner Bier entfernt. Einen solchen Zwerg kann man bei „Towarystwo milostnikow wroclawie“ vor der Kirche der heiligen Elisabeth kaufen. Einen schöneren und lieberen findet man sonst nirgends.

               Also, wer in Wroclaw noch nicht war, sollte dieses kulturelles Defizit wettmachen.

Mainz II

Über die Altstadt ragt die Zitadelle empor.  Diese Festung ließ nach dem Westfälischen Frieden im Jahr 1648 Erzbischof Johann Philipp von Schönborn bauen. (Sollte der Namen jemanden an den amtierenden Erzbischof von Wien, Kardinal Christoph Schönborn erinnern, handelt sich hier um keine zufällige Ähnlichkeit, der Kardinal stammt aus dieser berühmten Kurfürstenfamilie). Nachdem die Festung dem Ansturm der französischen Truppen im Pfälzischen Erbfolgekrieg nicht statthalten konnte, gab ihr das heutige Aussehen Lothar Franz von Schönborn, der hier bis zum Jahr 1729 herrschte.

Im Jahr 1792 nach der Eroberung durch Franzosen wurde aus dem Tor der Festung das Wappen der Erzbischöfe ausgekratzt, heutzutage gibt es in der Festung neben dem bereits erwähnten Drususstein ein Städtisches historisches Museum mit lieben freiwilligen Führern – der Eintrittspreis ist auch freiwillig.

Mit Mainz ist eine der größten Erfindungen der Menschheit verbunden, eine Erfindung, die das Mittelalter beendete und die Neuzeit einläutete – der Buchdruck. Johann Guttenberg (mit eigenem Namen Gensfleisch) war ein mainzer Patrizier. Um die Ehre, der Geburtsort der modernen Zeit zu sein, kämpft Mainz mit Straßburg. In den Jahren 1434 – 1444 oder möglicherweise sogar bis zum Jahr 1448 lebte nämlich Guttenberg in Straßburg und führte dort seine Versuche durch, bei denen er nach einer Legierung für die Erzeugung seiner beweglichen Lettern suchte, die dem Druck der Druckmaschine standhalten könnten. Aus diesem Grund findet man ein Guttenberg-Denkmal auch in Straßburg. Die Stadt behauptet, dass Guttenberg seine Erfindung bereits dort vollendet hatte und nur dann nach Mainz zurückkehrte.  Die Tatsache ist, dass er nach seiner Rückkehr nach Mainz von mainzer Bürger Johann Fust einen Kredit in der Höhe 800 Gulden nahm und sich entschied, sein Werk zu realisieren. Es sollte sich um den Druck von 500 Stück Bibel handeln – das Alte- sowie auch das Neue Testament. Das Buch wurde auf der Frankfurter Messe im Jahr 1455 vorgestellt – und veränderte für immer den Lauf der Geschichte. Interessant ist, dass in Frankfurt gerade zu dieser Zeit Aeneas Silvius Piccolomini weilte, der Sekretär des Kaisers Friedrich III. und späterer Papst Pius II. Er erkannte sofort die Bedeutung der neuen Erfindung und versuchte ein kirchliches Monopol für den Buchdruck zu erlangen. Es gelang ihm nicht, gerade der Buchdruck verlieh der Reform von Luther Flügel und schwächte auf entscheidende Weise die Macht der Päpste. Aus ökonomischer Sicht war die Ausgabe der Bibel für Guttenberg eine Katastrophe. Er schätzte falsch die Produktionskosten ab, er ließ über die Alpen das beste Papier aus Italien holen (weil damals in Deutschland noch kein Papier produziert wurde) und die Auflage war bereits vor ihrer Erscheinung ausverkauft, daher war es nicht mehr möglich, den Preis zu erhöhen, um die Betriebskosten abzudecken. Guttenberg war nicht im Stande, Fust seine Investition zurückzuzahlen, beide Herren landeten vor Gericht und Fust gründete einen eigenen Buchdruckbetrieb. Guttenberg spezialisierte sich danach auf Druck von Flugblättern und Ablassbestätigungen, dadurch wurde er letztendlich doch vermögend.

An sein Wirken in der Stadt erinnert das Guttenberg-Museum in einem architektonisch ein bisschen inkompakten Stadtzentrum. Neben schönen historischen Gebäuden und supermodernen gläsernen Einkaufzentren gibt es hier auch formlose moderne Bauten mit Geschäften (am furchtbarsten ist das Kaufhaus Douglas vor dem Stadttheater, das ein echtes Architekturverbrechen ist). Mainz konnte nicht die katastrophalen Schäden, die es im zweiten Weltkrieg erlitten hatte, vollständig beseitigen. Im Museum im Untergeschoß gibt es eine Replik der historischen Druckerei von Guttenberg, hier gibt es auch Vorführungen des Druckes in der ursprünglichen Weise, auf den Geschoßen gibt es dann Darstellung der Buchdruckgeschichte von den Handschriften bis zum Buchdruck und das inklusiv China und Japan, wo die Entwicklung einen eigenen Weg nahm. Die wertvollsten Exponate sind drei Drucke der Guttenberg Bibel aus dem Jahr 1455. Wenn das erste Exemplar dieser Bibel im Jahr 1926 50 000 Reichsmark kostete, wurde die Zweibandbibel im Jahr 1979 in New York für 6 Millionen Mark ersteigert. Der Bürgermeister von Mainz schaute damals nicht auf die Kosten, er wollte um jeden Preis die Bibel in seiner Stadt haben. Die Folge ist ein furchtbares Gedränge um den Tresor, wo die Bibel ausgestellt wird, das Museum war (natürlich noch vor der Corona Krise) immer sehr übervölkert (Ich war dort im Jahr 2018 das vierte Mal und es war dort immer mehr Menschen, besonders Asiaten). Aber ein Besuch zahlt sich trotzdem aus. In dem Souvenirshop kann man Faksimile einzelner Seiten der Guttenberg Bibel kaufen, der Preis schwankt zwischen 35 und 20 000 Euro. Ich habe zwar nicht widerstehen können, habe mich allerdings für die billigere Variante entschieden.

Das Grab von Guttenberg findet man in Mainz nicht. Er wurde im Franziskanerkloster bestattet, das aber dem französischen Beschuss im Jahr 1793 zum Opfer fiel. Unter den Ruinen des Gebäudes verschwand auch das Grab eines der größten Entdecker der Menschengeschichte. Nach Guttenberg trägt auch die örtliche Universität ihren Namen, die im Jahr 1977 fünfhundert Jahre ihres Bestehens feierte, obwohl sie zwischen den Jahren 1802 und 1946 außer Betrieb war (sie wurde aber nicht offiziell aufgelöst).

Um nicht zu vergessen, wo kann man in Mainz gut essen? Gut und in einem interessanten Ambiente! Dann kann ich das „Heilig-Geist-Spital“ nahe dem Rheinufer empfehlen. Das Ufer wird mit drei furchtbaren Gebäuden geschmückt, mit dem Rathaus, mit der Rheingoldhalle als ein großes Konferenzzentrum und zum dritten steht hier das Hotel Hilton. Alle drei verderben unverbesserlich das Stadtbild, wenn man sie vom Fluss her betrachtet. Das Restaurant „Heilig Geist Spital“ ist dagegen hübsch. Ein ehemaliges mittelalterliches Spital für die Kranken und Armen gebaut im gotischen Stil, wurde in ein elegantes Restaurant mit einer sehr guten italienischen Küche umgebaut. Die Seele eines Historikers und die eines Gourmands jubeln bei dem Besuch gemeinsam.

In Mainz gibt es natürlich noch viele weiteren Sehenswürdigkeiten. Es gibt hier die St. Stephan Kirche mit Fenstern, die Marc Chagall entworfen hat. Der Künstler war bei diesem Auftrag im Jahr 1982 bereits 95 Jahre alt, aber das Ergebnis ist berauschend. Die blaue Farbe des Lichtes füllt die ganze Kirche, sogar die Orgel scheint blau zu sein, obwohl es natürlich nicht ist. Die Kirche ist übrigens die älteste in der Stadt, sie wurde bereits im Jahr 990 im Auftrag von Bischof Willigis gebaut.

Es gibt mehr als genug Kirchen in Mainz, nicht umsonst war die Stadt die Residenz des Erzbischofs und Kurfürsten. Die Kirche des Johanns des Täufers direkt neben der Kathedrale gehört jetzt den Protestanten, die Kirche des heiligen Quintinius, die monumentale rein barocke Kirche des Heiligen Petrus, die einen mit feinen Farben der Innenausstattung beeindruckt, oder die Kirche des Klosters der Karmeliten, direkt gegenüber des Hotel Hilton, die im Krieg vollständig vernichtet, aber später im gotischen Stil erneuert wurde. Weniger Glück hatte die Kirche des heiligen Christophorus, nicht weit von den Karmeliten. Nach den Grauen des Krieges blieb von ihr eine Ruine, es wurde lediglich die Kapelle des Heiligen Johannes wieder aufgebaut, der Rest blieb als ein Mahnmal des Schreckens, das der Krieg mit sich brachte und aus dem Hauptschiff der Kirche wurde ein Museum, die den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet ist.

Als eine Erinnerung an die ruhmreichen römischen Zeiten von Mogontiacum gibt es in der Stadt römische Steine als Reste eines damaligen Aquädukts. Das „Römisch germanisches Zentralmuseum“ im ehemaligen Kurfürstenpalast neben dem heutigen Landtag ist ein zentrales deutsches archäologisches Institut für die Erforschung der römischen historischen Epoche. Man kann es nicht besuchen, die Ausstellung, die man besuchen kann, wurde in das bereits erwähntes Museum der römischen Schifffahrt übersiedelt. Das Naturhistorische Museum ist besonders durch sein imposantes Gebäude interessant, in dem es sich befindet – es ist ein ehemaliges Kloster der Klarissinnen, das bei der Säkularisation im Jahr 1791 aufgehoben wurde. Von außen ist es ein prächtiges Gebäude einer gotischen Kirche, typisch für damalige Bettlerorden.

Von der Stadtbefestigung blieben einige Tore erhalten, Eisenturm nahe dem Rheinufer und Holzturm im südlichen Stadtteil.

Mainz ist hübsch trotz Narben, die auf seinem Körper das Wüten des Krieges hinterlassen hat. Es hat an seiner Bedeutung nichts verloren, dafür hilft die zentrale Lage am Rhein. In der Zeit nach Wiener Kongress gab es hier eine Zentrale des österreichischen Geheimdienstes, die hier Fürst Metternich gründete. Heute gewinnt die Öffentlichkeit. Im Stadtteil Lerchenberg befindet sich die Zentrale von ZDF (Zweites deutsche Fernseher) Im Jahr 1964 erwarb hier die Stadt Mainz ein Grundstück von der Größe eine Million Quadratmeter und gründete hier die Sendezentrum von ZDF.

Aber auch die Umgebung von Mainz ist sehenswert. Wer Zeit hat, kann auch das erzbischöfliche Schlösschen in Eltville am Rheinufer besuchen. Dieses begann Balduin von Luxemburg zu bauen, als er der Administrator des Erzbistums war, und hier schloss am 26. Mai 1349 Karl IV. Frieden mit seinem letzten Widersacher bei seiner Königswahl, dem todkranken (wahrscheinlich vergifteten) Günther von Schwarzburg. Wenn man am Flussufer sitzt und beobachtet, wie ein Frachtschiff nach dem anderen vorbeifährt, versteht man, welche Bedeutung der Rhein für die deutsche Wirtschaft hatte (und noch immer hat).

Nahe von Mainz befindet sich auch das Stift Eberbach, wo der Film „Der Name der Rose“ mit Sean Connery in der Rolle von William von Baskerwille gedreht wurde. Wenn man das Schlafzimmer der Mönche besucht, das im Film als Skriptorium diente, hat man das Gefühl, als ob die Tür in jedem Moment aufgehen und der große Sir Sean eintreten sollte.

Ungefähr fünfzig Kilometer flussabwärts zwischen endlosen Weinbergen gibt es dann ein Städtchen Bingen, wo die heilige Hildegard tätig war, ein Stück weiter gibt es dann den Felsen, wo die legendäre Lorelei sang und auf dem anderen Ufer dann die Stadt Rüdesheim, der Ort, wo der deutsche Cognac Asbach produziert wird mit einem Viertel der Weinkeller und Bordelle. Übrigens in Rüdesheim aß ich die wahrscheinlich beste Ente mit Orangensauce in meinem Leben.

Im Gebiet des Erzbischofs von Mainz konnte die Reformation, besonders die calvinische, nichts Böses anstellen. Meine Leser haben sicher bereits erkannt, dass Mainz meine Lieblingsstadt in Deutschland ist – und bleibt.

Mainz I

Wenn ich in dem Artikel über Wiesbaden über eine junge Stadt schrieb, deren Bedeutung höchstens zweihundert Jahre zurückliegt, befindet sich auf dem gegenüberliegenden Rheinufer eine weitere deutsche Landeshauptstadt (Die Hauptstädte der Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz trennt wirklich nur der Fluss und damit ca. 10 Kilometer), und die Geschichte dieser Stadt beginnt noch vor Christi Geburt.

Am 14. September des Jahres 9 vor Christi Geburt stürzte hier der adoptierte Sohn des Kaisers Augustus (der Sohn seiner Gattin Livia) Drusus vom Pferd und starb an den Folgen dieses Sturzes. An sein ruhmloses Ende erinnert der so genannte Drususstein, der in der Zitadelle der Stadt steht – derzeit überdeckt von einem grünen Netz, wahrscheinlich um seinen weiteren Zerfall durch Witterung zu verhindern. Drusus wurde in Rom verbrannt und begraben, in Mainz handelt es sich also um ein Scheingrab, ein so genanntes Kenotaph.

Mogontiacum, wie Mainz damals hieß, entwickelte sich in weiterer Folge zu einem wichtigen römischen Stützpunkt an der östlichen Grenze des Reiches und diese Tatsache hatte mehrere Gründe. Hier mündet nämlich der Fluss Main in den Rhein als eine Pforte in das damals barbarische Germanien und deshalb war Mainz ein wichtiger römischer Flusshafen. Zweitens ist die Region sehr günstig für Weinanbau – der berühmte Rheinwein stammt großteils aus der Umgebung von Mainz, es gibt hier riesige Weinproduzenten wie Kupfenberg (er hat in Mainz auch sein repräsentatives Restaurant „Kupfenberg Terrassen“ auf der Terrasse über die Altstadt) oder Henkel – der größte Sektproduzent. Auf dem gegenüber liegendem Rheinufer gab es dann warme Quellen, nach denen die Römer süchtig waren. Gerade deshalb bauten sie gerade in Mogontiacum die einzige Brücke über den Rhein, die auf dem östlichen Ufer durch eine Festung geschützt war – noch heute heißt dieses Stadtviertel Kastel – aus dem lateinischen Wort „castrum“.

An die römische Vergangenheit der Stadt erinnert neben dem bereits erwähnten Drususstein auch das römische Theater unter der Zitadelle,

das ausgegraben worden ist, als die Mainzer den Südbahnhof ausbauen wollten, und vor allem ein hervorragendes Museum der römischen Schifffahrt. Ehrlich gesagt, habe ich gar nicht so viel erwartet, als ich das Museum besuchen wollte. Aber die Mainzer schafften es aus dem Fund einiger Reste der römischen Flussschiffe ein absolutes Maximum zu holen, vielleicht noch ein bisschen mehr. Das Museum stellt nicht nur diese Schiffreste aus Holz aus, es gibt hier Modelle der römischen Schiffe in der natürlichen Größe, detailliert beschriebene Vorgänge beim Schiffbau seit dem alten Ägypten bis heute, detaillierte Informationen über die römische Flotte mit Beschreibung der einzelnen Funktionen in der Flotte sogar auch mit entsprechendem Lohn. Es gibt wirklich mehr als genug zum Schauen und wenn sich jemand für römische Geschichte interessiert, ist er hier absolut richtig – ein besseres Museum habe ich bisher nicht besucht.

Allerdings überwunden die Germanen im fünften Jahrhundert den Rhein und von Mogontiacum blieben nur rauchende Ruinen. Die Stadt musste wieder von Null beginnen und ihr Wideraufbau gelang. Ein großer Verdienst an der Auferstehung der Stadt hatte ein Bistum, das in achtem Jahrhundert zum Erzbistum erhoben wurde und für die Stadtentwicklung im Mittelalter und der frühen Neuzeit eine essentielle Rolle spielen sollte.

Zum ersten Mainzer Erzbischof wurde der heilige Bonifatius ernannt. Seine Statue kann man vor der Mainzer Kathedrale sehen.

Dieser Heilige hieß ursprünglich Winfried und er war ein Engländer. Den Namen Bonifatius (also „ein gutes Gesicht“) gab ihm der Papst, als er ihn zu einer Mission nach Mainz entsandte, um dort Ordnung in das damals noch chaotische germanische Christentum zu bringen. Bonifatius gab sein Bestes und war auch erfolgreich. Er errang eine wichtige Stellung am fränkischen königlichen Hof und setzte auf die richtige Karte, als er die Majordomus aus der Familie der Karolinger gegen die machtlosen Könige aus der Familie der Merowinger unterstützte. Nach einer Legende, die allerdings angezweifelt wird, war es Bonifatius, der im Jahr 751 den ersten König der neuen Dynastie Pippin „den Kurzen“ krönte. Weil ihm das Amt des mainzer Erzbischofs offensichtlich zu langweilig war, entschied er sich für den Märtyrertod und in seinen alten Jahren – er war schon achtzig – unternahm er eine Reise nach Norden, um die Friesen zu taufen. Die hatten aber nicht die geringste Lust sich taufen zu lassen und erschlugen den alten Missionar bei Dokkum. Der Leichnam von Bonifatius wurde nicht in Mainz begraben, sondern in Fulda, in einem Kloster, das er zu gründen half.

Die Machtbereiche der einzelnen Erzbistümer im Reich teilte Karl der Große ein und er war zu Mainz sehr freigiebig. Möglicherweise spielte dabei noch die Dankbarkeit Karls Vaters Pippin eine Rolle. Dieses Erzbistum wurde zu dem größten nördlich der Alpen, in seinen Machtbereich gehörte die ganze Mitte Deutschlands und bis 1346 sogar auch Tschechien mit Bistümern in Prag und Olmütz.

Die Dominante der Stadt ist die romanische Kathedrale, eine der vier berühmtesten in Deutschland (neben Speyr, Worms und Trier). Es ist ein Bau aus dem elften Jahrhundert und mit Ausnahme einiger späteren gotischen Zubauten ist es ein monumentaler homogener Bau im hochromanischen Stil.

Mit dem Bau hat Kaiser Heinrich IV. begonnen, der sich gerade im Kampf mit dem Papst um die Investitur befand und mit diesem Bau dem Papst den Wind aus den Segeln nehmen wollte. Das Ergebnis ist imposant. Die Kathedrale macht besonders in den Frühmorgenstunden einen düsteren Eindruck, in ihren drei Schiffen mit riesigen Säulen fühlt man sich verloren, aber im Moment, wenn durch die Fenster die ersten Sonnenstrahlen in das Kircheninnere dringen, bekommt der Raum ein unglaubliches Flair. Die Kirche hat zwei Apsiden, sie ist in Gegensatz zu anderen Kirchen nach Westen orientiert und der Westchor gehörte dem Erzbischof. Im Ostchor saß der König, nur eine Spur niedriger als der Domherr auf der anderen Seite der Kirche. Die Krypta befindet sich aber unter dem Ostchor.  Interessant sind die Grabsteine der mainzer Erzbischöfe. Die Nummer 1 und 2 gehören den so genannten Kaisermachern. Einer davon war Peter von Aspelt, ein Kanzler des tschechischen Königs Wenzel II. Dieser Bürger der Stadt Basel machte eine unglaubliche Karriere – er wurde durch die Intervention Wenzels zum Erzbischof von Mainz. Er hatte ein Verdienst an der Wahl Heinrichs VII. von Luxemburg zum Kaiser und nach seinem Tod hatte er den entscheidenden Einfluss auf die Wahl seines Nachfolgers Ludwig IV. von Bayern. Ein nicht-adeliger wurde so zum mächtigsten Mann in Deutschland. Auf seinem Grabstein ducken sich unter dem rechten Arm des riesigen Erzbischofs diese zwei Kaiser, während unter seinem linken Ellbogen steht der tschechische König Johann von Luxemburg, dem er zur tschechischen Königskrone verhalf.  Alle drei natürlich deutlich kleiner als der große Erzbischof.

Aspelt gegenüber gibt es den Grabstein von Siegfried III. von Eppstein. Dieser ließ gegen den damaligen Kaiser Friedrich II. gleich zwei Gegenkönige wählen, zuerst Landgraf von Thüringen Heinrich Raspe, den er sogar im mainzer Dom selbst krönte und als dieser viel zu früh starb, ließ er Wilhelm von Holland zu seinem Nachfolger wählen. Beide ducken sich auf dem Grabstein unter seine Arme und sind laut ihrem Gesichtsausdruck ihrem Wohltäter entsprechend dankbar. In den Fenstern der Kathedrale gibt es Porträts der Erzbischöfe aus Glas, diese Reihe endet mit Aspelt. Seit seinem Nachfolger Mathias von Buchegg werden die Porträts durch Wappen der neuen Herrn von Mainz ersetzt. Es wurde nämlich eine Regel erlassen, dass zum Erzbischof von Mainz nur ein Adeliger, der mindestens in sechs Generationen seine adelige Herkunft nachweisen konnte, werden durfte. Somit wurde mit dem Treiben gemeiner Bürger von Typ Aspelt, die sich einbildeten, die höchste Politik machen zu dürfen, Schluss gemacht.

Die Erzbischöfe von Mainz gehörten zu den sieben Reichskurfürsten, also zu Herren mit dem Wahlrecht bei der Wahl der römischen Könige. Wenn der tschechische König als der erste die Stimme abgeben durfte und damit die Richtung andeuten konnte, hatte der Erzbischof von Mainz das Recht, als der letzte die Stimme abzugeben, was ihm bei Stimmengleichheit eine besondere Bedeutung verlieh. Die Stadt mit der Umgebung beherrschten die Erzbischöfe bis zum Jahr 1792 als französische Truppen in die Stadt einmarschierten und mit dem kirchlichen Fürstentum ein schnelles Ende machten. Nicht immer war die Fürstenkrone des Erzbischofs ein Segen. Der Thron in Mainz war viel zu verlockend und so kämpften nicht nur einmal zwei Kandidaten um dieses Privileg. Im Jahr 1462 wurde die Stadt von den Truppen des päpstlichen Kandidaten Adolf II. von Nassau eingenommen und ausgeplündert und verlor alle ihre Rechte. Damals musste auch der berühmteste Bürger von Mainz Johann Guttenberg die Stadt verlassen (später durfte er aber zurückkehren).

Übrigens auch die Luthers Reformation hat indirekt mit Mainz zu tun. Albrecht von Brandenburg war im Jahr 1514 der Erzbischof von Magdeburg und der Administrator in Halberstadt. Das war ihm aber nicht genug. Er sehnte sich nach dem Titel eines Kurfürsten, war aber nicht bereit, auf die Einkünfte aus Magdeburg zu verzichten. Zwei verschiedene Erzbistümer zu verwalten (und besonders zwei Einkünfte zu konsumieren) widersprach den damaligen kirchlichen Gesetzen. Papst Leo X. (Giovanni Medici aus einer Kaufmannfamilie) war bereit, eine Ausnahme zu machen – wenn er dafür genug Geld bekommen würde, das der Fertigstellung des Petersdomes in Vatikan zugutekommen könnte. Albrecht ließ also in ganz Deutschland Ablässe verkaufen, er beauftragte mit dem Verkauf den größten Bankier der Zeit, Jakob Fugger, der dafür einen beträchtlichen Teil des Geldes selbst behalten durfte. Diese Unverschämtheit hat Martin Luther zu seinem Auftreten in Wittenberg am 31. Oktober 1517 veranlasst. Albrecht wurde trotzdem zum Kurfürsten von Mainz und blieb in dieser Funktion bis zum Jahr 1545, er wurde sogar zum Kardinal und Erzkanzler des Römischen Reiches. An seine Person erinnert der Rohrbrunnen auf dem Markt vor der Kathedrale und ein Grabstein drinnen, in den der Autor unter dem Porträt des Erzbischofs ein bisschen böswillig einen Teufel gemeißelt hat.

Wiesbaden II

Die Hauptachse der Stadt liegt außerhalb des historischen Zentrums und es ist die breite und repräsentative Wilhelmstraße, die den Namen des ersten deutschen Kaisers trägt.

               Sie führt vom Hauptbahnhof zum Kurhaus und läuft eigentlich auf dem ehemaligen, jetzt zugeschütteten Graben. Vor dem Kurhaus, einem großen Gebäude im neoklassizistischen Stil, mit einem großen Saal und dem Restaurant „Käfer“ gibt es das moderne Zentrum der Stadt mit so genannten „Bowling green“, wie die große Grasfläche vor dem Kurhauseingang von englischen Gästen genannt wurde – mit zwei Fontänen und einer Kolonnade, hinter der sich das Wiesbadener Theater befindet und dann ein großer englischer Park „Warmer Damm“. Zur Gründung dieses Parks, ohne den das heutige Wiesbaden unvorstellbar wäre, diente die Fläche vor den Stadtmauern, die in der Zeit der befestigten Städte nicht bebaut werden durfte, damit sich hier im Fall einer Belagerung der Feind nicht verstecken konnte. In den Jahren 1859 – 1860 wurde dieser 7 Hektar großer Park von Karl Friedrich Thelemann angelegt. Der zweite Teil des Parks, vielleicht sogar der schönere Teil, ist hinter dem Kurhaus versteckt und man kann hierher von der Terrasse kommen, die von dem Hintereingang des Gebäudes zugänglich ist.

               Warme Quellen sprudeln aus dem Boden in dem oberen Stadtteil zum Fuß des Gebirges Taunus. Direkt kann man sie auf dem „Kochbrunnenplatz“ sehen, wo es eine Fontäne mit dem natürlichen Thermenwasser und mit natürlichen Sedimenten gibt.

               Um diesen Platz stehen die prominentesten Hotels von Wiesbaden, außer anderen auch der „Nassauer Hof“, das „Hotel Palast“ oder das „Radison Blue Schwarzer Bock“ – natürlich jedes mit einer eigenen Hoteltherme von dem natürlichen Warmwasser aus der Tiefe der Erde gespeist. Wiesbaden lockte gerade dadurch seine Gäste an, logischerweise war hier auch Goethe, der wahrscheinlich alle Kurorte Europas in seinem Leben besucht hat, natürlich verliebte er sich auch hier, weil er sich praktisch überall verliebt hat.  In Wiesbaden war er mehrmals in den Jahren 1814 und 1815 und Marianne Jung, die er hier kennenlernte, widmete er sein Gedicht „Ginkgo biloba“.

               Das Literaturhaus Wiesbadens hat seinen Sitz in der Villa Clementine auf der Wilhelmstrasse, auf der gleichen Straße befindet sich auch das Stadtmuseum, das ich zu meiner Schande noch nie besucht habe, obwohl es sich direkt „vis á vis“ gegenüber der Kongresshalle befindet. Es ist wieder einmal ein monumentales Gebäude in klassizistischen Stil.  Es ist deshalb so groß, da es ursprünglich als Palast für den Kronprinzen Wilhelm gebaut wurde. Als der Vater von Wilhelm im Jahr 1816 überraschend starb und der Kronprinz zum neuen Herzog wurde, übersiedelte er in das Stadtschloss und das Gebäude war plötzlich frei. Die Gründung des Museums hat angeblich aus der Initiative des bereits erwähnten und wieder einmal anwesenden Johann Wolfgang Goethes stattgefunden. Wiesbaden ehrte ihn dafür mit einer Statue, die direkt vor dem Museumeingang steht (eigentlich sitzt).

               Auf dem Kochbrunnenplatz beginnt die Einkaufsmeile von Wiesbaden – die Tausnustraße. Sie verbindet das historische Fünfeck des Stadtzentrums mit dem Tal unter dem Neroberg, einem Aussichtsberg über Wiesbaden. Der Besuch des Nerotals zahlt sich schon deshalb aus, weil hier die Villen der reichsten Bürger von Wiesbaden stehen. Auf den Neroberg führt eine Seilbahn, die aber nicht das ganze Jahr in Betrieb ist. Sie wurde im Jahr 1888 bei der Gelegenheit der Thronbesteigung des neuen Kaisers Friedrich III. auf den deutschen Kaiserthron eröffnet.

               Zu Friedrich hatte Wiesbaden eine enge Beziehung. Dieser Kaiser, ein Intellektueller und ein guter Freund des österreichischen Kronprinzen Rudolfs, war eine Hoffnung des damaligen Europas. Er bemühte sich um eine Versöhnung zwischen den Nationen, er stand politisch der Sozialdemokratie nah, da er glaubte, dass die Vermögensverteilung zur Erhöhung der Kaufkraft der Bevölkerung und dadurch zu weiterem Wohlstandwachstum und zu ökonomischem Aufschwung führen würde – was sich in Zukunft bewahrheiten sollte. Die deutsche Industrie hätte sich mehr auf Eigenverbrauch orientieren sollen, um nicht mehr so stark vom Export abhängig zu sein, den das immer mehr zurückbleibende Großbritannien blockieren wollte. Das führte zur Spannung, die sich letztendlich im Gräuel des Ersten Weltkrieges entladen sollte. Friedrich verbrachte in Wiesbaden sehr viel Zeit und deshalb hat er vor dem Hotel „Nassauer Hof“ gegenüber dem Kurhaus seine Statue. Seine Aufenthalte in der Kurstadt hatten allerdings einen traurigen Grund. Friedrich war schwer krank. Als ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher erkrankte er an Kehlkopfkrebs und starb nach lediglich 99 Tagen Regierung im Alter von 57 Jahren – deshalb wird das Jahr 1888 in Deutschland als „Dreikaiserjahr“ genannt. Sein Sohn Wilhelm II. erbte weder sein Intellekt, noch seine Ideale und Europa nahm den Weg in die größte Tragödie seiner Geschichte.

               Nach Kaiser Friedrich heißt auch die öffentliche Stadttherme „Kaiser Friedrich Therme“, die sich in der nordwestlichen Ecke des historischen Stadtzentrums befindet. Die Öffnungszeiten für die Öffentlichkeit sind von zehn vormittags bis zehn abends, am Freitag und am Sonntag sogar bis Mitternacht. Die Eintrittskarte kostet im Sommer 5 und im Winter 6,50 Euro (Stand 2019) – für eine Stunde. Der Luxus – die Therme sind im Inneren im orientalen Stil gebaut – kostet halt was.

               Vom Neroberg, den man entweder zu Fuß besteigen oder sich mit der Seilbahn befördern lassen kann, hat man eine wunderschöne Aussicht auf die Stadt, die einem wortwörtlich zu Füssen liegt. Eine Kuriosität, die eines Besuches wert ist, ist die orthodoxe Kirche. Nein, die Herzöge von Hessen traten nicht zur Orthodoxie über. Einer von ihnen, Adolf, besuchte aber im Jahr 1843 Russland und verliebte sich dort in Prinzessin Jelizaveta Michailovna, eine Nichte der Zaren Alexander I. und Nikolai I. Sie erwiderte seine Liebe, im Jahr 1844 gab es eine Hochzeit und die russische Prinzessin übersiedelte nach Wiesbaden, wo sie ein Jahr später bei der Geburt ihres ersten Kindes starb – sie war 19 Jahre alt. Der verzweifelte Herzog ließ auf dem Neroberg eine Kirche bauen, in dem sie mit ihrem Kind begraben ist.

               Wiesbaden ist deutsche Hauptkurstadt, also irgendwie immer noch die zweite Hauptstadt Deutschlands. Bis heute habe ich nicht verstanden, warum Bonn und nicht Wiesbaden die Hauptstadt der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1945 – 1990 war. Vielleicht waren die Hessener nicht bereit, auf ihre Landeshauptstadt zugunsten der gesamten Republik zu verzichten. In jedem Fall ist Wiesbaden die Hauptstadt der deutschen Internisten und ich hoffe es noch einmal aus diesem Grund zu besuchen zu können. Gleich, wenn das Coronavirus Geschichte wird.

Wiesbaden

               In keiner deutschen Stadt war ich so häufig wie in Wiesbaden. Ich weiß eigentlich nicht einmal, wie oft es war, bestimmt mindestens siebenmal – über keine deutsche Stadt, die ich besucht habe, habe ich so wenig gewusst, wie über Wiesbaden.

               Der Grund dieses Widerspruchs ist der Kongress der deutschen Internisten, der in dieser Stadt alljährlich seit dem Jahr 1882 stattfindet, heuer also im Jahr 2021 bereits das 127. Mal. (Es gab offensichtlich auch Pausen, die durch Kriege und die unmittelbare Nachkriegszeit verursacht wurden). Meine Besuche in Wiesbaden beschränkten sich also meistens auf den Weg zwischen dem Hotel und der Kongresshalle. Die prächtige „Rhein-Main Hallen“ auf der Wilhelmstraße wurde in den letzten Jahren großzügig zu einem riesigen Gebäudekomplex aus Marmor und Glas umgebaut, damit deutsche Internisten (aber nicht nur sie) in würdigen Räumen tagen könnten. 

Wiesbaden Kongresshalle

Der Kongress wurde in Jahren des Umbaus nach Mannheim verlegt, was einen ziemlich großen Unwillen der Teilnehmer zur Folge hatte. Die deutschen Internisten dürfen sich nämlich in keinem anderen Ort als in Wiesbaden zu ihrem Kongress treffen, das wurde bereits bei der Gründung der Deutschen internistischen Gesellschaft in den Gründungbestimmungen festgeschrieben. Das sollte eine Vorbeugungsmaßnahme gegen den Berliner Zentralismus im neu entstandenen Deutschen Kaiserreich sein. Es war eine ein bisschen scheinheilige Entscheidung. Wiesbaden war eigentlich die zweite Hauptstadt Deutschlands, der kaiserliche Hof verbrachte die Sommersaison jedes Jahr in dieser Kurstadt, ähnlich wie der österreichische Kaiser in Bad Ischl.

               Der Grund des regelmäßigen Aufenthaltes der kaiserlichen Familie in Wiesbaden waren dortige Thermalquellen – an siebenundzwanzig Plätzen drängt hier das Wasser mit einer Temperatur 49 Grad Celsius an die Erdoberfläche und diese Quellen brachten Wiesbaden, wie dieser Ort bereits in der Zeit Karls des Großen genannt wurde (Wisibada), seinen Ruhm. Übrigens bereits für die Römer, die auf dem westlichen Rheinufer in Mogontiacum (heutigem Mainz) residiert haben, wurden diese Quellen zu so einer Versuchung, dass sie den Fluss überquerten und hier eine Siedlung namens „Aquae Mattiacorum“ gründeten. Gerade hier und aus diesem Grund begannen sie ihren „Limes romanum“ zu bauen, der die Flüsse Rhein und Donau verband und von Germanien eine Provinz namens „Argi decumatis“ abspaltete. Die Römer hielten sich hier bis zu den Jahren 260 – 270, bis sie von den Germanen doch gezwungen wurden, sich hinter den Schutz der europäischen Hauptströme zurückzuziehen und auf das warme Bad in schwefelhaltigen Thermen in Wiesbaden zu verzichten.

               Der wahre Ruhm von Wiesbaden begann aber nach dem Jahr 1816, als es zu Hauptstadt des vom Wiener Kongress neu gebildeten Großherzogtums Hessen wurde. Aus diesem Grund findet man hier keine Gebäude aus den Zeiten der Gotik oder der Renaissance. Es ist eine Kurstadt mit allem was dazu gehört, in erster Linie dann mit Luxus, den es gern zu Schau stellt.

               Die Altstadt ist bescheiden und bildet ein Fünfeck am Fuß des Gebirges Taunus. An ihrem oberen Ende kann man die Reste der römischen Vergangenheit in Form der so genannten „Heidenmauer“ sehen, in die in der modernen Zeit ein „Römertor“ für den Straßenverkehr geschlagen wurde. Um die Mauer sind römische Artefakte platziert, besonders damalige Grabsteine.

Heidenmauer

               Das Stadtzentrum bildet der Schlossplatz, der von drei Gebäuden dominiert wird und mehr oder weniger mit dem etwas größeren Marktplatz verbunden ist. Auf dem Marktplatz finden Märkte statt und es gibt hier ein elegantes Restaurant namens „Lumen“. Hier ein Bierchen zu trinken ist dank der Aussicht auf den Marktplatz angenehm, bezüglich Essen ist Lumen nicht unbedingt meine erste Wahl – aus dem immer wieder wiederkehrenden Grund. Die Bürger von Wiesbaden gehörten zur Reformierten Kirche, also zum Calvinismus.

               Aber zurück zum Schlossplatz mit seinen drei Gebäuden. Die Dominante der Stadt ist die „Marktkirche“, also die örtliche Kathedrale, deren schlanke rote Türme hoch in den Himmel emporragen und alle anderen Gebäude in der Stadt übertreffen.

In ihrem Inneren ist die Kathedrale nur sehr bescheiden geschmückt, freilich aus dem Grund, dass die Grafen von Nassau, aus denen dann später die Herzöge von Hessen wurden, dem calvinistischen Glauben anhörten. Vor der Kirche steht die Statue des berühmtesten Mitglieds der Nassauer Familie Wilhelm von Oranien, genannt „Schweiger“.

               Wilhelm, geboren im Jahr 1533 in Dillenburg, der damaligen Hauptstadt der Grafschaft Nassau-Dillenburg, sollte zum „Pater patriae“ der heutigen Niederlande werden. Das konnte er bei seiner Geburt nicht einmal ahnen. Als er allerdings elf Jahre alt war, machte ihn sein Onkel, der Herzog von Oranien, zum Universalerben seiner riesigen Besitzungen im heutigen Holland, damals waren es die habsburgischen Niederlande. Wilhelm wuchs am kaiserlichen Hof Karls V. auf und verstand sich mit dem toleranten Kaiser sehr gut – er war in dieser Zeit selbst noch ein Katholik. Nur die Schreckherrschaft Phillips II. und seiner rechten Hand, des Herzogs von Alba, rückte ihn immer mehr an die Seite der niederländischen Rebellen, die sich im Jahr 1566 gegen die spanische Unterdrückung erhoben haben. Wilhelm selbst trat unter dem Einfluss seiner zweiten Gattin Anna von Sachsen zur lutherischen Lehre über, später entschied er sich aber für die reformierte Kirche – seine zwei weiteren Gattinnen waren Hugenottinnen. Er selbst fühlte sich in erster Linie als Christ und die Konfessionen konnten ihm gestohlen bleiben. Er wollte nur seine Untertannen vor der brutalen Unterdrückung von Seite des fanatischen spanischen Königs schützen. Seine Freunde wurden vom Herzog von Alba heimtückisch gefangengenommen und hingerichtet, drei seine Brüder starben in Schlachten gegen spanische Heere. In damaliger Zeit war es nicht einfach „nur ein Christ“ zu sein, es wurde ein religiöser Fanatismus verlangt, gegen den Wilhelm schweigend – wie es sein Brauch war – Widerstand leistete. Die Aufständische riefen im Jahr 1581 in den sieben nördlichen niederländischen Provinzen eine Republik aus und wählten Wilhelm zum Landverweser. Philipp schrieb Kopfgeld für seinen Tod aus. Wilhelm überlebte das erste Attentat im Jahr 1582 mit Glück „nur“ schwer verletzt, seine dritte Gattin Charlotte von Bourbon-Montpesier kümmerte sich um ihn so selbstlos, dass sie selbst von Erschöpfung starb. Das zweite Attentat, das ein katholischer Fanatiker Balthasar Gérard durchführte, kostete Wilhelm das Leben. Den Willen der Holländer, ihre Freiheit zu verteidigen, konnte sein Tod aber nicht brechen, nach achtzig Jahren Krieg gewannen sie im Westphälischen Frieden im Jahr 1648 ihre Unabhängigkeit.

               Mit der Marktkirche ist noch eine Legende verbunden, die ich bei meinem ersten Besuch in Wiesbaden hörte, allerdings konnte ich später nie mehr den Namen der Person erforschen, mit der diese Legende verbunden war. Im Jahr 1866 wurde Hessen von Preußen eingenommen und wurde zum Mitglied des Norddeutschen Bundes. Damals war in der Marktkirche ein Pfarer tätig, der mit flammenden Reden gegen die preußische Okkupation kämpfte (Die Preußen waren im Gegensatz zu calvinistischen Einheimischen Lutheraner) und verteidigte die Unabhängigkeit von Hessen. Dann kam eine Vorladung nach Berlin. In der Überzeugung, dass er eingekerkert oder sogar hingerichtet werde, verabschiedete er sich von seinen Gläubigen und fuhr in der Erwartung eines Märtyrertodes nach Berlin. Dort wurde er von Kaiser Wilhelm I. empfangen und mit einer Medaille für Mut und Patriotismus geehrt. Verwirrt kehrte er nach Wiesbaden zurück, seinen Reden hörte niemand mehr zu. Der Widerstand in Wiesbaden wurde durch diese eine Medaille gebrochen. Kaiser Wilhelm war einfach ein listiger Fuchs. Er wärmte nämlich sehr gern seine alten Knochen in den Thermen von Wiesbaden, er brauchte also die Ruhe und die Liebe seiner neuen Untertanen.

               Das zweite imposante Gebäude auf dem Platz ist das Gebäude des neuen Rathauses, gebaut am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Neobarockstil. Im Rathaus befindet sich im Keller ein Restaurant „Ratskeller“, wo sich die Mönche aus dem bayerischen Kloster Achdechs eingenistet haben. Also natürlich nicht alle, sie öffneten hier ein Restaurant mit einer echten bayerischen Küche. Also für einen Calvinisten sicherlich eine Sünde, für einen Touristen ist der Besuch hier aber einer Sünde wert. Wie ich bereits mehrmals erwähnt habe, waren die Nassauer Calvinisten und wenn man die Möglichkeit hat, sollte man örtliche Spezialitäten lieber meiden. In Wiesbaden gibt es mehr als genug solche Möglichkeiten. Außer des bayerischen Gasthauses gibt es hier eine Menge italienische Restaurants, sogar das populäre Vappiano. In Wiesbaden kann man also trotz seiner calvinischen Vergangenheit sehr gut essen. Oder wenn man im interessanten Ambiente essen möchtet, bietet sich das Restaurant „Jagdschloss Platte“ im Gebirge Taunus in der Nähe der Stadt an.

Das ehemalige Jagdschloss der Herzöge von Nasau (gebaut von Herzog Wilhelm in den Jahren 1823 – 1826) wurde im zweiten Weltkrieg bis auf die Grundmauern zerstört. Eine Stiftung hat es bis zum Jahr 2007 restauriert, wobei aber die historischen mit modernen architektonischen Komponenten kombiniert wurden – der Ergebnis ist interessant und besuchswert.

               Das dritte Gebäude auf dem Schlossplatz ist das ziemlich unauffällige „Stadtschloss“. Es ist die ehemalige Residenz, die in den Jahren 1837 – 1841 Nassauer Herzöge bauen ließen und wo heutzutage der hessische Landtag seinen Sitz hat.

               Wiesbaden ist die Hauptstadt des Bundeslandes Hessen, obwohl es in diesem Land nicht die größte Stadt ist – das ist Frankfurt. (Frankfurt war nämlich nach dem Wiener Kongress eine freie Reichstadt und gehörte nicht zu Hessen). Wiesbaden ist eindeutig die reichste Stadt im Bundesland, nicht umsonst wird gesagt, dass das Geld, das man in Frankfurt verdient, in Wiesbaden ausgibt. Hunderte Luxusvillen in der Richtung vom Stadtzentrum in die Peripherie der Stadt, besonders im Stadtviertel Neroberg, legen von diesem Reichtum Zeugnis ab.

               Am südlichen Stadtrand gibt es die auffällige St. Bonifatius Kirche. Es handelt sich um eine katholische Kirche, was hier ein Kuriosum ist. Katholische Gottesdienste waren in der Nassauer Grafschaft streng verboten, die Grafen von Nassau waren ständig mit dem mächtigen Gegner konfrontiert – mit dem Erzbischof von Mainz, der sie über den Fluss anstarrte und große Landesteile sogar auf dem rechten Rheinufer in ihrer direkten Nachbarschaft besaß. Es dauerte bis zum Jahr 1787, als der tolerante Fürst Karl Wilhelm katholische Gottesdienste erlaubte, vorerst nur im privaten Bereich. Im Jahr 1820 durften die Katholiken endlich ein Grundstück auf dem Luisenplatz kaufen und hier eine Kirche im neogotischen Stil bauen, die ihren Namen nach dem Heiligen aus dem benachbarten Mainz, dem ersten dortigen Bischof, dem heiligen Bonifatius, bekam.

Luisenplatz

               Der Luisenplatz, der seinen Namen der Gattin des ersten Großherzogs von Hessen Wilhelm von Nassau verdankt, ist ein großes Rechteck. In seinem Zentrum steht ein Obelisk zu Ehre der gefallenen Soldaten, die in der Armee des Generals Wellington bei Waterloo kämpften und zur Napoleons Niederlage beitrugen. Das Zweite Denkmal mit einem auf den Hinterbeinen stehenden Pferd, das einen Besucher sogar mehr anzieht, ist neuer und ist dem Artillerieregiment Oranien aus dem ersten Weltkrieg gewidmet. Auf dem Luisenplatz vor der St. Bonifatius Kirche ist der Hauptverkehrsknoten – hier halten beinahe alle Buslinien, also wenn man irgendwohin in Wiesbaden mit dem Bus hinfahren möchte und nicht weiß, wo man einsteigen sollte, ist der Luisenplatz ein guter Tipp. Übrigens, unter dem Luisenplatz gibt es eine große Tiefgarage, also für die, die in die Stadt mit dem Auto kommen, ist es hier der beste Ausgangspunkt zum Kennenlernen der Stadt.

Rheinpfalz II

               Wenn wir uns vorige Woche am linken Rheinufer in dem kleinen Land namens Rheinpfalz bewegt haben, überqueren wir heute den Fluss und besuchen wir das rechte Ufer. Zu meiner großen Überraschung gehört dieser Teil der historischen Pfalz nicht mehr zum Bundesland Rheinland-Pfalz, wie es historisch gehört hätte, aber zu Baden-Württemberg. Auch diese Tatsache symbolisiert den Untergang des ehemaligen reichen und mächtigen Reichsgebietes. Aber gerade in die ruhmreichen Zeiten möchte ich euch jetzt führen.

 Ich möchte euch gerne zu einem historischen Spaziergang ins Zentrum der Pfalz einladen, nämlich in die Stadt Heidelberg. Diese am Fluss Neckar liegende Stadt versperrte den Weg von Rhein nach Osten und spielte deshalb eine strategisch wichtige Rolle. Sie wird für die schönste pfälzische Stadt gehalten, obwohl auch hier Franzosen im Jahr 1689 wüteten. Und wie! Gerade in Heidelberg ist ihr Toben am sichtbarsten und diese Spuren der Zerstörung verleihen der Stadt ein unvergleichbares Flair. Die riesige Festung, die über der Stadt emporragt, wird als die romantischste Ruine Deutschlands betrachtet und im neunzehnten Jahrhundert gab es kaum einen Dichter, der keine Verse unter den bedrohlichen Resten der einmal unüberwindbaren Mauern geschrieben und über die Liebe und die Vergeblichkeit des Seins gedichtet hätte. Ich gebe zu, dass ich selbst, als ich die Burg oberhalb der Stadt das erste Mal sah, sehr beeindruckt von ihrer Schönheit war, obwohl ich kein Dichter, sondern ein Prosaiker bin. Also schreibe ich jetzt anstatt eines Gedichtes einen Artikel. In der Burg von Heidelberg entstand nämlich die Idee es zu schreiben.

               Zuerst aber einen kurzen Ausflug in die Geschichte der Pfalz, um das heutige Heidelberg besser zu verstehen. Im Jahr 1214, also kurz nach Thronantritt des Kaisers Friedrich II. auf den römischen kaiserlichen Thron, kam die Familie der Wittelsbacher in den Besitz von Rheinpfalz. Friedrich II. nahm dieses Gebiet seinem Widersacher auf dem kaiserlichen Thron Otto IV. aus dem Stamm der Welfen weg und beauftragte mit der Verwaltung des Landes die Wittelsbacher, die seit 1180 in Bayern herrschten. Bayern wurde ihnen vom Friedrichs Großvater Friedrich Barbarossa geschenkt, der dieses Land dem Vater Kaisers Otto, Heinrich dem Löwen wegnahm – die Welfen und Staufen mochten sich einfach nicht und die Wittelsbacher (aber auch die österreichischen Babenberger) profitierten von diesem Streit. Sie haben einfach auf das richtige Pferd gesetzt. Während die bayerischen Wittelsbacher nach dem Tod Kaisers Ludwig IV. in sechs zerstrittene Linien zerfallen sind, stieg die rheinische Linie in ihrer Bedeutung. In der Goldenen Bulle Karls IV. aus dem Jahr 1356 wurden die Pfalzgrafen (nicht aber die bayerischen Herzöge) zu Kurfürsten, also zu Wählern der römischen Könige, ernannt. Diese waren sieben an der Zahl, im Westen war aber der pfälzische Kurfürst der einzige weltliche Fürst mit dem Wahlrecht (weitere drei westdeutsche Stimmen besaßen Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, im Osten des Reiches durften der tschechische König und die Herzöge von Sachsen und Brandenburg bei der königlichen Wahl ihre Stimmen abgeben.

Blick auf Heidelberg von der Burg

               Im Jahr 1386 wurde in Heidelberg eine Universität gegründet (die dritte Universität im deutschsprachigen Raum nach Prag und Wien). Lassen wir uns nicht irritieren – Karl IV. gründete die erste Universität in Prag als der römische, also der deutsche und nicht als der tschechische König und die Tschechen besaßen hier bei den Entscheidungen nur eine Stimme von vieren. Zu einer tschechischen Universität wurde die Prager Universität erst durch das Dekret von Kuttenberg aus dem Jahr 1410 – und dadurch verfiel sie in Bedeutungslosigkeit. Der erste Vortrag fand in Heidelberg am 18. Oktober 1386 vor 500 !!! Studenten statt. Zum Vergleich wurde für den ersten Jahrgang der Universität in Graz im Jahr 1586 ganze acht Studenten eingeschrieben. In Heidelberg las an diesem historischen Tage Magister Marsilius von Inghen über die Problematik der Logik. Die Universität in Heidelberg gelangte einen großen Ruhm und besonders in der Welt der Medizin ist sie berühmt bis heute. Ihre Bibliothek „Bibliotheca Palatina“ war weltberühmt, im Jahr 1623 schickte der bayerische Herzog Maximilian nach der Einnahme von Heidelberg im Rahmen des Dreißigjährigen Krieges dem Papst nach Rom 3600 Handschriften und 13 000 gedruckte Bücher und erhielt dafür vom erfreuten Pontifex als Gegenleistung 620 000 Gulden für den Kampf gegen die Ungläubige – gemeint waren natürlich die Protestanten. Nur ein Bruchteil dieses Schatzes kam nach den Napoleonischen Kriegen nach Heidelberg zurück, trotzdem zählt die Bibliothek an 2,5 Millionen Bände und unter ihnen gibt es auch Kopien der Handschriften, die sich seit 1623 im Original in Rom befinden.

               Im Jahr 1400 wurde der Pfalzgraf Ruprecht sogar zum Römischen König gewählt (nach der Absetzung des unfähigen tschechischen Königs Wenzel IV., der sich aber bis zu seinem Tod geweigert hat, seine Absetzung anzuerkennen). Ruprecht herrschte zehn Jahre, er blamierte sich aber eher als er geherrscht hätte. Es gelang ihm zum Beispiel niemals, nach Rom zur kaiserlichen Krönung zu kommen, obwohl er das – in Gegenteil zu Wenzel – mehrmals versuchte.

               Nach Ruprechts Tod im Jahr 1410 gründeten seine Nachkommen eine ganze Reihe von Nebenlinien und teilten das Gebiet der Rheinpfalz unter sich ein. Die Schönheit und die Pracht der Renaissancestadt Heidelberg kann man heutzutage an einem einzigen Haus, das das Jahr 1689 überlebt hat – es ist das Hotel „Zum Ritter“ – betrachten. Wenn man sich vorstellt, dass die meisten Häuser in damaligem Heidelberg ähnlich wie dieses Gebäude aussahen, muss man vor dem Wohlstand der damaligen Stadt den Hut ziehen.

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Nach dem Jahr 1585, als Kurfürst Friedrich III. starb und die Vollmacht für seinen unmündigen Sohn Friedrich IV. sein Onkel Johann Kasimir übernahm, trat die Rheinpfalz zur Reformierten Kirche, also zum calvinischen Glauben, über. Es handelte sich um eine Tat mit katastrophalen Folgen. Vorerst für die pfälzische Küche – wohin einmal die Lehre von Calvin kam, ist das Essen irreparabel verdorben. In weiterer Folge störte dieser Wechsel das Gleichgewicht der politischen Kräfte im Römischen Reich, wo seit 1555 der vom Kaiser Ferdinand I. verhandelte und äußerst brüchige „Augsburger Frieden“ geherrscht hatte. Der Übertritt der mächtigen Pfalz in das calvinische Lager bedeutete eine bedeutsame Kraftverschiebung, was eine politische Spannung erzeugte und in weiterer Folge zur Gründung der Protestantischen Union und der Katholischen Liga und zur Vorbereitung einer militärischen Konfrontation zwischen den beiden Lagern führte. Für die Pfalz war diese Entwicklung fatal. Nachdem Kurfürst Friedrich V. im Jahr 1619 gegen Ferdinand II. zum tschechischen König gewählt wurde, begann der Dreißigjähriger Krieg. Nach der Niederlage auf dem Weißen Berg bei Prag musste Friedrich nicht nur aus Prag flüchten, sondern die kaiserlichen Truppen besetzten auch sein Kernland, also die Pfalz mit Heidelberg. Gerade damals bemächtigte sich der bayerische Herzog Maximilian der berühmten pfälzischen Bibliothek und schenkte sie dem Papst in Rom, wo die Bücher bis heute geblieben sind. Im Jahr 1623 verlor Friedrich sein Land und die Kurfürstwürde, die an seinen fernen Verwandten, den rechtgläubigen und kämpferischen bayerischen Herzog Maximilian überging. Friedrich V. starb im englischen Exil im Jahr 1632 (er war mit der englischen Prinzessin Elisabeth Stuart, der Tochter des Königs James I. verheiratet). Nur nach dem „Westfälischen Frieden“, der im Jahr 1648 den Dreißigjährigen Krieg beendet hatte, bekam sein Sohn Karl Ludwig sein Land und die Kurfürstenstimme zurück (seit diesem Jahr gab es anstatt sieben acht Kurfürsten – für eine Wahl also eine absolut unsinnige gerade Zahl). Der Hauptstamm der Wittelsbacher starb im Jahr 1685 mit dem Enkelsohn von Friedrich V. Karl Ludwig II. aus und die Macht ging auf die Nebenlinie Pfalz-Neuburg über, die aber leider katholisch war. Diese Tatsache weckte in den calvinistischen Untertanen ein Misstrauen gegen ihren neuen Herrscher. In diesem Moment roch der französische König Ludwig XIV. seine Chance, da er sich immer die französische Ostgrenze am Rhein wünschte und er eröffnete im Namen seiner Schwägerin Liselotte (Schwester des verstorbenen Karl Ludwig und Gattin des Bruders von Ludwig), Prinzessin von Orleans, den Krieg um das Pfälzische Erbe.

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               Im November 1688 nahmen französische Truppen Heidelberg ein. Im Jahr 1693 mussten sie die Stadt räumen und Ludwig XIV. entschloss sich, verbrannte Erde zu hinterlassen. Alle besetzten deutschen Städte sollten vernichtet und dem Boden gleich gemacht werden. In Heidelberg verhielten sich die Franzosen ähnlich wie Deutschen in Warschau im Jahr 1944. Unter jedem Haus wurde Sprengstoff gelegt und ein Haus nach dem anderen in die Luft gejagt. (Nur unter dem Haus „Zum Ritter“ explodierte der Sprengstoff wahrscheinlich in Folge einer technischen Panne nicht). Die meiste Arbeit kostete die Soldaten des französischen Sonnenkönigs die Burg, die über der Stadt emporragte. Der Palast und alle Wehrtürme wurden mit Schießpulver gefüllt und dann gesprengt, manche der Türme mit bis zu sieben Meter dicken Mauern mussten sogar mehrmals gesprengt werden. Das Ergebnis dieser Mühe war die Entstehung der monumentalen Ruine, die im neunzehnten Jahrhundert alle deutschen Romantiker anzog wie die Motten das Licht.  Das Schloss von Heidelberg wurde zur romantischsten Ruine Europas und möglicherweise auch weltweit erklärt. Es ist nicht verkehrt. Die Burg aus rotem Sandstein ragt hoch über die Stadt empor (man kann sie zum Fuß oder mit der Seilbahn erreichen) und ist gigantisch. Es gibt Führungen durch die Ruine, die Guides können aber nicht viel zeigen. In der Burg gibt es dafür ein interessantes Museum der Pharmazie (in dem ich das erste Mal wirklich ordentlich in Kontakt mit dem Gründer der modernen Medizin Paracelsus kam), gigantische Weinfässer und auf den Resten der Fassade des Palastes gibt es Statuen pfälzischer Herzöge vom Bildhauer Sebastian Götz. Dass die Reihe mit dem Kaiser Karl dem Großen beginnt, kann man nur dadurch erklären, dass sich Götz sein Honorar verdienen wollte, der letzte in der Reihe rechts ganz unten ist der Vater des tschechischen „Winterkönigs“ Friedrich IV. Dann kamen die kaiserlichen Truppen des Generals Tilly und die pfälzische Idylle war dahin.

               Auch das Museum in der „Alten Universität“ ist eines Besuches wert. Besonders die „Alte Aula“ ein Festsaal, die zu besonderen Anläsen und auch als Konzertsaal dient. Natürlich sind alle Gebäude der „Alten Universität“ bei Wiederaufbau der Stadt nach dem Jahr 1693 entstanden, die „Alte Aula“ hat ihr heutiges Aussehen im Jahr 1886 anlässlich der Fünfhundertjahrfeier der Gründung der „Ruperto Carola Universität“ nach Plänen von Josef Durm bekommen. Interessant – zumindest für mich als Mediziner – sind im Museum medizinische Exponate und man sollte nicht vergessen, den „Studentenkarzer“ zu besuchen. Es ist ein Gefängnis, wo Studenten für ihre Verstöße gegen die öffentliche Ordnung Buße tun mussten und diese Verstöße gab es mehr als genug. Weil sich die jungen Insassen dort langweilten und kreativ waren, ist der ganze Karzer mit ihren möchtegern künstlerischen und witzigen Werken bekritzelt.

               Die Stadt selbst hat ihren Charme, besonders beim Blick von der Burg bei untergehender Sonne. Nach seiner Zerstörung wurde Heidelberg nicht mehr als eine Residenzstadt aufgebaut (Kurfürst Karl Philipp hatte von Streitigkeiten seinen katholischen und protestantischen Untertanen die Nase voll, weil sie sogar in der Mitte der städtischen Kathedrale (die auch der Vernichtung von Franzosen entging) eine Mauer bauten, damit sie sich gegenseitig nicht sahen und getrennt beten und Messen lesen konnten (diese Mauer blieb bis zum Jahr 1936). Der Kurfürst verlegte im Jahr 1720  die Hauptstadt der Pfalz in das nahegelegene Mannheim. Gerade deshalb ist Heidelberg eine junge Stadt, eine Studentenstadt und damit auch wirklich lieb.

               Für die Besucher, die Romantik nicht wirklich mögen und brauchen, gibt es in Heidelberg die längste Einkaufsmeile in Deutschland – sie ist sechs Kilometer lang und führt direkt durch die Mitte der Stadt.

               Wie bereits gesagt, im Jahr 1720 wurde die Residenzstadt der pfälzischen Kurfürsten nach Mannheim verlegt und dort beenden wir unseren Ausflug in die Rheinpfalz. Die Stadt entstand oder besser gesagt, erhielt die Stadtrechte, bereits im Jahr 1607, als der Vater des Winterkönigs Friedrich IV. auf dem Rheinufer die Festung Friedrichsburg zu bauen begann. Bei der Festung gründete er eine Stadt und weil er ein begeisterter Mathematiker war, ließ er die Straßen der neuen Stadt in rechten Winkeln bauen und anstatt den Straßen Namen zu geben, bezeichnete er die so entstandenen Quadrate mit den Buchstaben A bis U und Nummern eins bis sieben. Also man wohnt nicht in einer nach einem bekannten Politiker oder Künstler benannten Straße, sondern im Quadrat A1 oder zum Beispiel D6. An die gleiche Weise wird man zu unterirdischen Parkhäusern oder zu einzelnen Geschäften geführt. Die Hälfte der Altstadt wurde nämlich zu einem gigantischen Einkaufzentrum verwandelt. Das geschah in den Quadraten L1 bis U7. Die Quadrate A bis K behielten doch einen Hauch der Ursprünglichkeit und man kann dort sogar wohnen. Es ist ein praktisches System. Wenn man im Quadrat M5 parken soll und auf der vierten Straße fährt, ist es klar, dass man einfach abbiegen und um eine Straße weiter fahren muss. Einen Stadtplan braucht man nicht. Das einzige Chaos kann die Tatsache verursachen, dass die Nummer in der Mitte beginnen, die Nummer eins ist also links sowie auch rechts von der Hauptstraße, die direkt in der Mitte eines monumentalen Barockschloss endet (Zwischen den Quadraten A1 und L1). Mannheim behielt dieses System der Quadrate bis heute, nennt sich stolz „Quadratenstadt“ und lockt durch diese Kuriosität die Touristen an. Es hat nämlich im Vergleich mit anderen pfälzischen Städten nicht so viel zu bieten.

Eigentlich nur einen wunderschönen großen Park um den Wasserturm (Friedrichsplatz), ein großes Kongresszentrum „Rosengarten“ und das große Kurfürstenschloss am Rheinufer (angeblich das größte Barockschloss in Europa mit 440 Meter langer Fassade). Das Schloss ist von außen ein Beispiel des Hochbarocks, innen dann halb Rokoko und halb in Empirestil. In den Jahren 1806 – 1811 residierte hier nämlich das Ehepaar Großherzog von Baden Karl und seine Frau Stephanie de Beauharnais (eine Verwandte der Napoleons Gattin Josephine). Diese Dame kehrte im Jahr 1818 nach Mannheim zurück und ließ einen Flügel des Schlosses im damals modernen Stil des Empires einrichten. In der Zeit der Großherzogwitwe Stephanie erlebte das Schloss seine ruhmreichste Epoche.

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               Bereits im Jahr 1778 verlegte aber Kurfürst Karl Theodor die Hauptstadt seiner Länder nach München und Mannheim sowie auch die ganze Rheinpfalz verloren ihre politische Bedeutung. Der Verfall ist so weit gegangen, dass das Land letztendlich zwischen zwei Bundesländer aufgeteilt wurde, wobei die Grenze ganz einfach der Fluss Rhein bildet.

               Zum Schluss nur eine Warnung. Wie überall in der Welt kann man auch in der Rheinpfalz essen. Ich möchte aber auf diesem Wege eindringlich vor örtlichen Spezialitäten warnen. Ich probierte sie auch und es hätte mich fast das Leben gekostet. Damals habe ich noch nicht gewusst, was der Kurfürstonkel Johann Kasimir mit seinem Übertritt zu reformierter Kirche verbrochen hat. Wie ich meinem Artikel „Calvin ist an allem schuld“ geschrieben habe, muss man lokale Spezialitäten in den Ländern, wo dieser Glauben einmal Fuß fasste, unbedingt meiden. Versuchen Sie eine aufgewärmte und gewürzlose Ente zu essen. Ich habe es versucht. Versuchen Sie das nicht nachzumachen!

               Also – guten Appetit und schöne Reise!

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Rheinpfalz

   Da die Coronapandemie eine Reise nach Italien verhinderte, um weitere italienischen Städte zu besuchen, werde ich in den nächsten Artikel mit euch durch Deutschland reisen. Auch hier gibt es viel interessantes zu sehen mit ebenso interessantem historischen Hintergrund. Also nach einer Einleitung vor zwei Wochen, wo ich die calvinische Küche behandelte, beginnen wir die Reise im Westen in der Rheinpfalz.           

Pfalz bedeutet Festung. Wenn ein Land einen solchen Namen bekommen hat, gab es sicherlich einen Grund dafür. Wenn man die Karte von Deutschland aus dem neunten oder zehnten Jahrhundert anschaut, sieht man, dass das damalige Deutschland um den Fluss Rhein lag – der Rest von Deutschland war eigentlich nur Urwald, der in den darauffolgenden Jahrhunderten langsam gerodet wurde. Die Elbe und die Donau spielten bei weitem eine nicht so wichtige Rolle wie der Strom im Westen des Landes, also der Rhein. Die Bedeutung des Rheins realisierte ich vor einigen Jahren, als ich an seinem Ufer in Eltville saß und beobachtete, wie ein Schiff nach dem anderen auf dem Fluss fährt, mit der Spitze beinahe auf dem Heck des vor ihm fahrenden Schiffes klebend. Nicht umsonst ist der größte „deutsche“ Hafen nicht Hamburg, sondern Rotterdam.

               Gerade die Region um den Zusammenfluss von Rhein und Neckar hatte eine Sonderstellung und die Spuren dieser frühen berühmten Geschichte sind auch noch heute merkbar. Wahrscheinlich spielte hier auch das milde Klima eine bedeutende Rolle. Die Erde ist hier sehr fruchtbar und obwohl die Region deutlich nördlich der Steiermark liegt, war ich immer wieder überrascht, dass die Vegetation hier zwei Wochen Vorsprung vor Graz hatte. Der Zusammenfluss des Rheins mit dem Neckar, geschützt vor den nördlichen Winden und Unwettern durch die Hügel der Bergkette des Odenwaldes bildet ein sehr angenehmes Mikroklima und die Natur weiß das entsprechend zu nutzen. Traditionell wurde hier immer Wein angebaut, was auf eine römische Tradition zurückzuführen ist. Dieses Gebiet gehörte einmal zum Römischen Reich als die Provinz Germania Superior. Man kann hier eine gute Ernte fast aller Produkte erzielen, dass daraus die Einheimischen nichts Essbares kochen können, ist eine andere Geschichte. Die örtliche Küche ist nicht gerade empfehlenswert, das hat aber einen historischen Hintergrund, von dem ich vor zwei Wochen schrieb.

               Liebhaber der Historie möchte ich durch dieses kleine Land führen und ihre historischen Schätze, aber auch die Fallen zu zeigen, die hier auf den Besucher lauern könnten. Meine deutschen Leser verzeihen mir hoffentlich den Blick von außen. Es handelt sich um einen Blick eines interessierten Touristen, der logischerweise nicht alle Einzelheiten wissen kann. Für ergänzende oder korrigierende Bemerkungen werde ich dankbar sein.

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               Es handelt sich grundsätzlich um vier Städte, die besuchswert sind, Worms, Speyer, Heidelberg und Mainz. Zu Pfalz gehört auch Kaiserslautern, das seinen Namen dem legendären Kaiser Friedrich Barbarossa verdankt, es ist aber doch ein bisschen weiter, obwohl hierher ein Fahrradweg von Worms führt, genannt „Kaiserweg“. Weil dieser Weg inmitten der Weinberge und Wirtshäuser führt und 40 – 50 Kilometer lang ist, kann er für die Fans der Fahrradtouristik sehr verlockend sein. Gerade in Kaiserslautern gründete Barbarossa seine „Pfalz“, also eine Festung, die Deutschland von Westen schützen sollte und nach dieser Festung wurde dann die ganze Region benannt. Die Stadtrechte bekam Kaiserslautern von Rudolf von Habsburg um mehr als hundert Jahre später. Die Rheinpfalz war nämlich der Besitz und eine Stütze der Macht der deutschen Kaiser aus der Familie der Staufer.

               Heute werden wir uns auf dem linken Rheinufer aufhalten, auf das rechte Ufer kommen wir in zwei Wochen, ich habe nicht vor, die Geduld meiner Leser mit Artikeln, die länger als fünf Seiten sind, zu strapazieren.

               Wenn wir uns entscheiden, die Geschichte dieser Region zu verfolgen, müssen wir in der ältesten Stadt beginnen, also in Worms. Nicht aber aus dem Grund, dass diese Stadt unter dem Namen Borbetomagus bereits in den Zeiten des Römischen Reiches existierte oder sogar bereits früher – sie kämpft mit Trier um den Status der ältesten deutschen Stadt überhaupt. In Worms wurde laut einer Legende der heilige Martin gefangen gehalten, der den Militärdienst dem letzten heidnischen römischen Kaiser Julius Apostata verweigerte. Aber gerade in Worms spielt sich großteils die bekannteste Geschichte der altdeutschen Sagen ab, nämlich die Nibelungensage. Weil Nibelungen zum Stamm der Burgunder gehörten, dachte ich lange, dass sich die Geschichte um den unverletzlichen Helden Siegfried, seinem heimtückischen Mörder Hagen, der stolzen Königin Brunhild und der rachsüchtigen Kriemhild irgendwo im heutigen Burgund abgespielt hatte. Ich musste etwas Besseren belehrt werden. Die Burgunder röteten sich (natürlich mit Hilfe von Attila und König Theodorich) am Rheinufer aus. Das Burgunderreich, angeführt von drei Brüdern – Königen Gundaharius (Gunter), Godomaris (Gernot) und Gislaharius (Giselher) wurde tatsächlich im Jahr 437 von Hunnen unter Anführung von Attila (Etzel) vernichtet. Die Reste der Burgunder zogen dann nach Südwesten und gründeten am Fluss Rhône das spätere Burgunderreich. Deutsche Sagen kann man nicht mit dem in den Märchen üblichen Satz beenden „und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie bis heute“. Dort überlebt nämlich niemand!

               Über Siegfried stolpert man in Worms auf jedem Schritt – auf dem Siegfriedsbrunnen vor der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit, auf dem Weg vom Bahnhof ins Stadtzentrum, wo eine Skulptur das ganze Nibelungendrama inklusiv Siegfrieds Ermordung schildert oder auf dem Rad der Geschichte von Gustav Nonnenmacher (1914 – 2012) auf dem Obermark.

Das größte Denkmal hat aber der verräterische Hagen. Seine riesige Statue steht am Rheinufer, wo er in den Fluss den Nibelungenschatz vergraben hat – der seitdem allen Versuchen zum Trotz niemand gefunden hat. (Interessant ist, dass man den Namen Siegfried, Brunhild, Kriemhild, Gunter, Gernot oder sogar den Namen des Freundes Hagens Volker heutzutage nicht so selten begegnet, nicht aber Hagen. Dieser „größte Held“, der „Tronjer“, ist irgendwie in Ungnade gefallen). Und Giselher ist offensichtlich nicht genug sexy. Eine Nibelungenmuseum gibt es in Worms übrigens auch.

               Worms ist allerdings durch seine Kathedrale berühmt.

In Deutschland gibt es drei gigantische romanische Kathedralen – in Worms, Speyer und Mainz – logischerweise alle am Rhein. In diesem Artikel besuchen wir zwei davon. Die Kathedrale von Worms ist sicher besuchswert, obwohl sie ihre ursprüngliche romanische Innenausstattung verlor und innen barockisiert wurde. Worms verdankt seinen Aufstieg der Salischen Dynastie der deutschen Kaiser. Hier wurde der Gründer dieser Dynastie Konrad genannt „der Rote“ (er herrschte in den Jahren 1024 – 1036) geboren und begraben und von hier aus herrschten alle Heinrichs dieser Dynastie (der dritte bis der fünfte), wobei der mittlere, also der vierte in seinem Streit mit dem Papst Gregor seine Bußefahrt nach Canossa auf sich nehmen musste. Die drei Tage im Frost vor dem Tor der Festung Canossa brachte sein Blut zum Kochen. Nach seiner Absolution durch den Papst hat er den Pontifex in Rom angegriffen und vertrieben. Dieser starb dann in der Verbannung in Salerno und ob es für seine Seele ein Trost war, dass er später für seine Verdienste im Kampf gegen den Kaiser heiliggesprochen wurde, traue ich mich nicht abzuschätzen. Der Frieden zwischen der päpstlichen und kaiserlichen Macht, bekannt als „Wormser Konkordat“, wurde – wie es schon der Name dieses Dokumentes sagt – in Worms im Jahr 1122 unterschrieben und drei Jahre später starben die Salier mit Heinrich dem fünften aus. Ihre Nachfolger, die Staufen, übernahmen von ihnen die Liebe zur Residenzstadt. Friedrich Barbarossa ließ zur Kathedrale das nördliche Portal bauen, mit seiner eigenen Darstellung über die Eintritspforte.

Durch diesen Eingang betrat der Kaiser mit seiner Begleitung die Kirche bei feierlichen Anlässen, damit er nicht durch die Menschenmassen des gemeinen Volkes gehen musste. In der Kathedrale von Worms heiratete sein Enkel Friedrich II. im Jahr 1235 Isabella von England (sie war seine dritte Frau, wenn man seine größte Liebe Bianca Lancia nicht zählt), einen Tag vor dieser Hochzeit wurde – ebenso in Worms – der Kaisersohn Heinrich (VII) (aus der ersten Ehe des Kaisers mit Konstanze von Aragon) von seinem Vater gefangengenommen und ins Gefängnis geworfen, aus dem er nie mehr herauskam.

               Worms ist auch durch seine jüdische Geschichte berühmt. Weil die Juden im Reich einen direkten Schutz des Kaisers genossen (sie zahlten ihm dafür eine spezielle Steuer – einen so genannten „Jüdischen Groschen“ – diesen Schutz hat Kaiser Karl IV. aufgehoben) ist das kein Wunder, dass sie den Schutz direkt in der Residenzstadt suchten. Heute findet man noch immer viele Erinnerungen an die jüdische Vergangenheit der Stadt inklusiv Synagoge, Jeschiwa und Friedhof (so genannter „Heiliger Sand“), die man besuchen kann.

               Worms ist keine kompakte historische Stadt. Diese Tatsache ist die Folge der zweimaligen Zerstörung der Stadt. Die erste kam im Jahr 1689 in Rahmen des Pfälzer Erbfolgekrieges (1688 – 1697). In die Stadt zogen französische Truppen des Königs Ludwig XIV. ein und machten die Stadt dem Erdboden gleich – auch die berühmte Kathedrale fiel einem Brand zum Opfer. Diese fatale Tätigkeit der Franzosen in der Pfalz werde ich noch mehrmals erwähnen müssen. Die Stadt wurde neu aufgebaut (deshalb ist die Innenausstattung der Kathedrale barock), obwohl an der Stelle des ehemaligen prächtigen Rathauses (eines Gebäudes mit einem symbolischen Namen „Münze“) die Dreifaltigkeitskirche gebaut wurde. (Der Besuch der Franzosen wurde von den Einheimischen als Strafe Gottes gewertet). Das zweite Mal wurde die Stadt durch die Bombardierung der Alliierten im April 1945 vernichtet und deshalb stehen zwischen den historischen Gebäuden (man sagt, Worms hätte die größte Anzahl der romanischen Baudenkmäler im ganzen Deutschland und ich habe es wirklich bis zu meinem Besuch von Köln geglaubt) findet man – ähnlich wie zum Beispiel in Mainz – moderne Häuser, wodurch der Gesamteindruck gestört wird.

               Worms ist unmittelbar mit dem Namen Martin Luthers verbunden.

Er wurde zum Reichstag in Worms, der im Jahr 1521 abgehalten wurde, eingeladen, um vor dem Kaiser Karl V. seiner Lehre abzuschwören. Als er sich weigerte und seine berühmten Worte sagte: „Hier stehe ich. Gott helfe mir. Amen.“ wurde ihm trotzdem vom Kaiser ein freies Geleit gestattet. Wenn also Karl ehrlicher als Sigismund von Luxemburg im Falle von Jan Hus im Jahr 1415 war, hatte er als Kaiser umso weniger politische Erfolge. Einem ehrlichen Politiker wird offensichtlich ein Erfolg verwehrt.

               Luther ist in Worms ein riesiges Denkmal gewidmet, wo er mit seinen Unterstützern, Mitstreitern sowie auch Vorgängern dargestellt wird. Unter ihnen hat neben Petrus Valdes, Giacomo Savonarola und John Wyclif auch der bereits erwähnte Jan Hus seine Statue.

               Auf dem gleichen Reichstag wurde infolge der Intervention der Tante des Kaisers Margarete über die Teilung der habsburgischen Länder zwischen dem damals einundzwanzig Jahre alten Kaiser und seinem achtzehnjährigen Bruder Ferdinand, der später zum Kaiser Ferdinand I. werden sollte am 28.April 1521 entschieden. Hier fiel auch die Entscheidung, dass Ferdinand die Prinzessin Anna von Böhmen heiraten sollte (was dann am 26.Mai 1521 in Linz wirklich passierte), was ihm später auch die tschechische und ungarische königliche Krone brachte. In die Heiratsurkunde aus dem Jahr 1515 konnte endlich auf der leeren Stelle neben der Braut der Name des Bräutigams geschrieben werden. Im Jahr 1515 war nämlich noch nicht klar, wer die damals zwölfjährige Anna heiraten würde, ob Karl oder Ferdinand. Die Hochzeit fand also in Vertretung statt, der Bräutigam wurde durch den Großvater beider Kandidaten, den Kaiser Maximilian I., vertreten und in der Heiratsurkunde wurde eine freie Stelle gelassen. Die Hochzeit zwischen Ferdinand und Anna wurde allerdings am 26. Mai 1521 in Linz wiederholt und aus der glücklichen Ehe entsprangen fünfzehn Kinder. Auch dieses Glück der habsburgischen Familie hatte also ihren Ursprung in Worms.

               Wir verlassen aber jetzt das historische Worms und ziehen einige Kilometer und Jahre in der Geschichte weiter, nämlich nach Speyer. Speyer ist ein wunderschönes Städtchen. Wenn Worms als eine moderne Stadt mit zerstreuten historischen Denkmälern wirkt, ist Speyer ein einziges historisches Denkmal, dominiert natürlich von seiner gigantischen romanischen Kathedrale.

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Auch Speyer wurde durch französische Truppen im Jahr 1689 dem Boden gleichgemacht. Und dann noch einmal durch die französische Revolutionsarmee im Jahr 1793 – die Nachbarschaft der „Grande Nation“ war für diese Region wirklich kein Segen. Der Kaiser Friedrich Barbarossa wusste ganz genau, warum er sein Kaiserslautern gebaut hatte, aber nicht einmal das hat gegen die Franzosen geholfen. Gott sei Dank wurde aber die Kathedrale in Speyer verschont und was dann später um diese Kirche aufgebaut wurde und den Charme eines lieben Städtchens besaß, war den Alliierten im zweiten Weltkrieg keine Bombe wert. Deshalb ist der Besuch von Speyer ein liebes Erlebnis.

               Natürlich muss man die Kathedrale besuchen. Es ist ein riesiges Gebäude, man darf sich nicht durch ihren ersten Eindruck abschrecken lassen. Alle drei romanischen Kathedralen wirken ein bisschen düster, die Zeit der großen gotischen Fenster sollte nur noch kommen. Die Kathedrale in Speyer begann bereits der Gründer der Salischen Dynastie Konrad II. im Jahr 1030 zu bauen. Er selbst erlebte die Vollendung der Kirche nicht und aus diesem Grund ist er als der einzige Salier in Worms begraben. Seine Nachfolger ruhen in der Krypta der Kathedrale in Speyer. Hier sind auch die ersten zwei römische Könige aus der Familie Habsburg begraben – Rudolf I. (er starb im Jahr 1291) und sein Sohn Albrecht (ermordet im Jahr 1308). Die Habsburger wollten damit ihre Nachfolgerschaft der Salier und den Abstand zu den Staufen, mit denen die römische Kurie nicht gerade gute Beziehungen hatte, demonstrieren. Interessant ist das Portrait von Rudolf auf seinem Sarkophag.

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Damalige Herrscher ließen sich üblicherweise in einer idealisierten Darstellung als triumphierende schöne Männer abbilden. Die Abbildung Rudolfs als eines alten müden Mannes entsprach seinem wirklichen Aussehen und entstand in dieser Form auf seinen ausdrücklichen Wunsch. Rudolf wollte nicht idealisiert, er wollte wahrhaft dargestellt werden, was in dieser Zeit eine absolut ungewöhnliche Sache war. Die Renaissance, die in der Herrschaftszeit von Friedrich II. ihren Ursprung fand und von der Kirche erbittert bekämpft wurde, war noch weit entfernt.

               Die Kathedrale in Speyer hat eine Bedeutung auch für tschechische Geschichte. Am 30.August 1310 heiratete hier der vierzehnjährige Sohn des Kaisers Heinrich VII. von Luxemburg Johann die achtzehnjährige Erbin des tschechischen Königreiches Elisabeth. Diese Hochzeit wies die Richtung nicht nur der tschechischen, sondern auch der europäischen Geschichte. Sie begründete die hundert Jahre dauernde Vorherrschaft der Luxemburger in Europa und aus dieser Ehe stammt der große Kaiser Karl IV., der Autor der „Goldenen Bulle“ aus dem Jahr 1356, eigentlich der ersten Verfassung des Römischen Reiches der deutschen Nation.

               In Speyer gibt es noch eine Kirche, die in der europäischen Geschichte eine bedeutende Rolle spielt. Gerade in dieser Kirche PROTESTIERTEN deutsche Fürsten, die inzwischen zur Lehre Martin Luthers übertreten waren, gegen die kaiserliche Entscheidung, diese Lehre zu verbieten. Es geschah auf dem Reichstag in Speyer im Jahr 1529 und seit diesen Tagen nennt man die reformierten Christen Protestanten.

               Speyer war einmal eine prächtige Stadt mit 68 Stadttoren und 38 Kirchen. Hier fanden 50 Reichstage statt. Auf einem von ihnen überzeugte zu Weihnachten 1146 der Gründer der Zisterzienserordens Bernhard von Clairvaux Kaiser Konrad III. zum Ausrufen des zweiten Kreuzzuges. Der letzte Reichstag in Speyer fand im Jahr 1570 statt, danach verlor die Stadt ihre Bedeutung und der Dreißigjähriger Krieg hinterließ in ihrer Pracht tiefe Narben. In der Stadt hatte seit 1526 das Reichskammergericht ihren Sitz, und zwar bis zur Vernichtung der Stadt im Jahr 1689.

               Das neue Speyer drückt sich um die Maximilianstrasse, es hat aber einen Charme und man findet hier schöne Gebäude wie zum Beispiel die „Alte Münze“, wo das Stadtpatriziat tagte, oder das Rathaus aus den Jahren 1712 – 1716. Und letztendlich auf der Gegenseite des Städtchens das „Altpörtel“, ein der schönsten Stadttore in Deutschland.

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Das Tor mit seinem Turm stammt aus dem Jahr 1230, wie es das Wüten der Französen im Jahr 1689 und 1793 überleben konnte, habe ich nicht erfahren. Und weiters, in Speyer gibt es das „Historische Museum der Pfalz“ mit Geschichte der gesamten Region von den römischen Zeiten bis heute, natürlich mit Betonung des ruhmreichen Mittelalters.

               Speyer ist wirklich sehr schön, wir verlassen es mit einem guten Gefühl, um ins Zentrum der Pfalz zu reisen, nämlich nach Heidelberg. Das aber in zwei Wochen, heute war es schon genug.

Calvin ist an allem Schuld

               Es hat überraschenderweise bereits in Genf begonnen. Ich meine damit meine Zweifel. Für eine Stadt mit Französisch als Amtssprache war die örtliche Küche ziemlich arm. Ich suchte allerdings die Schuld bei mir. In Genf hat nämlich so gut wie niemand Deutsch gesprochen (mit Ausnahme des Eintrittskartenverkäufers an der Kassa im Museum des Protestantismus) Englisch auch nicht und ich kann wieder nicht Französisch. Ich dachte also, dass ich die richtigen Lokale in Folge des Informationsmangels einfach nicht gefunden habe. Das glaubte ich damals wirklich. Dafür durften wir in der Kathedrale von Genf einen Stuhl sehen, auf dem Jean Calvin persönlich gesessen war und gepredigt hatte. Ein normales Möbelstück, allerdings mit Geschichte. Ich habe den Stuhl sogar fotografiert! Damals habe ich Calvin für einen Reformator wie jeden anderen gehalten und hatte ich ihm nichts vorzuwerfen.

               Dann entschied ich mich, örtliche Spezialitäten in Amsterdam zu verkosten. Ich habe nämlich eine dumme Eigenschaft und die heißt Neugier. Also esse ich örtliche Spezialitäten überall, wohin wir reisen. Die Erbsensuppe mit Speck war noch ziemlich essbar, die panierten Kugeln mit merkwürdigem, nicht wirklich identifizierbarem schmierigem Inhalt genannt Bitterballen, das war schon ein anderer Kaffee. (Übrigens der Reiseführer von Amsterdam warnt davon zu versuchen zu erkunden, was in den Kugeln wirklich ist). Der Kaffee war übrigens in Amsterdam auch miserabel. Nur so nebenbei habe ich erfahren, dass die Stadt im sechzehnten Jahrhundert zum Calvinismus, also zur Reformierten Kirche übergetreten war. Die Zusammenhänge blieben mir zu diesem Zeitpunkt noch verborgen.

               Und dann fuhren wir einmal nach Bremen. Im Rathauskeller, also in einem der besten Restaurants in der Stadt, bat ich den Kellner um eine örtliche Spezialität um die Mentalität dieser Stadt, die besonders in der Oleanderblütezeit so wunderschön ist, noch besser kennen zu lernen. Und ich bekam den Seemannlaubkaus. Mein erster Gedanke war, dass der Koch wahnsinnig geworden ist und der Kellner diese Tatsache fahrlässig übersehen hat. Das Essen sah so aus, als ob bei seiner Entstehung folgende Geschichte geschah: „Die Matrosen von Bremen stachen in See und zum Mittag aßen sie Kartoffeln mit Selchfleisch. Nachmittag ist dann ein starker Sturm gekommen und so konnten sie das bereits verzehrte Mittagessen noch einmal zu Abend zu sich nehmen.“ Zu diesem gemixten Brei aus Selchfleisch und Kartoffelpüree ohne jedes Gewürz wurde noch Hering mit Roten Rüben serviert. Ich verhandelte mit dem Kellner, dass ich bereit bin, die Hälfte des Preises zu bezahlen. Die zweite Hälfte sollte der Mensch bezahlen, der diese Mahlzeit bereits vor mir im Magen hatte. Ich hatte keinen Erfolg, der Ober hatte keinen Sinn für Humor und dachte sicher, dass ich nicht richtig Deutsch konnte. Die Tatsache, dass in Bremen Calvinisten an der Macht waren, weckte in mir das erste Mal einen Verdacht, dass es Zusammenhänge geben könnte. Ich roch die Spur…

Und dann plötzlich wurden mir meine Augen geöffnet. Das geschah im Deutschen historischen Museum in Berlin, als ich erfuhr, dass die ganze Rheinpfalz, also das Gebiet um Heidelberg und Mannheim, im Jahr 1566 zur Lehre Calvins konvertierte. Alte Erinnerungen wurden wach. Das war vor einigen Jahren, als ich nach Heidelberg fuhr, um meine Frau nach Hause zu holen. Sie konnte nämlich die weiße, rote und braune Saucen, die sich nur durch die Farbe, nicht aber durch Geschmack unterschieden, weil sie keinen hatten, und im Krankenhausspeisesaal zu jedem Essen (na ja zu jedem Essen, es war immer Faschiertes) serviert wurden, nicht mehr vertragen. Sie versuchte zu erfahren, wo man in Heidelberg gut essen konnte. Es wurde ihr gesagt, dass es in Wiesloch wäre, in einem Städtchen südlich von Heidelberg. Dort gäbe es ein berühmtes und hervorragendes Lokal nach der die Art des österreichischen Buschenschanks (in Wien heißen diese Lokale Heurige, diese Bemerkung natürlich nur für meine Leser aus Deutschland oder anderen Ländern) und dort könnte man sehr gut essen. Wir fuhren hin. Vor dem Lokal stand eine Unmenge von Autos. Wir kauften eine Eintrittskarte um 13,50 Euro, die uns berechtigt hat, so viel zu essen, wieviel wir mochten. Das Problem war, dass wir nach einer halben Portion Ente nichts mehr essen konnten. Das Essen war gewürzlos und wahrscheinlich aufgewärmt und ein paar Bissen, die ich verzehrt hatte, wuchsen in meinem Magen zu einer ungeheuren Größe, für die mein Magen einfach zu klein war. Hätten wir nicht eine Flasche österreichischen Marillenschnapps mit, hätte ich möglicherweise die halbe Portion, die ich im Hunger verzehrte, nicht überlebt. Das schockierte mich. Die Pfalzregion hat unglaublich günstiges Klima, es wächst hier alles inklusiv Wein, die Vegetation ist zwei Wochen vor Graz, obwohl viel mehr nördlich gelegen ist – warum können die Pfälzer aus dieser Gabe nichts Essbares kreieren? In Berlin habe ich es verstanden – es war die Schuld von Calvin!

               Ich las und fand, dass in der Lehre von Calvin jede Wohllust des Körpers eine Sünde war, also das gute Essen genau wie auch ehelicher Geschlechtsverkehr (wenn gut war) und der Rechtgläubige strengte sich an, eine Sünde zu vermeiden, um die Erlösung zu erfahren und in den Himmel zu kommen. Also offensichtlich, überall wohin die Anhänger dieser Lehre kamen, vernichteten sie als die erste Tat die örtliche Küche (wie sie das mit dem Geschlechtsverkehr taten, habe ich nicht erfahren können, obwohl es in Amsterdam mehr als genug Gelegenheit dazu gab). Obwohl gerade das „Rote Viertel“ von Amsterdam mich zum Nachdenken brachte. Entstand es nicht gerade deshalb, weil es zu Hause zu öd war? Übrigens die größte Kirche in Amsterdam „Oude Kerk“, befindet sich direkt in der Mitte des roten Viertels. Also, man konnte gleich nach der Sünde in die Kirche gehen und sich vor Gott rechtfertigen. Vom Wohnhaus und vom Ehebett war es erstens weiter, und zweitens hätte die Gattin dumme Bemerkungen machen können. Nach dem Besuch eines Bordells maulte niemand und die Kirche war gleich zur Hand. Die Protestanten brauchen zum Dialog mit Gott nicht unbedingt einen Priester, weil es bei ihnen keine Ohrenbeichte gibt. Es ist natürlich intellektuell viel anspruchsvoller, die Sünden vor Gott, ohne einen Vermittler direkt zu rechtfertigen, weil es auch keine Absolution gibt. Aber wenn am nächsten Tag die Geschäfte wieder gut laufen, ist es ein klarer Beweis, dass Gott dem die Buße tuenden Sünder seine Gunst nicht entzogen hat. Darüber später.         

               Mein Bild hat sich also vollendet und ich erlaube mir einen kleinen Tipp denen zu geben, die  ähnlich wie ich gerne örtliche Spezialitäten kosten. Erfahren Sie zuerst, ob in der Stadt, die Sie besuchen möchten, nicht einmal – vielleicht auch nur für eine kurze Zeit – die Calviner an der Macht waren. Dann ist Vorsicht geboten. Lassen sie lieber die Finger von den örtlichen Spezialitäten und gehen Sie zum Italiener oder zum Chinesen.

               Kaiser Ferdinand I. der im Jahr 1555 einen Religionsfrieden zwischen Katholiken und Lutheranern vermittelt hat, schloss in diesem Dekret dezidiert die Reformierte Kirche aus und verbot sie am strengsten. Der alte kleine Brummler wurde mir sofort sympathischer. Er aß offensichtlich gerne und das spricht für einen in Grunde guten Charakter. Wenn er schon auch hinrichten lassen musste (wie im Jahr 1522 in Wiener Neustadt,) tat er das wahrscheinlich nicht ganz gern.

               Ich würde nach dem Erlebnis mit dem Seemannlaubkaus Calvin auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen.

               Es könnte euch vielleicht interessieren, wie sich diese Lehre, die beinahe alles Angenehmes im Leben verboten hat, überhaupt durchsetzen und besonders in den Städten mit starkem Handel und reicher Kaufmannsschicht so eine starke Position erreichen konnte. Calvin predigte – gleich wie Jan Hus oder der heilige Augustin – die Lehre der Prädestination. Also jeder Mensch wird bereits bei seiner Geburt entweder zur Erlösung oder zur Verdammung vorbestimmt. Damit kann er in seinem Leben nichts mehr tun, weil seine Sünden oder auch Wohltaten von Gott gesteuert werden und der eigene freie Wille dabei keine Rolle spielt. Man kann aber die Vorbestimmung für das ewige Leben im Himmel bereits im Leben hier auf Erde erahnen. Wenn man nämlich im Leben erfolgreich ist, wenn die Geschäfte gut laufen und die Kassa sich mit Silber und Gold füllt, ist das ein klares Zeichen der Gunst Gottes und Gott würde doch nicht einem Verdammten seine Gunst schenken. Deshalb verbreitete sich diese Lehre besonders erfolgreich in den reichen Städten, wo die Kaufleute das Sagen hatten, wie in Amsterdam, Bremen oder Mannheim. Erfolgreiche Geschäftsleute waren bereit, auf gutes Essen und guten Sex zu verzichten – die Aussicht auf den Himmel war viel zu verlockend. Das Essen musste also üppig sein, damit der Herr oder die Frau ihren Wohlstand und damit auch ihre Vorbestimmung für den Himmel demonstrieren konnten, bei Gewürzen wurde aber sehr gespart. Erstens weil sie teuer waren, zweitens, weil sie das Essen köstlich machen könnten und damit den Menschen in Versuchung bringen und den Weg in den Himmel versperren konnten. Also wenn man an dem ungenießbaren Mittagessen kaute, konnte man sich auf den Himmel freuen, wo man endlich auch Pfeffer zum Gastmahl bekommt.

               Es ist besser, Belgien zu besuchen. Dort hat den Menschen der Herzog von Alba solche Reformationsgedanken aus dem Kopf geschlagen (und das nicht nur im übertragenen Sinn). Die Küche in einem Land, dass an Frankreich grenzt und unter einer langen österreichischen Verwaltung katholisch blieb, ist einfach eine Traumküche. Obwohl es die Belgier waren, die Pommes frites erfanden. In dieser Erfindung hat Calvin seine Finger sicher nicht gehabt.

               Übrigens, nicht überall war seine Lehre bei der Essenvernichtung erfolgreich. Die Ungaren, obwohl sie sich der Lehre der Reformierten Kirche anschlossen und dafür einen Platz für ihren Anführer Stephan Bocskai auf dem Reformationsdenkmal in Genf erhielten, ließen sich ihr Gulasch und Paprikasch mit scharfer Paprika nicht nehmen. Eine wahrhaft weise und tapfere Entscheidung.

               Die Tschechen hatten wieder Glück, das sie bis heute nicht verstehen wollen. Friedrich von der Pfalz, der im Jahr 1619 zum tschechischen König gewählt wurde, um nach einem Jahr Herrschaft wieder flüchten zu müssen, war ein Calviner. In diesem Zusammenhang scheint die Niederlage des tschechischen Herres auf dem Weißen Berg bei Prag am 8.November 1620 nicht so tragisch zu sein. Kann man sich vorstellen, was mit der berühmten tschechischen Küche passiert wäre, wenn die Aufständischen damals gewonnen hätten und Friedrich sich auf dem tschechischen königlichen Thron eingenistet und seine Ordnung durchgesetzt hätte. Ich meine in der Küche, von dem anderen gar nicht zu sprechen….

               Na ja, Ferdinand II. mag kein wirklich sympathischer Kerl gewesen zu sein. Es gab Hinrichtungen (nur am 27. Juni 1621 in Prag siebenundzwanzig an der Zahl), es gab die gewaltsame Rekatholisierung, den dreißigjährigen Krieg, die Enteignung und die Massenemigration, die die Wirtschaft des Landes auf Jahrhunderte zurückgeworfen hat. Aber auf der anderen Seite, der Schweinsbraten mit Knödel, Kraut und Bier ist geblieben.

Montenegro – Binnenland II

Nach Petar I. bestieg den Thron sein Neffe Petar II. Petrovič Njeguš. Der wird von Montenegriner als „Pater Patriae“, also der Landesvater verehrt, aber nicht nur sie verehren ihn, auch bei Serben genießt er großen Respekt. Im Jahr 1982 war ich als Student in Montenegro und ich schloss Freundschaft mit einem Serben, der dort seinen Urlaub machte. Er ließ sich nicht abweisen, er wollte mich unbedingt zum Grab von Petar Petrovič Njeguš auf den Berg Lovčen, genauer gesagt auf einen der Gipfel dieses Nationalparks namens „Jezerni Vrh“ bringen. Die Tatsache, dass seine Gattin an einer Kinetose litt und sich in den zahlreichen Kehren auf dem Weg zum Gipfel in der Höhe über 1800 Meter über dem Meer (wir starteten logischerweise auf der Seehöhe Null) immer wieder übergeben musste, konnte ihn in seinem Verlangen, dem Ausländer das nationale Heiligtum zu zeigen, keinesfalls hindern, die arme Frau wurde von ihm aber häufig streng ermahnt, sich vor dem Fremden nicht so beschämend zu verhalten.

Diesmal fuhr ich mit meiner Frau hin und, obwohl sie ebenso an einer Kinetose leidet, meine rücksichtsvolle Fahrweise ermöglichte ihr den Besuch von „Jezerni vrh“ ohne Übelkeit.

               Auf dem Gipfel von „Jezerni vrh“ gibt es ein gigantisches Mausoleum, in dem der Vater des Landes bestattet ist. Es zahlt sich aus, in den Frühmorgenstunden hinzufahren, da es hier nicht genug Parkplätze gibt. Petr Petrovič ist hier in einer nachdenklichen Pose unter dem montenegrinischen Adler dargestellt, vom Gipfel des Berges kann man tatsächlich beinahe das ganze Land sehen. Von der Bucht von Kotor bis zum Skadarsee, man kann Cetinje unter dem Berg sehen, in der Ferne dann Podgorica und am Horizont eine hohe Bergkette mit dem höchsten Berg des Landes „Babin Kuk“. Petar Petrovič wacht von hier über sein Volk. Österreicher ließen ihn während des ersten Weltkrieges exhumieren und nach Cetinje überstellen, gleich nach dem Ende des Krieges brachten ihn aber Montenegriner zurück in sein Mausoleum, wo er bis heute ruht.

Petar Petrovič wurde von seinem Onkel nach Europa zum Studium entsandt. Er studierte in Wien und danach in St. Petersburg. Nach der Rückkehr ins Land und der Machtübernahme begann er im Lande bis dahin ungeahnte Reformen einzuführen. Er führte das Geld ein (man schrieb das Jahr 1830!!!), den Buchdruck, erste Schulen aber auch Steuern. Das gefiel den Montenegrinern nicht unbedingt, als er aber aus diesem Geld Straßen gebaut, die Post und ähnliche verlockende kulturelle Neuigkeiten eingeführt hatte, konnten sie sich damit letztendlich irgendwie abfinden. Petar II. baute in Cetinje einen Palast, der an die Zeit der Renaissance erinnert, ich dachte selbst, dass es sich um ein Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert handelte – es war aber nicht.

Petar Petrovič lernte in Russland Billard zu spielen und das wurde zu seiner größten Leidenschaft. Er lud in den Palast örtliche Stammesführer ein, um mit ihnen Billard zu spielen, deshalb bekam der Palst seinen Namen, den er bis heute trägt – Billardia. Das Billard des Fürstbischofs Petar blieb erhalten und man kann es gleich in einem der ersten Räume des Palastes bewundern.

Der größte Verdienst gebührt allerdings Petar Petrovič für die Kodifizierung der serbischen Sprache. Er war selbst ein Dichter und Schriftsteller und wollte in der Muttersprache schreiben können. Nicht nur von dem Wortschatz, aber auch, weil er die Regel der Grammatik aus Russland importierte, ist Serbisch Russisch sehr ähnlich. Die Serben akzeptieren, dass der Vater ihrer Sprache ein Montenegriner war. Vielleicht auch deshalb ist das Verhältnis der Montenegriner zu den Serben gespalten. Die Reiseführerin in der Billardia bezeichnete zwar die Serben als eine Okkupationsmacht, in Wirklichkeit hatten aber die Montenegriner keine große Lust, sich von Serbien zu trennen. Wie ich schon schrieb, diese Volksabstimmung wurde durch die Stimmen der moslemischen Albaner in der Region Ulcinj entschieden.

               In Cetinje hat der montenegrinische Präsident seinen Sitz, es gibt hier auch Regierungsgebäuden, obwohl die Hauptstadt Podgorica ist, wo auch das montenegrinische Parlament tagt. Natürlich darf in Cetinje der königliche Palast nicht fehlen.

               Nach dem Tod von Petar Petrovič am 31.Oktober 1851 bestieg den Bischofsthron sein Neffe Danilo. Dieser entschied sich aber, der Praxis der Fürstbischöfe ein Ende zu machen, möglicherweise auch deshalb, weil er sich in eine bestimmte Darinka Kvekič verliebt hatte. Im Jahr 1852 verzichtete er also auf das Amt des Bischofs und rief ein weltliches Fürstentum aus. Seine Reformen, die das Land zu sehr an Westen annähern sollten, missfielen den Montenegrinern und Danilo wurde im Jahr 1860 in Kotor ermordet. Zum Fürsten wurde sein minderjähriger Sohn Nikola, die Regierungsgeschäfte führte aber in seinem Namen Danilos Bruder Mirko Petrovič – richtig, der, dem in Podgorica der Obelisk auf dem Hauptplatz errichtet wurde. Er führte nämlich lange Jahrzehnte die Montenegriner in die Kämpfe gegen Türken bis endlich im Jahr 1878 auf dem Berliner Kongress ein unabhängiges Königtum Montenegro entstand und Mirkos Neffe Nikola zum ersten (und letztem) montenegrinischen König wurde.

               Nikolas Palast, der so genannte „Blauer Palast“ in Cetinje ist ziemlich bescheiden, aber mit Geschmack eingerichtet. An den Wänden hängen Bilder bedeutsamer Mitglieder der Njeguš-Familie.

Natürlich auch die Bilder von Nikola und seiner Frau Milena. Milena war ein ganz einfaches Mädchen, das zuerst am fürstlichen Hof erzogen werden musste, bis sie die Sitten der Oberschicht gelernt hatte und erst dann durfte sie Nikola heiraten. Ihre einzige Qualifikation für den Titel einer Königin war ihre Schönheit, sie genoss den Ruf des schönsten Mädchens im Lande. Der temperamentvolle Nikola zeugte mit ihr zwölf Kinder, davon neun Töchter! Neun Töchter in gute Familien zu verheiraten ist keine einfache Aufgabe, Nikola schaffte es aber.  Nicht umsonst verdiente er sich dadurch seinen Spitznamen „Schwiegervater Europas“. Er konnte dadurch nicht nur mit der russischen Zarenfamilie, sondern auch mit den königlichen Häusern in England oder in Italien familiäre Beziehungen anknüpfen. Seine Lage wurde dadurch erleichtert, dass seine Töchter eine schöner als die andere waren, einige Räume im Palast tragen noch ihre Namen.

               Das größte Gebäude in Cetinje ist „Vladim Dom“ aus dem Jahr 1910, das zur Krönung Nikolas I. gebaut wurde.

Heute befindet sich in diesem Haus ein historisches und ein kunsthistorisches Museum. Zwischen Bildern der Mitglieder der montenegrinischen Königsfamilie findet man auch Werke von Picasso, Chagall oder Dali, historisch am meistens interessant ist allerdings die Ikone „Madona aus Philermon“. Diese heilige Schutzpatronin des Ordens der Malteserritter hat ein sehr bewegtes Schicksal hinter sich. Die Johanniter erwarben sie irgendwann im zwölften Jahrhundert, im Jahr 1291 nach dem Fall von Akko brachten sie die Ikone nach Rhodos und als sie die Insel im Jahr 1530 räumen mussten, packten sie das Bild ein und nahmen es mit nach Malta. Im Jahr 1798 besetzte Malta Napoleon mit seiner revolutionären Armee, die zu Religion und besonders zu heiligen Reliquien keine besonders positive Beziehung hatte. Um die Ikone vor der Zerstörung zu schützen, brachten sie die Ritter nach St. Petersburg. Im Jahr 1917 wurde sie wieder einmal von Revolutionären bedroht, diesmal von den kommunistischen, und wurde wieder evakuiert. Nach Zwischenstopps in London und Kopenhagen landete sie letztendlich in Beograd, wo sich der Sitz des Patriarchen der serbischen orthodoxen Kirche befand. Als im Jahr 1941 Serbien von Einheiten der deutschen Wehrmacht überrollt wurde, wurde die Ikone in montenegrinischem Kloster Ostrog untergebracht. Seit dem Jahr 1952 befindet sie sich in Cetinje, aber nur seit dem Jahr 2002 ist siefür die Öffentlichkeit zugänglich – in einem eigenen Raum – so genannter „Blauen Kapelle“.

               Das Kloster Ostrog, das in einen Felsen reingebaut wurde, gehört zum Pflichtprogramm des Besuches von Montenegro, es befindet sich auf dem Weg zu zweitgrößter Stadt Montenegros Nikšič. Bis nach Nikšič unbedingt zu fahren ist aber nicht notwendig, zum Schauen gibt es dort nicht viel (noch weniger als in Podgorica) und das einzige montenegrinische Bier „Nikšičko pivo“, übrigens von guter Qualität, bekommt man in Montenegro überall.

               Auf dem Weg von Podgorica in Richtung Meer fährt man am Skadarsee vorbei. Der See an der Grenze zu Albanien ist geteilt, zwei Drittel gehören Montenegro und ein Drittel Albanien. Wir hatten eigentlich vor, eine Rundreise um den See mit einem Besuch der albanischen Stadt Skadar zu machen. Das war aber nicht einfach. Auf dem Weg nach Süden gab es zuerst eine Abzweigung nach Skadar, die uns zuerst auf einen engen Weg zwischen Häusern führte, wo man den entgegenkommenden Fahrzeugen in die Höfe und Ausfahrten ausweichen musste. Hier gab es aber zumindest Asphalt. Nur dann plötzlich zeigte der Wegweiser steil hinauf auf einen wahnsinnig steilen Berg und dort sah ich nur mehr eine desolate Betonfläche mit riesigen Löchern und Stücken herausragendes Betons und ich beschloss, dass die Fahrt auf diesem Belag mein Auto nicht unbedingt überleben würde. Ich entschloss mich einen Umweg über Ulcinj zu machen. Dieser Weg war zwar länger, ich dachte aber, er wäre besser. Das war er nicht. In Ulcinj versperrten uns den Weg zwei quer abgestellte Autos der montenegrinischen Straßenarbeiter. Sie teilten uns trocken mit, dass die Straße in Folge von Reparaturarbeiten gesperrt sei. Umfahrung? Fehlanzeige! Also mussten wir ähnlich wie eine Reihe weiterer Touristen aus der Ukraine, Deutschland und dem Niederlande unsere Reise nach Albanien aufgeben. Statt dessen besuchten wir Podgorica, was – wie ich schon erwähnt habe – eine kleine Ehekrise zu Folge hatte. Zum See kamen wir aber trotzdem, und zwar bei Vizapar, einem Städtchen, das nur von Touristik lebt. Ungefähr zwanzigmal wurde uns ein Bootausflug auf dem See angeboten, aus Zeitmangel lehnte ich ab. Der See ist schön, groß, blau bis dunkelgrün. Er wird von einer Straße und der Eisenbahn, die Beograd mit Bar verbindet, durchquert. Wie bereits erwähnt, fuhr ich im Zug über den See schon einmal im Jahr 1982, als die Strecke sechs Jahre alt war. Auf dem Damm sieht man noch eine traurige Erinnerung an den türkisch-montenegrinischen Konflikt – die Ruinen der Festung Lesendro. Diese Festung ließ der Vater der Nation, Petar Petrovič, bauen. Aber noch vor ihrer Fertigstellung wurde die Festung von türkischen Truppen eingenommen und zerstört. Petar Petrovič zog sich also frustriert nach Cetinje zurück und schrieb Gedichte.

               Es hat vielleicht doch etwas für sich, wenn der Landesvater ein Dichter ist. Sogar bei einer Nation, die während ihrer Geschichte nichts anderes als Kriege, Leiden und Armut kannte. Heute entwickelt sich das Land in eine positive Richtung. Ob bei dieser Entwicklung der Rubel oder das Euro die entscheidende Rolle spielt, traue ich mich nicht abzuschätzen.

Montenegro – das Binnenland I

               Die Geschichte dieses kleinen Landes spielte sich nicht an der Küste ab, wo heutzutage das Leben und der Tourismus blühen, sondern im Inneren des Landers. Übrigens bis zum Jahr 1878 hatten die Montenegriner keinen Zugang zum Meer.

               Also wenn man das Land besser kennenlernen möchte, muss man die Küste verlassen. Heute erleichtert den Zugang in das Innenland ein Straßentunnel zwischen Čanj und Podgorica, durch den man für eine mäßige Gebühr von 2 Euro die Hauptstadt des Montenegros in einer guten halben Stunde erreichen kann. In den Zeiten vor der Fertigstellung dieses Tunnels gab es nur eine schlechte Straße, die bei Petrovac in die Berge abbog und an dem Skadarsee vorbei über Vizapar nach Podgorica führte – dieser Weg verlangte mehr als die doppelte Fahrzeit. Immerhin gab es aber bereits seit 1904 eine Schmalspureisenbahn zwischen Bar und Vizapar und im Jahr 1976 wurde die Eisenbahnverbindung Beograd-Bar fertiggestellt, die ich persönlich bereits im Jahr 1982 nutzen durfte.

               In der Meinung über die montenegrinische Hauptstadt Podgorica waren meine Frau und ich nicht ganz einig. Ich vertrat die Meinung, dass es dort nicht viel zu sehen gäbe, sie war dagegen überzeugt, dass es dort GAR NICHTS gab.  Wie meine Leser wissen, in diesen Streitereien mit meiner geliebten Gattin behalte ich meistens recht, schon deshalb, weil ich es bin, der darüber schreibt. Und wenn man sucht, findet man sogar in Podgorica etwas Sehenswertes, obwohl es – in diesem Punkt gebe ich meiner Frau recht – nicht einfach ist. Natürlich findet man dort nicht viel Historisches, die Stadt lag ständig an der Frontlinie zwischen Türken und Montenegrinern und wurde mehrmals zerstört, das letzte Mal im zweiten Weltkrieg, als hier verbitterte Kämpfe zwischen den Tito-Partisanen und der deutschen Wehrmacht tobten (ich kann mich aus meiner Kindheit an einen unglaublich brutalen Film „Die Schlacht an der Neretva“ erinnern, der den Kampf der Partisanen um einen Durchbruch nach Norden zu den Hauptstreitkräften der Tito-Armee schilderte, in dem der Fluss Neretva ein todbringendes Hindernis darstellte. Dank dieses Filmes konnte ich einige Nächte danach nicht schlafen). Zu Ehre des jugoslawischen Führers bekam die Stadt nach dem zweiten Weltkrieg den Namen Titograd und kehrte erst im Jahr 1992 zu ihrem ursprünglichen Namen Podgorica zurück.

               Das Stadtzentrum teilt sich in die Altstadt (Stary Varoš) und die Neustadt (Novy Varoš) auf. Die Altstadt ist tatsächlich eigenartig. Wo sonst findet man im Zentrum der Hauptstadt einen Hühnerstall mit lebenden Hühnern und Esel auf der Hauptstraße? Von der Bedeutungslosigkeit Podgoricas in der Zeit der türkischen Vorherrschaft zeugt eine bescheidene Moschee mit einem Minarett, obwohl aus dieser Zeit die einzige historische Sehenswürdigkeit der Stadt stammt – nämlich der Uhrturm „Sahat Kula“.

Von der türkischen Festung am Zusammenfluss der Flüsse Morača und Ribnica blieb nur ein kleines Stück der Befestigungsmauer übrig. Es reicht ein Blick auf diese „Sehenswürdigkeit“ vom Stadtpark mit einer großen Reiterstatue des Königs Nikola I. aus, um zu verstehen, dass sich ein Übergang des Flusses (eher eines Baches) Ribnica aus diesem Grund sicher nicht lohnt.

               Imposant ist die Milleniumsbrücke über den Fluss Morača und im Stadtzentrum der „Trg nezavisimosti“, also „Unabhängigkeitsplatz“ im Stil der kommunistischen Architektur und mit einer Fontäne in der Mitte und mit einem Obelisken, der zu meinem Erstaunen nicht Tito und seine Partisanen ehrt, wie man erwartet hätte, sondern dem Kämpfer gegen die Türken, dem Onkel des Königs Nikola I., Mirko Petrovič Njeguš gewidmet ist.

Aber immerhin fanden wir in der Neustadt die russische und die deutsche Botschaft, eine Reihe von Cafes und Restaurants, das Hotel Hilton, die Nationalbank (ich habe zwar nicht verstanden, wozu Montenegro diese Institution hat, wenn es keine eigene Emissionspolitik betreiben darf, aber so etwas gehört sich einfach), ein großes modernes Nationaltheater mit einer Statue Petars II. Petrovič Njeguš vor dem Gebäude – wer sonst könnte dort sein? Darüber aber ein bisschen später.

               Bitte, den Königspalast nicht vergessen! Am Ufer der Morača in einem großen Park unweit des Zentralkrankenhauses findet man einen ziemlich bescheidenen Palast der Familie Njeguš. König Nikola ließ diesen Palast als Geschenk für seinen Sohn Mirko bauen, Mirko mochte aber Podgorica – ähnlich wie meine Gattin – nicht, und wollte nicht in den Palast ziehen. Im Jahr 1916 hatte er aber keine Wahl. Montenegro wurde von österreichischen Truppen überrollt, Prinz Mirko geriet in die Gefangenschaft und er wurde in dem Palast, den sein Vater für ihn bauen ließ und den er nicht mochte, interniert. Sein Schicksal holte ihn also ein.

               In der Zeit vor der türkischen Expansion gab es auf dem Gebiet Montenegros ein Königreich namens Zeta, wo die Familie Crnojevič herrschte. Sie war eng mit dem serbischen Königreich verbunden und in der schicksalhaften Schlacht auf dem Amselfeld kämpften und starben also Montenegriner an der Seite der Serben. Danach gerieten sie unter einen gewaltigen türkischen Druck. Die Crnojeviči versuchten vergeblich, eine Koalition mit der Familie des albanischen Heros Skanderbeg zu bilden, die den Türken Paroli bieten könnte. Der letzte der Dynastie Ivan Crnojevič bemühte sich vergebens, seine Stellung in der Ebene unter den Bergen zu festigen, es gibt hier sogar zwei seiner Hauptstädte Žabjak und Rijeka Crnojeviča, die beide unter dem Druck der türkischen Truppen zugrunde gegangen sind. Heute sind sie kleine romantische Dörfer. Ivan Crnojevič konnte sich gegen die türkische Übermacht nicht halten und musste sich in die Berge zurückziehen, wo er im Jahr 1482 die Stadt Cetinje gründete und danach die Rettung in Italien suchte. Wenn man die geographische Lage Cetinjes wahrnimmt, kann man sich vorstellen, in welcher verzweifelten Lage sich Crnojevič befand, als er sich entschied, von diesem „Niemandsland“ aus zu regieren. Er konnte sich aber nicht einmal hier halten, die Armee der „Hohen Pforte“ war viel zu mächtig und die Dynastie der Crnojevič fand im Jahr 1499 ihr Ende. Ivan hat in Cetinje eine Statue – er war doch der Gründer der Stadt.

               Die Türken zeigten nie besonderes Interesse in diesem unfruchtbaren Land direkt zu herrschen. Das roch nach viel undankbarer Arbeit und wenig Gewinn. Aus diesem Grund schlossen sie einen Vertrag über eine vorteilhafte Zusammenarbeit mit den örtlichen Bischöfen. Diese regierten im Land unter dem Berg Lovčen als türkische Vasallen, sie zahlten Steuern nach Istanbul und hatten von den Türken mehr oder weniger Ruhe. Im siebzehnten Jahrhundert besetzte das Amt des Bischofs die Familie Njeguš. Danilo Petrovič, der erste aus der Reihe der Bischöfe aus dieser Familie, ließ in Cetinje ein gewaltiges Kloster bauen, das auch das Zentrum der Macht war – und das steht bis heute.

Er musste es sogar dreimal bauen, da in den Jahren 1698 und 1712 das Kloster von den Türken dem Erdboden gleich gemacht wurde. Das Kloster ist eine Dominante der Stadt auch heute und wenn man Cetinje besucht, muss man es einfach besuchen. Das Mausoleum Danilos steht auf einem Hügel über dem Kloster, ein Aufstieg zu ihm ist eine kleine sportliche Leistung. Die Macht ging regelmäßig vom Onkel auf den Neffen über, da die orthodoxen Priester zwar heiraten dürfen, nicht aber die Bischöfe. Im Jahr 1784 bestieg den Thron der Fürst Bischof Petar I. Es gelang ihm nicht nur die zerstrittenen montenegrinischen Stämme zu einigen, sondern sogar so etwas wie ein Staatsgebilde zu gründen. Er konnte sehr geschickt zwischen Türken, Russen und Franzosen, die in dieser Zeit Dalmatien besetzten, manövrieren. Das Angebot Napoleons, ein serbischer Patriarch unter französischem Schutz zu werden, lehnte er aber dankend ab. Nach seinem Tod im Jahr 1830 wurde er heiliggesprochen und sein Leichnam befindet sich im Kloster in Cetinje, das seinen Namen trägt. Wir waren Zeugen, als eine Frau einen Mönch bat, den Leichnam des Heiligen sehen zu dürfen.  Er brachte sie zum Sarg und klappte den Deckel auf, der Leichnam Petars I. befindet sich im Sarg unter einer Glasscheibe. Die Frau warf sich auf das Glas, sie umarmte und küsste es, es war für uns ein etwas ungewöhnlicher Beweis des Kultes des Heiligen. Wir weigerten uns, die Dame in dieser Tätigkeit nachzuahmen, obwohl uns der Mönch dazu aufgefordert hat.