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Graz III

Wenn wir das Kaufhaus Kastner und Öhler verlassen, haben wir zwei Möglichkeiten, wohin wir unsere Stadtbesichtigung fortsetzen könnten. Entweder nach links zum Schlossberg oder rechts am Hotel Erzherzog Johann vorbei zum Hauptplatz. Gehen wir heute in diese Richtung, den Schlossberg behalten wir uns für das Ende unseres Spaziergangs. Der Hauptplatz wird von einem Rathausgebäude dominiert, das mit seinem neubarocken Stil zwar gar nicht her passt, ist aber imposant, sodass man sich damit abfinden kann.

Die meisten Gebäude stammen aus der Renaissance, dem vorherrschenden Stil in dieser Stadt. Und in der Mitte des Platzes steht ein Brunnen mit der Statue des steirischen Prinzen Erzherzog Johann.

Ohne ihn geht es in der Steiermark einfach nicht. Genauso wie man sich bei einem Besuch in Tschechien den Namen Karl IV. merken müsste, muss man das mit Johann, dem Landesvater der Steiermark, tun. Wir werden buchstäblich über ihn überall stolpern, also lassen wir seine Lebensgeschichte – für die, die sie nicht kennen – kurz zusammenfassen.

Johann wurde 1782 in der Toskana als achtes Kind des zukünftigen Kaisers Leopold II. geboren. Als sein Vater Kaiser wurde, siedelte er nach Wien um und nachdem er im Krieg gegen Napoleon im Jahr 1809 versagte – er hatte einen Löwenanteil an der Niederlage in der Schlacht bei Wagram – zog er sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Er kaufte einen Bauernhof namens Brandhof in der Nähe von Mariazell in der Steiermark und begann mit der Reformierung des Landes. Es waren nicht nur Experimente mit dem Anbau von Pflanzen unter bergigen Bedingungen und Aufklärungsvorträge. Er gründete eine Getreidebörse, die den Bauern feste Preise beim Getreideankauf garantierte, die Grazer Wechselseitige Versicherung, bei der sie sich gegen Missernten versichern konnten, und die Sparkasse-Bank, die kleine Kredite vergab. Dadurch blieben die steirischen Gelder in der Steiermark und bildeten die Grundlage für den lokalen Wohlstand. Darüber hinaus gründete er nach dem Vorbild seiner Großmutter Maria Theresia eine Bergbau-Hochschule, an der Carl Friedrich Christian Mohs die Härteskala der Mineralien festlegte – wir erinnern uns zumindest teilweise daran, weil wir das in der Schule lernen mussten – sie hat zehn Stufen und der härteste ist natürlich der Diamant. Im revolutionären Jahr 1848 kandidierte Johann für die Steiermark in den Wahlen in das gesamtdeutsche Parlament, das in Frankfurt tagte, und wurde natürlich gewählt und anschließend auch zum Vorsitzenden dieses Parlaments. Dort führte er einen vergeblichen Kampf für die sogenannte großdeutsche Lösung, also die Wiederherstellung des Deutschen Kaiserreichs mit Österreich und der Hauptstadt Wien. Diesen Kampf verlor er gegen die preußische Lobby, und ein neuer Kaiser ging aus den Sitzungen jenes ersten revolutionären Parlaments auch nicht hervor. Johann zog sich dann in die Steiermark zurück und war bis zu seinem Tod als Bürgermeister in der Stadt Stainz tätig, wo er ein Jagdschloss hatte.

Als Lebenspartnerin wählte der liebe Johann die Tochter des Postmeisters aus Bad Aussee, Anna Plochl, was für damalige Verhältnisse einen enormen Skandal darstellte. Es dauerte zehn Jahre, bis er von seinem Bruder, Kaiser Franz, die Erlaubnis zur Hochzeit erwirkte. Um den Skandal etwas zu mildern, erhob der Kaiser die liebe Anna zur Gräfin von Meran. Deshalb trägt der Palast, den Johann in der Stadt erbauen ließ, den Namen Palais Meran und er beherbergt heute eine Schule für musikalische Künste. Im Hauptkonzertsaal dominiert an der vorderen Wand ein großes Gemälde des Erzherzogs – mit seiner unverwechselbaren Glatze. Diese hat er auch auf der Statue auf dem Hauptplatz, und die Stadtverwaltung versucht vergeblich, sie vor Tauben und ihrem unhygienischen Verhalten zu schützen. Der Brunnen, auf dem die Statue des Herzogs steht, stellt die vier steirischen Flüsse dar – Enns, Mur, Drau, die bis 1918 auch ein steirischer Fluss war, und Sann. Mit dem letzten habe ich mich lange beschäftigt und den Architekten verdächtigt, dass er diesen Fluss einfach frei erfunden hat, um keinen dreieckigen Brunnen bauen zu müssen. Aber der Fluss existiert – nun ja, es ist eher ein größerer Bach – er heißt heute Savinja und befindet sich wie sein großer Bruderfluss Drau in dem heutigen Slowenien.

Wenn wir vom Hauptplatz aus ein Stück nach rechts am x entlang gehen, gelangen wir zum Joanneum. Das Gebäude, das Johann erwarb, um dort seine Bergakademie unterzubringen, ist ein seltenes barockes Element in der Stadt. Der ehemalige Palast der Mönche aus Sankt Lambrecht wurde von der Familie Leslie erworben – daher trägt das Gebäude bis heute den Namen Lesliehof. Es wurde wieder einmal von einem italienischen Architekten mit einem für mich unaussprechlichen Namen Domenico Sciassia erbaut. Im Innenhof befindet sich eine Büste des bereits erwähnten Christian Mohs. Kaiser Franz Josef ließ dem ursprünglichen Museumsgebäude noch einen weiteren klassizistischen Anbau in Richtung des Flusses hinzufügen. Die beiden Gebäude passen nicht ganz zusammen, die Stadt Graz hat das Problem originell, aber aus meiner Sicht gut gelöst. Zwischen den beiden Gebäuden wurde ein hochmodernes Eingangstor in Form einer in die Erde eingelassenen Pyramide errichtet (umgekehrt im Vergleich zum Louvre in Paris). Der Eingang zum Museum befindet sich also unter der Erde, und auch die beiden Museumsgebäude sind unterirdisch miteinander verbunden.

Wenn wir uns vom Hauptplatz aus auf der Herrengasse befinden, wird uns wahrscheinlich zuerst das mit Fresken bemalte Haus, der Herrenhof, auffallen.

Der Besitzer dieses Hauses hatte das Privileg, keine Steuern zahlen zu müssen. Auf der anderen Seite war er jedoch verpflichtet, den Landesfürsten zu beherbergen, wenn er in die Steiermark kam. Dieses fragliches Privileg hat dem Hausbesitzer Herzog Rudolf der Stifter verliehen. Die Fresken stellen antike Motive der griechischen Götter dar.

Wenn wir an dem Landhaus und das Landzeughaus entlang weiter gehen, gelangen wir zur Grazer Pfarrkirche. Die Fassade ist barock, aber im Inneren handelt es sich um ein gotisches Gebäude.

Es war einmal die Kirche des Dominikanerordens. Aber die Dominikaner, ein Orden von bettelnden Predigermönchen, hatten in einer protestantischen Stadt ein hartes Leben. Sie kämpften ständig mit Armut und Hunger, und eines schönen Tages hatten sie die Schnauze voll und beschlossen, die undankbare Stadt zu verlassen. Herzog Karl erkannte die Gefahr, dass die Kirche in protestantische Hände geraten könnte, und griff ein. Da er den Dom dem Jesuitenorden übergeben hatte, hatte die Stadt keine katholische Pfarrkirche mehr. Karl bat daher den Papst in Rom, diese Kirche auf der Herrengasse zur Pfarrkirche zu erheben, wenn möglich noch bevor die letzten beiden verärgerten Mönche sie verließen. Der Papst verstand die Dringlichkeit der Bitte des Erzherzogs und kam ihr umgehend nach. In der Kirche befindet sich in der Seitenkapelle das Gemälde der Himmelfahrt der Jungfrau Maria von Tintoretto, aber es befindet sich hier auch die größte Kuriosität der Stadt. Man muss in das Hauptschiff gehen und die Glasfenster in der Apsis betrachten. Graz wurde im Zweiten Weltkrieg stark bombardiert, da es vor allem für die italienische Front ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt war. Die Kirchenfenster aus Glas überstanden die Druckwellen der Explosionen logischerweise nicht. Nach dem Krieg wurde der Berliner Künstler Andreas Birkle mit der Gestaltung neuer Fenster beauftragt. Und er wagte es, auf einem der Fenster Hitler und Mussolini darzustellen, wie sie die Auspeitschung Christi beobachten. Es handelt sich um das linke Fenster, das dritte Fensterfeld von unten in der rechten Spalte.

Birkle hat diese beiden somit zu “bösen” Feinden Christi und seiner Botschaft erklärt. Eine ähnliche Provokation findet sich in ganz Europa nur noch an einem Ort, nämlich in der Kirche St. Martin in Landshut, wo Hitler, Goebbels und Göring ihre Gesichter den Peinigern des Heiligen Kastulus liehen.

Wir können uns um die Pfarrkirche herum begeben und am Delikatessengeschäft Frankowitsch vorbeigehen (mit den berühmtesten belegten Brötchen in der Stadt) zum Tummelplatz. Dieser hat zwei Teile. Einer davon ist der runde Platz vor dem Gebäude des Akademischen Gymnasiums. Dieses Gebäude war einst ein Kloster, nämlich das Kloster der Dominikanerinnen. Sie hielten in der Stadt etwas länger durch als der männliche Zweig des Ordens. Sie lebten hauptsächlich vom Verkauf von Wolle und Milch von Schaffen, die sie auf den Wiesen vor den Stadtbefestigungen, auf dem sogenannten Glacis, weideten. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit durften keine Häuser in der Nähe der Stadtmauern gebaut werden, und zwar in Schussweite der Kanonen. Dadurch sollte im Falle einer Belagerung verhindert werden, dass sich Feinde in diesen Gebäuden verstecken konnten. (Dieses Glacis kann man heute zum Beispiel in der italienischen Stadt Lucca in unveränderter Form sehen). Zu dieser Zeit kam der Postmeister slowenischer Herkunft und italienischen Namens Kaspar Andreas Jacomini in die Stadt. Er war ein Weltenbummler, diente als Leutnant in der Miliz in Rijeka und war auch Postmeister in Celje. Daher wusste er, dass die Stadtmauern abgerissen werden würden. Er bot den Nonnen einen guten Preis für ihre Wiesen an, und sie nahmen dankbar an. Im Jahr 1782 entschied Kaiser Josef, Graz zur “offenen Stadt” zu erklären. Das Glacis hörte auf zu existieren und Jacomini besaß die lukrativsten Baugrundstücke. Er verkaufte sie an die Bürger von Graz, und vor den Stadtmauern entstand das ganze Vorstadtviertel “Jacomini Vorstadt”. Heute trägt das gesamte Stadtviertel den Namen des geschickten Postmeisters, und der Platz, der nach ihm heißt, ist der Hauptverkehrsknotenpunkt – und ein Eldorado für Drogendealer.

Der zweite Teil des Tummelplatzes hat eine seltsame Form

. Er ist lang und schmal. Hier fanden im Mittelalter Ritterturniere statt. Auf beiden Seiten standen Tribünen, und die Ritter ritten auf Pferden und in Rüstungen in der Mitte aufeinander zu. Da es etwas bergab geht, kann ich mir vorstellen, dass sie – sofern es sich nicht um prominente Persönlichkeiten handelte – das Los ziehen mussten, um ihre Seite zu bestimmen. Mit diesem Ort sind drei Geschichten verbunden, die ich erzählen möchte. Die erste stammt aus dem späten 12. Jahrhundert. Die Legende besagt, dass Herzog Leopold V. zu Silvester 1194 an einem Turnier auf diesem Platz teilnahm. Leopold, verwandt mit Kaiser Friedrich I. Barbarossa (sein Vater Heinrich Jasomirgott war der Stiefbruder von Barbarossas Vaters und wurde auch deshalb 1156 vom Markgrafen von Österreich zum Herzog erhoben), war seit 1177 Herzog von Österreich und seit 1192 auch Markgraf von Steiermark.

Die Babenberger erwarben nämlich durch einen Vertrag mit dem aussterbenden Geschlecht der Ottokare im Jahr 1186 (Georgenberger Handfeste) die erbliche Herrschaft über die Steiermark. Aber der liebe Leopold befand sich im kirchlichen Bann. Er nahm nämlich am dritten Kreuzzug teil und übernahm nach dem Tod von Kaiser Barbarossa, der bei einem Bad in der heutigen Türkei ertrank, das Kommando über das deutsche Kontingent. Mit ihm beteiligte er sich an der Eroberung der Stadt Akkon. Doch der englische König Richard Löwenherz war nicht gewillt, dass neben seiner königlichen Fahne auf den Mauern der eroberten Stadt auch die Fahne “irgendeines Herzogs” wehte, und warf sie in den Graben. Leopold wurde wütend und verließ im Jahr 1191 Palästina. Als Richard nichts Besseres einfiel, als durch Österreich nach England zurückzukehren, fing er ihn ein und hielt ihn auf der Burg Dürnstein in der Wachau gefangen. Er forderte ein Lösegeld für ihn, und als Richards Bruder Johann Ohneland nicht bereit war zu zahlen, verkaufte er seine Geisel einfach an Kaiser Heinrich VI. zum halben Preis, um beide zu bereichern. Da er durch die Gefangennahme eines Kreuzritters gegen kirchliches Recht verstieß (Kreuzritter waren unantastbar und unterlagen ausschließlich kirchlicher Gerichtsbarkeit), verhängte Papst Coelestin III. den kirchlichen Bann über ihn. Der Legende nach stürzte der Herzog beim Turnier zusammen mit seinem Pferd und erlitt eine offene und stark blutende Beinfraktur. Da ihm niemand helfen wollte, zog er angeblich sein Schwert und trennte sich das Bein ab. Da ihm jedoch auch danach keine angemessene Pflege zuteilwurde, verblutete er und starb.

Die Legende ist schön, wenn auch etwas blutig, aber sie beruht nicht auf der Wahrheit. Tatsächlich stürzte Leopold mit seinem Pferd und brach sich das Bein, aber das geschah bereits am 26. Dezember in der vereisten Herrengasse. Er starb dann fünf Tage später an Sepsis. Es gab erhebliche Probleme mit seiner Beerdigung, denn solange der Papst nicht gnädig wurde und seinen Bann aufhob, durfte der Herzog nicht in geweihter Erde begraben werden.

Die zweite interessante Geschichte ereignete sich im Jahr 1467, als eine Delegation des böhmischen Königs Georg von Podiebrad Graz besuchte. Georg, als ein Nachkomme der Hussiten und ein Utraquist, wurde vom Papst Pius II. (unser bereits gut bekannter Aeneas Silvius Piccolomini) für Ketzer erklärt und musste sich ständig den Angriffen des ungarischen Königs Matthias Corvinus erwehren, der sich berechtigt fühlte, im Namen des Papstes den heiligen Glauben zu verteidigen (und als willkommener Nebeneffekt die böhmische Königskrone zu erlangen). Daher schickte Georg eine Delegation, die ganz Europa bereiste und versuchte (vergeblich), europäische Herrscher für einen internationalen Friedens- und Zusammenarbeitsvertrag zwischen den europäischen Nationen zu gewinnen – sozusagen ein Versuch der ersten Europäischen Union. Auf dem Rückweg von dieser visionären, aber erfolglosen Mission machte die Delegation auch in Graz Halt, wo sich gerade Kaiser Friedrich III. aufhielt. Zu Ehren der Tschechen veranstaltete er auf dem Tummelplatz ein Turnier, bei dem der damals beste tschechische Kämpfer Jan Libštejnský von Kolowrat unter tschechischen Farben antrat. Dieser siegte triumphal, als er seinen Gegner, den berühmten deutschen Ritter Reimberger, aus dem Sattel warf. Die ganze Geschichte wurde von einem Teilnehmer dieser tschechischen Expedition, Václav Šašek von Bířkov, in seiner Chronik “Die Reise ans Ende der Welt” festgehalten. Ob der Herr von Kolowrat von oben oder von unten angegriffen hat, ist nicht dokumentiert. Ich persönlich glaube, dass es von oben war, denn wenn er sich auf dem unteren Teil des Platzes befunden hätte, hätte Šašek diesen Nachteil in seinem Bericht sicherlich erwähnt.

Schließlich wurde der Tummelplatz zum legendären Schauplatz eines Duells, als der steirische Adlige Eberhard von Rauber gegen einen spanischen Granden vor den Augen Kaisers Maximilian II. um die Hand der kaiserlichen schönen unehelichen Tochter Helena kämpfte. Eberhard siegte triumphal, als er den Besiegten in einen Sack steckte und dem Kaiser zu Füßen legte. Daraufhin küsste der Kaiser ihn auf die Wange und übergab ihm “das göttliche Mädchen Helena”. Leider wurde aus der Ehe mit Helena kein Nachwuchs geboren. Nach der bedeutenden Adelsfamilie Rauber ist Raubergasse im Stadtzentrum benannt, und ich fand ein Porträt von Eberhard auf der Burg Güssing im Burgenland. Dort ist er jedoch mit so langen Haaren und Bart dargestellt, dass er sich sicherlich nicht gegen den Spanier durchgesetzt hätte. Wahrscheinlich ließ er sich die Haare erst danach wachsen. Übrigens soll der besiegte Spanier seine Niederlage nicht verkraftet haben. Nach seiner Rückkehr nach Spanien legte er alle Titel ab und trat in den Dominikanerorden ein.

Vom Tummelplatz gelangt man direkt zum Bischofplatz, dem Sitz des Bistums Graz-Seckau. Dieses wurde 1218 als Suffraganbistum des Erzbistums Salzburg gegründet, hatte jedoch seinen Sitz in dem obersteirischen Ort Seckau. Erst im Jahr 1786 wurde der Sitz nach Graz verlegt. Nach Durchqueren der Stempfergasse, die das jüdische Ghetto im Norden bis 1449 begrenzte, als die Juden auf Anordnung von Kaiser Friedrich III. aus der Stadt vertrieben wurden, gelangen wir zum Glockenspielplatz und Mehlplatz, die im Grunde eine Einheit bilden. Im Jahr 1884 kaufte ein Hersteller von Schnaps namens Gottfried Mauer hier ein Haus. Durch die Schnapsherstellung wurde er wohlhabend. Bei seinen Reisen durch Europa sah er viele verschiedene Glockenspiele und bedauerte, dass Graz keines hatte. Deshalb ließ er eines an seinem Haus installieren. Dreimal am Tag um 11, 15 und 18 Uhr erklingt das Glockenspiel und aus den Fenstern der Fassade tanzen ein Mädchen und ein junger Mann in steirischer Tracht, wobei der Mann natürlich ein Glas über dem Kopf hält – vermutlich mit Schnaps von Herrn Mauer. So tanzt man besser.

Der Mehlplatz mit seinen vielen Restaurants ist ein beliebter Ort zum Ausruhen während eines Spaziergangs durch die Stadt. Also machen wir hier eine Pause, bevor wir uns in den westlichen Teil der Altstadt begeben.

Graz II

Wir werden bei unserem Spaziergang noch eine Weile im fürstlichen Teil der Stadt bleiben, also in der Nähe des Doms. Direkt neben ihm steht nämlich ein architektonisches Juwel des Manierismus, eines architektonischen Stils, der an die Renaissance anknüpft – das Mausoleum von Kaiser Ferdinand II.

Mausoleum

Der Herrscher ließ dieses Grabmal nach dem Tod seiner geliebten Frau Maria Anna bauen und ließ sich selbst darin neben seinem früh verstorbenen Sohn Johann Karl begraben. Es handelt sich im Wesentlichen um zwei miteinander verbundene Gebäude, entworfen vom italienischen Architekten Giovanni Pietro de Pomis. Der Besucher betritt zuerst die Kirche St. Katharina von Alexandrien, der Schutzpatronin der Wissenschaften.

Katharina von Alexandria

Daher wurde das Mausoleum direkt neben der von Ferdinands Vater, Erzherzog Karl, gegründeten Universität gebaut. Die Kuppel ist mit Wappen der Länder geschmückt, in denen die Habsburger herrschten. Der zweite Teil ist die eigentliche Grabkapelle. Sie wurde nach dem Vorbild des Heiligen Grabes in Jerusalem gebaut. Früher konnte man in die Grabkammer hinabsteigen, heute ist der Zugang gesperrt. Von oben kann man den Sarkophag von Ferdinands Eltern Karl und Maria sehen. Auf dem Sarkophag sind zwar beide dargestellt, aber nur Maria liegt darin. Karl ist im Kloster Seckau in der Obersteiermark begraben. Warum das so ist, konnte ich nicht herausfinden. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1590 spendete Maria eine beträchtliche Summe Geldes, damit täglich Messen über dem Grab ihres Mannes gelesen werden und hat ihre Spende auch mit dem Wunsch verbunden, dass sie nach ihrem Tod neben ihm begraben wird. Ihre Untertanen erfüllten diese Bedingung jedoch nicht, anscheinend wollten sie, dass der vom Volk geliebte Erzherzog zumindest nach seinem Tod seine Ruhe hat. Mit seiner fanatischen, dominanten und intoleranten Frau hatte er während seines Lebens schon genug ertragen müssen.

Kaiser Ferdinand II. selbst ist in der Wand der Familiengruft begraben, ebenso wie seine Frau Maria Anna und sein ältester Sohn Johann Karl. Darüber hinaus wurde dort die französische Prinzessin Marie Therese von Savoyen begraben, die vor der französischen Revolution nach Graz geflohen war und hier 1805 verstarb. Ein angemessenes Grab wurde für sie gesucht, und so fand sie ihre letzte Ruhestätte neben dem ehemaligen Kaiser Ferdinand.

Ferdinand ist somit der letzte Habsburger, der nicht bei den Karmeliten in Wien begraben ist. Diese Wiener Gruft wurde von Anna, der Gattin Ferdinands Vorgängers auf dem kaiserlichen Thron, Matthias, gegründet, Ferdinand wollte aber neben seiner ersten Frau beerdigt werden. Ferdinand war ein recht einfacher und grundsätzlich guter Mensch. Seine intellektuellen Defizite – und eine fanatisch katholische Erziehung durch seine Mutter – wurden jedoch von den Jesuiten ausgenutzt, um ihm einzureden, dass er persönlich für das Seelenheil all seiner Untertanen verantwortlich sei – und dass Ketzer, also Protestanten, natürlich nicht gerettet werden könnten. Aus Angst vor seiner eigenen Verdammnis, wenn er diese Aufgabe nicht erfüllen würde, rekatholisierte er brutal die Steiermark und versuchte dasselbe auch in Böhmen und Deutschland, nachdem er Kaiser geworden war. Das Ergebnis war einer der schrecklichsten Kriegskonflikte, die Europa je erlebt hat – der Dreißigjährige Krieg. Gott bewahre uns vor solchen Gutmenschen! Der Kaiser selbst hat das Ende des von ihm verursachten Krieges nicht mehr erlebt, es wurde von seinem Sohn Ferdinand III. beendet. Im Gegensatz zu seinem Vater war dieser sehr begabt. Er war nicht nur der erste, der schwedische Truppen besiegen konnte, sondern komponierte auch Musik, die noch heute gespielt wird, und zeigte große Fähigkeiten in der Diplomatie. Auch die anderen Kinder von Ferdinand bewiesen beträchtliche Intelligenz, jene unansehnliche Annele musste eine sehr kluge Person gewesen sein – von wem hätten die Kinder es sonst geerbt?

Die Wappen von Ferdinand II. und seiner Ehefrau Maria Anna findet man an der Fassade des alten Universitätsgebäudes gleich neben dem Dom.

Ferdinand II links, Maria Anna von Bayern rechts

Die Universität wurde im Jahr 1585 von Erzherzog Karl gegründet – “damit die Bewohner der Steiermark nicht weit von ihrer Heimat die Bildung suchen müssen”. Als ersten Studenten der neuen Universität ließ Karl seinen erstgeborenen Sohn Ferdinand einschreiben, der damals acht Jahre alt war. Er durfte allerdings nicht in Graz studieren – die Angst seiner Mutter, dass er sich mit der protestantischen Ketzerei anstecken könnte, war zu groß. Sie schickte ihn zum Studium in das zuverlässig katholische Ingolstadt und er durfte nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters im Jahr 1590 zurückkehren. Erst als er nach damaligen Gesetzen volljährig wurde, erlaubte ihm seine Mutter die Rückkehr – damit er seine brutale Kampagne starten konnte, gegen alle, die an Gott anders glaubten als die katholische Kirche es erlaubte.

Das Universitätsgebäude ist ein schönes Beispiel für den Manierismus, das Innere ist im Rokoko-Stil dekoriert. Das bedeutet, dass der Stil von außen zum Barock führt, während er im Inneren den Barock verlässt – sie ergänzen sich perfekt und der Besuch des großen Saals im Universitätsgebäude ist ein unvergessliches Erlebnis.

Alte Universität

Aber gute Absichten gehen manchmal schief. Im Jahr 1602 übergab Ferdinand, der Sohn Karls, die Universität in die Hände der Jesuiten. Das führte nicht nur zu einer ideologischen Veränderung in der Bildung, sondern auch zur Abschaffung dieser Hochschule durch Joseph II. Der Jesuitenorden wurde nämlich im Jahr 1773 aufgelöst (aufgrund von Streitigkeiten um Paraguay in Südamerika), der Staat übernahm die Universität und Kaiser Joseph II. verwandelte sie dann in ein Lyzeum.


Im Jahr 1827 wurde die Universität von Josephs Neffen Franz (II. als römischer Kaiser und I. als Kaiser von Österreich) wiedereröffnet. Davon kommt ihr heutiger Name Karl-Franzes Universität. Eine Statue ihres Erneuerers steht in der Mitte des Freiheitsplatzes vor der Universität. (Bis 1848 hieß dieser Platz übrigens Franzesplatz).

Franz I (II)

Der Platz hat seine einheitliche klassizistische Konzeption (mit Ausnahme der manieristischen Universität). Das Theatergebäude wurde von dem italienischen Architekten Pietro de Nobile (er war eigentlich ein Schweizer, aber aus dem italienischen Kanton Tessin) entworfen und Johann Nestroy spielte hier in 269 verschiedenen Rollen. Hier wurde auch die Premiere seines allerersten Theaterstücks “Der Zettelträger Papp” aufgeführt.

Der Platz wird von oben durch das Gebäude Lambrechterhof des Architekten Hauberisser abgeschlossen. Im Giebel ist ein Junge abgebildet, der vor Wölfen flieht. Es war eine kleine Rache des Architekten an dem Wiener Architekten Wolf, wegen dem er nach Graz umziehen musste.

Graz ist jedoch vor allem von der Renaissance geprägt und wenn wir über die Renaissance in Graz sprechen, sprechen wir vor allem von einem Meister namens Domenico d’Allio. Im Jahr 1529 belagerten die Türken zum ersten Mal Wien. Die Stadt hatte noch mittelalterliche Stadtmauern, die einst von Herzog Leopold mit dem Lösegeld für Richard Löwenherz errichtet wurden. Solche Mauern konnten dem Artilleriefeuer nicht standhalten, aber die Österreicher hatten großes Glück. Fast die ganze Zeit der türkischen Belagerung regnete es und die Türken konnten ihre Waffen nicht benutzen, weil ihr Schießpulver nass geworden war. Als ihnen die Vorräte ausgingen, zogen sie von der Stadt ab und marschierten durch die Steiermark. Sie erschienen auch vor Graz, hatten jedoch keine Kraft mehr, die Stadt anzugreifen, und zogen nach Süden weiter, wo sie das gesamte südliche Steiermark verwüsteten.

Erzherzog Ferdinand I. verstand, dass die Befestigungen der Städte modernisiert werden mussten, da sie einem zukünftigen türkischen Angriff nicht standhalten würden. Im Jahr 1534 schenkte er das abgebrannte Klagenfurt den Kärntner Ständen, weil er kein Geld für dessen Wiederherstellung hatte, und die Bürger beauftragten mit den Arbeiten den italienischen Architekten Domenico Allio. Domenico wurde um das Jahr 1500 in der italienischen Stadt Scaria in der Nähe des Luganer Sees geboren. Daher wird manchmal fälschlicherweise angegeben, dass er aus Lugano stammt. Wenn er jedoch aus Lugano stammen würde, wäre er genauso wie Pietro de Nobile ein Schweizer aus dem Kanton Tessin, da dieser Kanton im Jahr 1512 der schweizerischen Eidgenossenschaft beigetreten ist. Scaria liegt aber am gegenüberliegenden italienischen Seeufer. Domenico arbeitete mit den modernsten Methoden und Ferdinand verstand, dass er diesen Meister behalten musste. Im Jahr 1540 rief er ihn nach Wien, um die städtische Befestigung zu modernisieren, und im Jahr 1544 ernannte er ihn zum Oberbaumeister für Innerösterreich, also für das Gebiet der heutigen Steiermark, Kärnten, Windischer Mark, Grafschaft Görz und der Stadt Triest. Aus dieser Funktion baute Allio neue Befestigungsanlagen in insgesamt fünfzehn Städten, davon in vier in Österreich – neben Klagenfurt und Graz befestigte er auch Fürstenfeld und Bad Radkersburg. Im Jahr 1545 wurde Domenico zum Generaldirektor der Festungsanlagen in Graz ernannt. Und er nahm seine neue Funktion zu Herzen. Graz erhielt Befestigungen, die mit ihrer Größe ins Guinness-Buch der Rekorde als die stärksten Befestigungen aller Zeiten aufgenommen wurden. Im Jahr 1558 erhob ihn der nunmehrige römische König Ferdinand in den Adelsstand. Domenico wählte Knoblauch für seinen Wappen und wurde somit Domenico d’Allio, also auf Deutsch Domenico von Knoblauch. Die Mauern rund um die Stadt fielen den Reformen von Josef II. zum Opfer, während die Befestigung auf dem Schlossberg der wütende Napoleon sprengen ließ – aber dazu später mehr.

Als die Bürger von Graz schon einmal so einen solchen Meister in ihren Mauern hatten, gaben sie ihm einen Auftrag, den er nicht ablehnen konnte. Sie baten ihn, das Landhaus, das Gebäude des Landtags, zu bauen.

Zu diesem Zweck kauften die Stände mehrere Häuser in der Herrengasse im Zentrum der Stadt. Domenico begann im Jahr 1557 mit der Arbeit, konnte sie jedoch nicht mehr vollenden. Er starb im Jahr 1563, sein Werk, das schönste Renaissancegebäude nördlich der Alpen, wurde im Jahr 1565 fertiggestellt. Wenn man den Hof des Landhauses betritt, ist es wirklich ein ästhetisches Erlebnis. Es ist das Werk der reinsten Hochrenaissance – die Galerie in Richtung Landeszeughaus ist allerdings ein Fake. Sie wurde im 19. Jahrhundert dazu gebaut, um den Eindruck auf den Besucher zu verstärken. Das ist gelungen. Am schönsten ist es hier vor Weihnachten, wenn die Heilige Familie aus Eisblöcken traditionell aufgestellt und mit wechselnden Lichten beleuchtet wird und Freiwillige Weihnachtslieder singen – ein unvergleichliches Erlebnis.

Das Landeszeughaus wurde vom Erzherzog Karl erbaut. Karl war der jüngste von drei Söhnen des Kaisers Ferdinand I. (neben ihnen zeugte der Kaiser mit seiner Frau, Königin Anna, noch zwölf Töchter). Es wurde versucht, Karl mit der englischen Königin Elizabeth (die sieben Jahre älter war als er) zu verheiraten, aber schließlich wurde er mit der Herzogin Maria von Bayern vermählt, was fatale Folgen hatte. Karl, wie auch seine Brüder Maximilian und Ferdinand, war gegenüber dem Protestantismus tolerant, seine Frau war jedoch eine katholische Fanatikerin. Im Jahr 1564 wurde Karl zum Herrscher in Innerösterreich ernannt, was mit der Hauptaufgabe der Verteidigung dieser Länder gegen die Türken verbunden war. Bereits 1565 wurde das Zeughaus als Waffenlager fertiggestellt. Heute enthält es 29.000 Waffenstücke, darunter auch prächtige Rüstungen – es ist eine der umfangreichsten und schönsten Waffensammlungen der Welt. Über dem Eingang zur Waffenkammer sind die Wappen der bedeutendsten steirischen Adelsfamilien zu sehen, die den Bau finanziert haben. Der Eingang wird von den Statuen der Götter Mars und Pallas Athena in barocker Ausführung eingerahmt – das ist das bisschen Barock in Graz. (Nun gut, nicht ganz allein). Beinahe alle Paläste, die sich in der Bürgergasse, Sporgasse oder Sackgasse befinden, wurden im Renaissance-Stil erbaut. Sie ähneln mit ausgedehnten Innenhöfen sehr einander. In der Zeit, als die Stadt eine Residenzstadt war, also in der Regierungszeit von Erzherzog Karl, bauten die steirischen Adligen ihre luxuriösen Wohnsitze im Stadtzentrum und so nahe wie möglich am Erzherzog. Auch das Haus in der Herrengasse auf der anderen Straßenseite des Landhauses, wo sich die bekannte Weinbar „Klapotetz“ befindet und wo früher der Grazer Bürgermeister Nagl residierte, ist im Renaissance-Stil erbaut. Hier befand sich zu Zeiten des größten Aufschwungs der Stadt die Landesregierung, die dem Erzherzog diente. Das Geld wurde also auf den Sitzungen des Landtags im Landhaus genehmigt, aber auf der anderen Straßenseite ausgegeben. Man sagt, es gebe einen unterirdischen Verbindungsgang zwischen beiden Häusern. Die Beamten mussten sich damals irgendwie einigen. Nach außen hin in den Augen des gemeinen Volkes mussten sie sich jedoch hassen. Wenn sie sich also treffen und Dinge regeln wollten, gingen sie nicht über die Straße, wo die Leute sie sehen und ihre Spielchen durchschauen konnten, sondern unter der Erde. Ob es wahr ist, weiß ich nicht, aber die Gänge, wenn es sie gibt, sind heute nicht mehr in Betrieb.

Den wahren Schatz der Renaissance-Architektur findet man jedoch an einem unerwarteten Ort – im Kaufhaus Kastner und Öhler. Es handelt sich um den “Paradeishof”, den Hof eines ehemaligen protestantischen Lyzeums.

Das Lyzeum gab es bereits in der Stadt, bevor Erzherzog Karl seine Universität gründete. Der Hauptförderer war Ulrich von Eggenberg, zu dieser Zeit einer der wichtigsten und reichsten steirischen Adligen. Für diese Schule gelang es, einen Professor von außergewöhnlicher Qualität zu gewinnen, den gebürtigen Straßburger Johann Kepler. Dieser Mann war einer der größten Genies, die je auf der Erde lebten. Im Jahr 1594 kam er im Alter von 23 Jahren nach Graz, um am Lyzeum Mathematik zu unterrichten. Der junge Mann lehrte nicht nur erfolgreich, sondern verliebte sich auch und heiratete. Er nahm Barbara Müller von Mühleck zur Frau, die bereits Witwe war. Er zog zu ihr auf Schloss Mühleck in Gössendorf und pendelte zur Arbeit in die Stadt. Aber das antireformatorische Streben des neuen Herrschers Ferdinand erreichte auch das Lyzeum. Ulrich von Eggenberg trat opportunistisch zur katholischen Kirche über, wodurch er die unsterbliche Dankbarkeit von Erzherzog Ferdinand erlangte. Nachdem Ferdinand zum Kaiser gewählt worden war, wurde Ulrich dessen Kanzler und Ministerpräsident und erhielt für seine Verdienste das Gut Krumau, was ihn zu einem der reichsten Menschen im Habsburgerreich machte. Ulrich hörte jedoch logischerweise auf, das Lyzeum finanziell zu unterstützen. Und im Jahr 1599 kam der tödliche Schlag. Ferdinand befahl allen protestantischen Priestern und Lehrern, die Stadt zu verlassen. Nur Kepler erhielt eine Ausnahme, genauer gesagt Zeit zum Nachdenken – ein Jahr. Johann entschied sich jedoch, seinem Glauben treu zu bleiben und musste daher 1600 Graz verlassen. Er hatte Glück, dass er auf dem Weg nach Prag den steirischen Adligen Ferdinand Hofmann von Strechau und Grünbühel traf, der ebenfalls beschlossen hatte, seine Heimat zu verlassen. Er war der Sprecher der steirischen Stände und dank der Minen im Dachsteingebirge einer der reichsten Menschen im Land. Er verkaufte allerdings sein Gut und entschied sich nach Prag umzusiedeln, das religiös toleranter war. Ferdinand Hofmann war ein aufgeschlossener und gebildeter Mann. Kepler freundete sich auf dem Weg mit ihm an und konnte mit seiner Familie eine Weile bei ihm in Prag wohnen, bevor er sich eine eigene Wohnung leisten konnte. Im Jahr 1609 veröffentlichte er dann sein geniales Werk “Astronomia Nova”, mit dem er unvergesslich in die Weltgeschichte einging. Im Hof des ehemaligen Lyzeums befindet sich eine Gedenktafel. Nach der Auflösung des Lyzeums schenkte Ferdinand 1600 das Gebäude dem Klarissenorden., Das Kloster wurde im Jahr 1782 von Kaiser Josef II aufgelöst. Die neuen Besitzer ließen sowohl die Kirche als auch das Kloster abreißen und es blieb nur dieser Renaissancehof, einen der schönsten nicht nur in Graz, übrig. Heute gehört er zum Kaufhaus Kastner und Öhler und wird regelmäßig zum Gemüsemarkt.

Das Kaufhaus „Kastner und Öhler“ erstreckt sich über das gesamte Altstadtviertel. Seine Gründung verdankt es einem Zufall. Im Jahr 1883 verpasste Carl Kastner auf seiner Reise von Troppau, wo sein Unternehmen seinen Hauptsitz hatte, den Anschlusszug nach Zagreb in Graz. Da er nun warten musste, beschloss er, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Und sein Auge fiel auf das Gebäude in der Sackstraße 7. Er mietete es und eröffnete hier eine weitere Filiale. Carl Kastner und Hermann Öhler führten 1985 als die Ersten feste Preise ein. Dies war eine Überraschung für die Kunden, die gewohnt waren beim Einkauf zu feilschen. Der Erfolg der Firma kam endgültig durch den Versand von Katalogen per Post. Die vierte Filiale in Graz entstand nach Troppau, Wien und Zagreb. Kastner und Öhler ließen die gewonnenen Räume prächtig umbauen – der Umbau erfolgte im Jugendstil in den Jahren 1912-1914 und die neuen Räume wurden kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs eröffnet, was natürlich dem Geschäft nicht guttat. Das Kaufhaus überlebte jedoch, seine Innenräume, Anfang des 21. Jahrhunderts renoviert und 2007 auf 40.000 Quadratmeter Verkaufsfläche erweitert, sind ein Juwel des Jugendstils und erinnern an ähnliche Kaufhäuser in Paris. Die Treppe schmücken Porträts von Kastner und Öhler – natürlich in ihrer Jugend.

Ein Besuch im Café auf der Dachterrasse des Kaufhauses ist ein Muss bei einem Stadtrundgang, einschließlich des Skywalks, von dem aus man herrliche Ausblicke auf das Stadtzentrum sowie auf den Schlossberg gegenüber dem Kaufhaus hat.

Auch für meine Gäste ist eine Kaffeepause mit Bier oder Aperolspritz obligatorisch. Wir werden es jetzt auch tun. Das nächste Mal werden wir durch die Gassen der Altstadt schlendern.

Graz I

Vor kurzem bat mich mein Freund Heimo Liendl, ein treuer Leser meiner Stadtbeschreibungen, etwas über Graz zu schreiben. Zunächst war ich verwirrt, denn ich hatte bereits über Graz geschrieben, und zwar im Jahr 2013 zu Beginn meiner Veröffentlichungstätigkeit im Web. Dann wurde mir jedoch klar, dass dieser Artikel auf Tschechisch verfasst worden war und dass mein Wissen über die Stadt, die unser neues Zuhause geworden ist, in den letzten zehn Jahren erheblich gewachsen ist. Wenn ich mich also ans Schreiben mache, bedeutet das, dass ich sicher nicht in der Lage sein werde, alle Ecken der Stadt mit den Geschichten, die damit verbunden sind, in einem einzigen Artikel zu beschreiben. Es muss also eine Serie sein. Und trotzdem werde ich vieles auslassen müssen. Aber ich kann versuchen, Graz so zu beschreiben, wie ich es meinen Verwandten und Freunden erzähle, wenn ich sie durch Graz führe.

Also, Graz ist eine sehr schöne Stadt. Es wird gesagt, dass es die schönste italienische Stadt außerhalb Italiens ist. Der Grund dafür ist, dass hauptsächlich italienische Architekten an ihrem Bau beteiligt waren. Es war Italien nahe und der italienische Norden gehörte genauso zum Interessensgebiet der Habsburger, die sich 1278 in der Steiermark niederließen und seitdem ihr Schicksal bestimmten. Es reicht aus, auf dem Hauptplatz zu stehen (unbedingt mit dem Rücken zum Rathaus), um zu verstehen, was mit diesem Satz gemeint ist. Oder aus dem Fenster von Heimos Praxis im dritten Stock runterblicken, von wo aus man einen großartigen Blick auf das Stadtzentrum hat.

Graz hat einen großen Vorteil. Es wirkt architektonisch sehr homogen, was daran liegt, dass es hauptsächlich in der Zeit der Renaissance und später des Klassizismus erbaut wurde. Diese beiden Stile greifen fast unmittelbar ineinander, dank der Bücher des Architekten Andrea Palladio aus Vicenza. Sie ergänzen sich perfekt. Ein wenig Gotik, Manierismus, eine Prise Barock und schließlich auch moderner Architektur wirken dann wie Gewürze in einem Gericht, die ihm einen spezifischen Geschmack verleihen, aber das ursprüngliche Konzept nicht stören. Die einzigen beiden Gebäude, die nicht in diesen Stil passen, sind die Oper und das Rathaus, die in einem neu-barocken Stil am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert gebaut wurden. Wirklich hässlich ist nur der Andreas-Hofer-Platz. Aber niemand ist eben perfekt und Graz gleicht diese Ausnahmen gut aus.

Graz ist eine relativ junge Stadt. In römischer Zeit, als die Steiermark Teil des Römischen Reiches wurde, war die Lage am Fuße der Berge uninteressant. Kaiser Vespasianus gründete daher seine Stadt am Fluss Sulm (damals Solva genannt) und so entstand die Stadt Flavia Solva im Süden der Steiermark in der Nähe der heutigen Grenze zu Slowenien. Im frühen Mittelalter wurde Judenburg die älteste Stadt der Steiermark. Erst als die ungarischen Truppen die Region nicht mehr bedrohten, entstand die Stadt am Schlossberg, die den Weg entlang der Mur nach Norden kontrollierte.

Wenn man in Graz nach Gotik sucht, muss man sich in den Bereich des ehemaligen Herzogsviertels beim Burgtor begeben. Die älteste Kirche steht jedoch außerhalb der Altstadt und heißt „Maria Himmelfahrt am Leech“ im Stadtteil Gleidorf. Das ursprüngliche romanische Gebäude, das der letzte Babenberger Herzog Friedrich II. dem Orden der Deutschen Ritter geschenkt hatte, wurde während der Kämpfe zwischen Ungarn und Böhmen um die Vorherrschaft in der Steiermark zerstört. Als die Habsburger die Macht im Lande übernahmen, wurde hier eine neue Kirche im frühen gotischen Stil errichtet, die im Jahr 1293 geweiht wurde. Der Orden der Deutschen Ritter schenkte diese Kirche im Jahr 1979 dem Bistum Graz-Seckau, das sie im Jahr 1985 zur Karl-Franzens-Universitätskirche machte. Dank dieser Tatsache wurde die Kirche in den 1990er Jahren gründlich renoviert.

Die Kirche Maria Himmelfahrt am Leech.

Der Dom ist wesentlich jünger. Der ursprüngliche romanische Bau, in dem die steirischen Stände im Dezember 1260 dem böhmischen König Přemysl Ottokar huldigten, wurde vom Herzog Friedrich V. im Jahr 1438 abgerissen und an dieser Stelle wurde eine neue Kirche im Stil der Spätgotik errichtet. Aus Friedrich V. wurde 1440 der römische König Friedrich IV. und zwölf Jahre später sogar Kaiser Friedrich III. Mit der Vorstellung, von seiner Heimatstadt Graz aus regieren zu können, begann er nicht nur den neuen Dom, sondern auch den Herzogspalast – also eigentlich den Königspalast – zu bauen. Übrigens war Friedrich der erste Habsburger mit der auffällig hervorstehenden Unterlippe, die er von seiner Mutter Cimburga von Masowien, der Frau seines Vaters Ernst des Eisernen, geerbt hatte – diese herabhängende Habsburger Lippe ist also eine polnische Importware. Wir werden Friedrich noch oft begegnen, schon allein deshalb, weil er für seine Zeit sehr lange lebte. Er starb erst im Jahr 1493 im Alter von 78 Jahren.

Er war nicht besonders aktiv, schlief gerne und wurde nicht umsonst “Erzschlafmütze” genannt. Er lebte also langsam, aber dafür umso länger. Aus irgendeinem Grund hinterließ er an den von ihm errichteten Gebäuden die Inschrift AEIOU. Ich habe unzählige Theorien gehört, was diese Abkürzung bedeuten sollte, Am häufigsten wird es als “Austria erit in orbe ultima” interpretiert, also “Österreich herrscht über den ganzen Erdkreis”. Ich bin dieser Interpretation sehr skeptisch gegenüber, weil Friedrich prophetische Fähigkeiten gehabt haben müsste und in die Zukunft hätte sehen müssen, denn erst durch die Hochzeit seines Sohnes Maximilian mit Maria von Burgund und dann seines Enkels Philipp dem Schönen mit der Erbin des spanischen Throns Johanna erweiterte sich die Habsburger Monarchie tatsächlich auf die ganze Welt. Friedrich verwendete jedoch seine Unterschrift schon viel früher – persönlich denke ich, dass es dem nicht besonders einfallsreichen Herrscher einfach nur gefiel, alle Vokale aus dem Alphabet herauszunehmen und sie alphabetisch zu ordnen. Sein AEIOU finden wir sowohl an der Wand des Palastes im ersten Hof der Burg als auch über dem Portal des Doms.

Dort, neben seinem kaiserlichen Adler, finden wir ein Wappen, das wir heutzutage auf den portugiesischen Euromünzen sehen können. Es gehört Friedrichs Frau Eleonore von Portugal.

Friedrich heiratete sie während seiner Reise nach Rom im Jahr 1452. Zu dieser Zeit war er bereits zweiunddreißig Jahre alt, aber immer noch männliche Jungfrau, was bei Herrschern ziemlich ungewöhnlich war. Aber Friedrich, wie ich bereits sagte, war nirgendwohin in Eile. Die Braut wurde ihm vor der Stadt  Siena vorgestellt und niemand Geringerer als Aeneas Silvius Piccolomini, der zukünftige Papst Pius II., brachte sie zu ihm. Zu dieser Zeit war er der Sekretär des Kaisers und bereitete seine Krönungsreise mit einem Perfektionismus vor. Es wird gesagt, dass er sich sehr unhöflich über den Wein Schilcher geäußert hat, als er eine Herberge für den Kaiser in der Gegend von Deutschlandsberg suchte. Er schrieb, dass die Menschen in dieser Region sehr rückständig seien und “einen widerlichen Essig trinken, den sie Schilcher nennen”. Möge ihm vergeben werden, die Päpste irren sich nur in den Glaubensfragen nicht. Danke Silvio wissen wir zumindest, dass Schilcher bereits im fünfzehnten Jahrhundert angebaut wurde. Bei Siena brachte er jedoch dem schüchternen Kaiser seine wunderschöne fünfzehnjährige Braut mit Rabenhaaren, die fast bis zum Boden reichten, und erschrak sofort, als der Kaiser bei dem Blick an seine Braut wie vom Tode gezeichnet erblasste und ohnmächtig umzufallen drohte.

Dennoch überlebte der Kaiser das Treffen und es wurde die Hochzeit und feierliche Kaiserkrönung beider Ehepartner in Rom gefeiert, aber das Problem war, dass die Ehe noch nicht vollzogen war. Der Kaiser entschuldigte sich damit, dass er keinen Thronerben auf italienischem Boden zeugen wollte, was die Italiener jedoch sehr verärgerte und sie den lieben Monarchen und seine frisch vermählte Frau zu Eleonoras Onkel Alfonso I. nach Neapel brachten, damit er ihm Leviten lesen konnte. Trotz aller Proteste wurden die Ehepartner ins Bett gelegt, in der ersten Nacht funktionierte es aber wieder nicht. Friedrich entschuldigte sich damit, dass das Bett verhext war. Das Bett wurde also ausgetauscht, mit geweihtem Wasser besprengt und danach gab es keine weiteren Ausreden mehr, und Friedrich zeugte mit Eleonore vier Kinder, von denen zwei – sein Thronfolger Maximilian und die schöne Tochter Kunigunde – in der Geschichte des Reiches und der Stadt Graz eine wichtige Rolle spielen sollten. Es wird gesagt, dass als Eleonore ihren erstgeborenen Sohn Maximilian auf den Armen hielt, sie zu ihm sagte: “Lieber Sohn, wenn du wie dein Vater sein wirst, werde ich mir nie verzeihen, was ich wegen dir ertragen musste.”

Der Sohn wurde allerdings ganz anders als sein Vater, er wurde zum “letzten Ritter” auf dem Kaiserthron, gewann Schlachten und führte Kriege, die er nicht gewinnen konnte, weil ihm jedes Mal das Geld ausging. Er änderte die Militärtaktik für die nächsten hundert Jahre, verschwendete Geld gedankenlos, machte Schulden, erweiterte das Reich und vermählte seine Kinder und Enkelkinder mit großem Erfolg.

Eleonore erlebte Erfolge ihres Sohnes nicht. Das Leben mit ihrem mürrischen Ehemann im kalten Wiener Neustadt, das zur Hauptstadt des Reiches wurde, nachdem die Wiener sich über den humorlosen Herrscher lustig gemacht hatten, tat ihr nicht gut und sie starb jung im Alter von 31 Jahren.

Aus dem Palais Friedrichs in Graz ist nicht viel übriggeblieben. Der Teil, der zum Dom hin ausgerichtet war, musste sogar im neunzehnten Jahrhundert abgerissen werden. Zusammen mit ihm wurde auch der Übergang zum Dom abgerissen, den Friedrich bauen ließ, um bei einem Besuch der Kirche nicht mit einfachem Volk in Berührung zu kommen. Der Ort, an dem die Brücke mit dem Dom verbunden war, kann man immer noch an der Kirche merken. Es befindet sich in der Nähe der Kapelle der Heiligen Barbara und der darüber liegenden Friedrichskapelle, von der angenommen wird, dass der Kaiser von hier die Messe beiwohnte. Dort befindet sich das gotische Gemälde der Kreuzigung von Conrad Laib.

Heute ist die Landesregierung in der Burg untergebracht. Die interessanteste architektonische Komponente ist die Doppelwendeltreppe, die Friedrichs Sohn Maximilian zum Palast hinzufügte. Eine ähnliche doppelte gotische Treppe befindet sich nur noch an einem Ort in Europa, und zwar in der Elisabeth-Kathedrale in Košice (Kaschau)- dort wird sie “Königliche Treppe” genannt und erinnert an die Herrschaft von König Matthias Corvinus, eines Zeitgenossen Friedrichs III. aber im Gegensatz zu Graz ist sie nicht öffentlich zugänglich.

Den Burggarten kann man durch einen Eingang betreten, der noch vor dem Burgtor liegt. Es ist schön dort, man kann bis zur Burgmauer gehen, von wo aus man einen herrlichen Blick auf den Grazer Stadtpark hat – dazu später mehr. Besonders von der Bank neben dem Freiheitsdenkmal aus dem Jahr 1960. Der Adler als ein Symbol der Freiheit wurde von dem Bildhauer Wolfgang Skala errichtet und erinnert an den Abzug der letzten russischen Truppen aus der Steiermark am 14.September 1955. In den Gärten gibt es auch eine schöne Orangerie, einfach ein Ort zum Entspannen.

Freiheitsdenkmal

Der Dom hat eine besondere Form. Sein Grundriss ist zu breit, und es blieb kein Platz für ausreichende Länge. Es fehlt auch ein Querschiff.

Die seitlichen barocken Kapellen sind eindeutig jünger als die Kirche, nicht aber die Fresken von Christophorus auf beiden Seiten der Kirche. Im Mittelalter herrschte der Glaube, dass an dem Tag, an dem ein Mensch Christophorus sah, er nicht sterben konnte. Da man von beiden Seiten in die Kirche gelangen konnte, gibt es auch auf beiden Seiten ein Fresko von Christophorus. Damit genügte den Gläubigen nur ein Blick in die Kirche.

Die prachtvollen Reliquiare auf beiden Seiten der Apsis haben eine eigene Geschichte. Heute befinden sich in diesen Truhen die Überreste von Heiligen, die Papst Paul V. im Jahr 1617 dem Erzherzog Ferdinand als Belohnung für die Rekatholisierung der Steiermark geschickt hat. Aber diese Truhen haben eine interessante Geschichte. Bereits im Jahr 1382 schloss sich die Stadt Triest freiwillig dem Habsburgerreich an. Dies geschah sicherlich, weil sie Schutz vor den expandierenden konkurrierenden Venezianern erhoffte. Aber zwischen der Habsburger Windischen Mark (dem heutigen Slowenien) und Triest gab es keine Landbrücke, zwischen diesen Ländern lag die Grafschaft Görz. Zu Zeiten des Kaisers Friedrich herrschte hier Graf Leonhard, ein verschwenderischer und genussfreudiger Mensch, der sich in Schulden stürzte. Die Habsburger schlossen mit den Grafen von Görz einen Vertrag (bereits im Jahr 1397), wonach wenn einer dieser Familien ausstirbt, die andere seine Besitzungen erben wird. Aber es drohte, dass Leonhard seine Länder verkaufen würde. Friedrich suchte nach einer Lösung.

In Mantua herrschte zu dieser Zeit die Familie Gonzaga. Sie wurde dank Pferdezucht eine der reichsten Familien Europas. Mantuanische Pferde wurden als die besten geschätzt, sie zu besitzen war eine prestigeträchtige Angelegenheit, etwas Ähnliches wie heute ein Ferrari in der Garage zu haben. Der Markgraf von Mantua, Ludovico, hatte eine Tochter namens Paola. Sie war klug und gebildet, außerdem ein herzensguter Mensch. Leider ähnelte sie ihrer Mutter Barbara von Brandenburg, die keine Schönheit war. Paola litt zusätzlich an Knochentuberkulose und sie hatte daher einen Buckel. Sie galt als unvermählbar, aber ihre Mutter wollte das nicht so lassen. Um einen Bräutigam anzulocken, veröffentlichte sie die Höhe von Paolas Mitgift. Und Friedrich III. roch die Lunte. Er vermittelte die Hochzeit des Grafen von Görz mit Paola, damit der Graf seine Schulden bezahlen konnte. Der Kaiser vermutete richtig, dass der Graf mit solch einer Braut keine Kinder zeugen würde und sein Geschlecht aussterben würde. So geschah es. Die arme Paola starb im Jahr 1496 im Alter von 33 Jahren, ihr Ehemann vier Jahre später. Er konnte keine Kinder zeugen, aber er schaffte es, all das Geld zu verschleudern, das er durch die Ehe mit Paola erhalten hatte. Er verkaufte sogar beide Truhen, in denen die Mitgift von Mantua nach Görz transportiert wurde. Es ist ein wunderschönes italienisches Werk mit Elfenbeinreliefs, ein wahres Meisterwerk der italienischen Renaissancekunst. Leonhard verkaufte die Truhen an die Mönche in Millstatt in Kärnten. Und als Erzherzog Ferdinand die Jesuiten nach Graz brachte, musste er ihnen auch einige Ländereien geben, von denen sie leben konnten. Die Wahl fiel auf Millstatt. Und als Ferdinand dann nach einem angemessenen Behälter für die heiligen Reliquien aus Rom suchte, boten die Jesuiten diese Truhen an. Ob sie wussten, dass einst Brokate, Wäsche, Schmuck und Geld in ihnen transportiert wurden, ist schwer zu sagen. Aber auf diesem Weg fanden die Reliquiare ihren Weg in den Grazer Dom.

Übrigens, wenn Sie nach Mantua fahren und die Camera degli Sporgersi besuchen, wieder einmal “piú bella camera del Mondo”, (in Italien gibt es eine Menge der schönsten Räume der Welt) schauen Sie sich das Fresko an, auf dem die Familie des Markgrafen Ludovico von einem der größten Renaissance-Künstler, Andrea Mantegna, dargestellt wird. Dort ist auch das Mauerblümchen der Familie, Paola, dargestellt, die ihrer Mutter einen Apfel reicht. Sie wusste zu dieser Zeit noch nicht, welch trauriges Schicksal auf sie wartet.

Das wichtigste Ereignis im Grazer Dom war die Hochzeit des Erzherzogs Ferdinand am 23. April 1600 mit der bayerischen Prinzessin Maria Anna. Als Hochzeitpriester musste Kardinal Franz von Dietrichstein aus dem entfernten Olmütz antanzen. Ferdinands Mutter Maria fand keinen steirischen und im Grunde genommen keinen österreichischen Priester, der aus ihrer Sicht katholisch genug war, um ihren Sohn zu vermählen. Alle rochen ihr nach protestantischer Ketzerei. Nur Dietrichstein, geboren in katholischem Spanien und studiert in Rom, erhielt ihr Vertrauen. Es funktionierte. Obwohl die Braut so hässlich war, dass sogar Ferdinands Jesuiten-Beichtväter sich Sorgen machten, dass “das Aussehen der Braut sich negativ auf die Zeugung von Nachwuchs auswirken könnte”, liebte Ferdinand seine unansehnliche „Annele“ und zeugte mit ihr einige Kinder.

An der Wand des Doms sollte man sich das “Landplagenbild” ansehen. Es wurde auf Initiative der Grazer Bürger im Jahr 1480 geschaffen, als plötzlich die schwarze Pest ausbrach, Heuschrecken die Ernte fraßen und die Türken zum ersten Mal vor der Stadt auftauchten. Um die Stadt vor solchen Katastrophen in der Zukunft zu schützen, stifteten die Bürger dieses Gemälde an der Wand des Doms. Es lohnt sich, es anzuschauen, vor allem weil es das einzige Bild der Stadt Graz vor ihrem Renaissance-Umbau darstellt, also noch mit mittelalterlicher gotischer Befestigung.

Damit verlassen wir das gotische Graz, (also nicht ganz, es gibt natürlich noch die Stadtpfarkirche, die Franziskanerkirche, der Hof des Hauses des Deutschritterordens und zwei Fenster in der Fassade des Hauses in der Sporgasse 12, aber darüber später. Jedenfalls im nächsten Artikel werden wir uns mit der jüngeren Geschichte der Stadt beschäftigen.

Lübeck – Teil II

Gleich hinter dem Rathaus befindet sich die Marienkirche, also der Lübecker Dom, der erste Dom, der im gotischen Stil aus Ziegeln gebaut wurde. Jeder seiner beiden Türme besteht aus 1,2 Millionen Backsteinen!

Marienkirche

Später kopierten alle Städte im Norden diesen Stil, wo es logischerweise einen Mangel an Steinmaterial, aber genügend Ton zur Fertigstellung der Backsteine gab. Natürlich schafften die Bürger der Stadt so ein Wunderwerk nicht ohne übernatürliche Unterstützung. Sie holten sich die Hilfe des Teufels, indem sie ihm einflüsterten, dass es sich um eine riesige Kneipe handeln würde, in der man sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken würde und so dem Teufel unzählige sündige Seelen zugutekommen würden. Als der Teufel ihren Schwindel durchschaute und eine Kirche anstelle der versprochenen Kneipe fand, warf er einen Granitblock auf die Kirche. Allerdings verfehlte er sein Ziel und der Granitblock liegt heute neben dem Eingang, auf den Rolf Goerler eine Bronzestatue eines Teufels platzierte. Er sieht jedoch nicht wütend aus, sondern eher zufrieden und ganz lieb. Ich konnte nicht widerstehen und ließ mich mit ihm fotografieren.

Die Marienkirche brannte nach dem verheerenden Bombenangriff am 28. März 1942 nieder. Beide Glocken fielen aus den Türmen und zerschellten, ihre Trümmer sind noch heute sichtbar. Das Kirchenschiff im wunderschönen gotischen Stil ist unglaublich hoch und misst 40 Meter.  Die Säulen wurden im Mittelalter bereits bemalt, dann aber immer wieder übermalt. Durch das verhängnisvolle Feuer nach dem Bombenanschlag tauchte die Originalbilder jedoch wieder auf, die dann nach dem Krieg jahrzehntelang restauriert wurden.

In der Totentanzkapelle hing zwischen 1463 und 1942 eine Serie von Gemälden des “Totentanzes”. Dieses Motiv war im Mittelalter oft zu finden, insbesondere nach den Pestepidemien, die arme sowie reiche Menschen, Kardinäle und Könige gleichermaßen töteten. Mit jeder solche Figur tanzt ein Skelett. Das Original stammte von Berndt Notke, wurde aber beim verheerenden Bombenangriff am Palmsonntag 1942 zerstört. Wenn man wissen möchte, wie das Werk von Notke aussah, müsste man jedoch nach Tallinn in Estland fahren, wo dieser Autor auch tätig war. Dort befindet sich ein etwa 13 Meter langes Fragment dieses Bildes. Lange wurde darüber gestritten, ob es sich um das Original handelt, schließlich waren sich Experten einig, dass es in Tallinn eine treue Kopie der Lübecker Originalversion gibt. Dieses Motiv findet man besonders im deutschsprachigen Raum an vielen Orten, ich konnte so ein Bild zum Beispiel in Metnitz in Kärnten besuchen.

Im Nordturm befinden sich sieben Glocken – darunter sowohl Kopien der zerstörten, die man auf dem Kirchenboden gesehen hatte, als auch drei aus Danzig, die auf dem “Friedhof der Glocken” in Hamburg gefunden wurden, wo sie von den Nazis eingeschmolzen werden sollten. Im Südturm befindet sich ein Glockenspiel mit 36 Glocken, auf dem bis zu 20 verschiedene Melodien gespielt werden können. Es spielt jede volle Stunde – seit 1954.

Ein Stück weiter liegt die St. Jakobi-Kirche, wiederum mit einem hohen grünen Turm, geweiht den Seefahrern. Daher befindet sich in der Nähe auch das “Schifferhaus”, das von wohlhabenden Besitzern von Handelsschiffen errichtet wurde, sowie das Hospital des Heiligen Geistes. In der Kapelle unter dem Turm befindet sich ein Rettungsboot des Segelschiffs Pamir.

Pamir

Dieses Schiff, das zur Lübecker Seefahrerschule gehörte, sank während eines Sturms am 21. September 1957. Von der 80-köpfigen Besatzung überlebten nur sechs Männer – gerade auf diesem Boot, das hier bis heute ausgestellt ist. An den Wänden befinden sich Gedenktafeln mit den Namen der Opfer dieser Tragödie, es liegen Kränze und Bänder als ewige Erinnerung daran, dass das Meer, das der Stadt Wohlstand brachte, auch äußerst grausam sein kann. Wenn man Zeit hat, lohnt sich ein Besuch des Hospitals. Das schöne gotische Gebäude mit vielen Fresken zeigt einen Zyklus von 23 Bildern aus dem Leben der heiligen Elisabeth von Thüringen, die in Bratislava geboren wurde, einer der berühmtesten Heiligen des 13. Jahrhunderts Also genau zu der Zeit, als in Lübeck gebaut, gebaut und wieder einmal gebaut wurde.

Und weil die Bürger so fleißig bauten, konnte auch der örtliche Bischof nicht zurückbleiben, der oft mit Vertretern der Stadt im Streit lag. Seine Enklave befindet sich in der südlichsten Ecke der Altstadt und wird von einer Kirche mit zwei hohen schlanken grünen Türmen dominiert, von denen man sich nicht ganz sicher ist, ob sie noch romanisch oder bereits gotisch sind. Das kommt davon, dass sie bereits 1173 von Heinrich dem Löwen gebaut wurden. Übrigens findet man den Löwen als Symbol des Stadtgründers sowohl vor der Kirche als auch in ihr. Wenn man die Kirche betritt, wird man direkt von einem riesigen Triumphkreuz beeindruckt, das 17 Meter groß ist.

Auf diesem riesigen Kreuz hängt Christus, umgeben von Heiligen, Propheten und Engeln. Unter dem Kreuz knien der heilige Johannes der Evangelist, Maria, Maria Magdalena und in dieser Gesellschaft auch Bischof Krummedick, der das Werk in Auftrag gegeben und bezahlt hat. Im Jahr 1477 wurde es von Bernd Notke, dem Autor des “Tanzes der Toten”, vollendet. Dieser Künstler, der aus Pommern stammte und in Dänemark, Schweden und Estland als Maler und Bildhauer große Erfolge feierte, verbrachte seine letzten Jahre in Lübeck, wo er 1509 starb. Das Kreuz überragt alles andere, was sich in der Kirche befindet. Die Heiligen auf der Galerie wurden auch von Notke geschnitzt, darauf befinden sich auch große Uhren aus dem 17. Jahrhundert. Die Kanzel wurde im Renaissancestil gebaut. Zum Glück haben Notkes Werk und die Kanzel die Zerstörung des Doms überlebt, 1942 stürzte nur ein Teil des Altars ein

Vom Dom zur Stadt hin gibt es eine offene gotische Halle namens “Paradis”. Hier konnten Bürger, die in der Stadt angeklagt waren, Zuflucht suchen, weil sie dann nicht mehr dem städtischen, sondern dem kirchlichen Recht unterlagen, da sie sich auf dem Gebiet des Bistums befanden. Und im „Paradis“ waren sie sicher. Da der Bischof den Bürgern gerne Streiche spielte, war die Chance auf einen befreienden Urteilsspruch bei einem bischöflichen Gericht relativ hoch. Übrigens heißt die enge Gasse, die zum Paradis führt, „Fegefeuer“.

In Lübeck gibt es neben zahlreichen Kirchen auch eine Vielzahl von Museen. Ich habe nicht vor durch alle meine Leser zu führen, natürlich hatten wir nicht genug Zeit, um alle zu besichtigen. Ich möchte aber zumindest die berühmten Persönlichkeiten, denen die Museen gewidmet sind, erwähnen. Die meisten Museen befinden sich im nördlichen Teil der Altstadt rund um die Königstraße. Eines davon ist das Geburtshaus Willy Brandts, der hier im Jahr 1913 geboren wurde und von 1969 bis 1974 deutscher Bundeskanzler war. In der Nähe befindet sich auch das Haus von Günter Grass. Dieser Schriftsteller und Träger des Nobelpreises für Literatur aus dem Jahr 1999 wurde zwar nicht in Lübeck geboren, verbrachte jedoch hier seine letzten Jahre und starb hier im Jahr 2005. Sein Schicksal ist interessant. Als siebzehnjähriger trat er der SS bei, um am 8. Mai 1945 in Marienbad in amerikanische Gefangenschaft zu geraten. Berühmt wurde er durch den Roman “Die Blechtrommel”, der 1959 veröffentlicht wurde und als Symbol der Antikriegsliteratur gilt.

Aber Lübeck ist vor allem die Heimat der Brüder Heinrich und Thomas Mann. In dem Haus, in dem Heinrich geboren wurde und in einem anderen, in dem der jüngere Thomas nach dem Umzug der Familie geboren wurde, befinden sich überall Finanzinstitute. Aber die Stadt konnte sich helfen. Sie nutzte das Haus, in dem die Großeltern der Schriftsteller-Gebrüder lebten, und machte es zum “Buddenbrookshaus”, benannt nach dem berühmtesten Werk von Thomas.

Das Museum ist dem Leben und Werk beider berühmter Brüder gewidmet. Und das, obwohl die Lübecker die Brüder zu ihren Lebzeiten nicht riechen konnten und Thomas die Ehrenbürgerschaft der Stadt erst im Jahr 1955 erhielt, nachdem ein Teil der Senatoren den Sitzungssaal verlassen und sich somit der Abstimmung entzogen hatte.

Die Brüder hatten sehr unterschiedliche politische Ansichten, was auch zu einer vorübergehenden Unterbrechung ihrer Kontakte führte. Während der ältere Heinrich, geboren 1871, ein überzeugter Sozialist war, wurde Thomas, geboren 1875, vom deutschen Nationalismus angesteckt und begrüßte den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Beide verbrachten nur ihre jungen Jahre in Lübeck. Heinrich zog bereits 1889 nach Dresden und Thomas 1894 nach München. Nachdem Thomas Mann im Jahr 1901 seinen berühmtesten Roman “Buddenbrooks” veröffentlicht hatte, durfte er in der Stadt fast nicht mehr erscheinen. Die angesehenen Bürger erkannten sich in diesem Buch, das den Untergang einer Patrizierfamilie beschrieb, und ihr nicht gerade schmeichelhaftes Bild, das in diesem Spiegel präsentiert wurde, gefiel ihnen überhaupt nicht. Auch Heinrichs Buch von 1904 “Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen” durfte in Lübeck nicht verkauft werden.

Heinrich heiratete im Jahr 1914 die Prager Schauspielerin Maria Kanova, die jüdischer Herkunft war. Sie trennten sich im Jahr 1930. Maria wurde während des Krieges in Theresienstadt interniert und starb an den Folgen des Aufenthaltes im Konzentrationslager im Jahr 1947. Heinrich stellte sich von Anfang an gegen den Nationalsozialismus, weshalb er nach 1933 aus Deutschland fliehen musste. Im Jahr 1936 erhielt er die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, obwohl er in Nizza in Frankreich lebte. Seine Bücher wurden von den Nazis öffentlich verbrannt. Während seiner Zeit in Frankreich schrieb er seine historischen Romane “Die Jugend des Königs Henri Quatre”. Das sind die Bücher, die ich kenne. Die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erleichterte ihm die Emigration in die USA im Jahr 1940. Heinrich starb im Jahr 1950, seine Urne wurde in die DDR überführt und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin feierlich beigesetzt. Die Kommunisten eigneten sich Heinrich Mann ein, obwohl er ein Sozialist und überzeugter Demokrat war, der jedoch vergeblich Sozialisten und Kommunisten zum gemeinsamen Widerstand gegen die aufkommende nationalsozialistische Gefahr aufrief.

Thomas engagierte sich politisch zwar etwas weniger, aber auch er entkam nicht dem Hass der Nazis. Ab 1929 kaufte er ein Haus auf der Kurischen Nehrung in Nidda. (Das von den Einheimischen “Onkel Toms Hütte” genannt wurde und heute ein Kulturzentrum ist, das an seine dortige Tätigkeit erinnert.) Dort verbrachte er die Sommer in den Jahren 1930-1932 und schrieb dort unter anderem seine Tetralogie “Joseph und seine Brüder”. Im Jahr 1932 erhielt er per Post eine verkohlte Ausgabe seines Romans “Buddenbrooks”. Er konnte sich also nicht einmal an dem entlegensten Ort im Deutschen Reich vor dem Hass der Nazis verstecken. Thomas Mann verstand die Botschaft, er besuchte Nidda nie wieder und im Jahr 1933 verließ er wie sein Bruder Heinrich Deutschland.

Er hat für seine Emigration die Schweiz gewählt, aber trotzdem am 19. November 1936 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erhalten, genau wie sein Bruder. Obwohl er homosexuelle Tendenzen hatte, hat er seine sexuelle Orientierung nie ausgelebt. Er war verheiratet und hatte sechs Kinder. Im Jahr 1938 emigrierte er in die USA, wo er 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Nach dem Krieg kehrte er in die Schweiz zurück, wo er 1955 in Zürich verstarb. Es gibt nur einen Ort in Lübeck, an dem Thomas Mann authentisch in Erinnerung bleibt. Es handelt sich um das Zollhaus am Burgtor, einem der Stadttore.

Ein schöner gotischer Turm aus dem Jahr 1444 schließt die Stadt im Norden ab. In einer Wohnung in seiner Mauer erhielt die Schriftstellerin Ida Boy-Ed im Jahr 1912 als Geschenk der Stadt zum 60. Geburtstag ein lebenslanges Wohnrecht. Intellektuelle trafen sich dort und hier feierte Thomas Mann, der in seiner Heimatstadt als „Persona non grata“ galt war, am 26. Juni 1926 seinen einundfünfzigsten Geburtstag. In der Nähe befindet sich das Burgkloster mit einem modernen Aufbau des archäologischen Museums. Hier konnten wir den im Jahr 1984 entdeckten Münzschatz bewundern.

Was Bremerhaven für Bremen, ist Travemünde für Lübeck. Schon im Jahr 1317 kaufte die Stadt vom Grafen von Holstein die Burg an der Flussmündung, um die Kontrolle über die für sie lebenswichtige Flussmündung zu erlangen. Heute ist es ein luxuriöser Ort mit Villen, die Millionen kosten. Das Meer lädt hier nicht gerade zum Schwimmen ein, aber der Strand ist breit und sandig, und im Sommer gibt es hier viele Sonnenliegen und Sonnenschirme. In Travemünde gibt es auch luxuriöse Hotels und Restaurants. Es war ein interessantes Gefühl, als die Passagiere des vorbeifahrenden Schiffes uns in unsere Teller schauten, obwohl wir im zweiten Stock des Restaurants saßen. Der Fluss ist hier eng, das Restaurant direkt am Ufer, so dass die Entfernung zu den vorbeifahrenden Schiffen minimal ist. Es war nicht ganz einfach, nach Travemünde zu gelangen. Es gibt natürlich einen Zug von Lübeck aus, aber die Strecke gehört nicht zu den deutschen Bahnen. Also den Fahrkartenaen zu benutzen und eine Fahrkarte zu kaufen (es gab schon damals keine mit Menschen besetzten Kassen mehr), war eine echte Herausforderung.

Lübeck ist wirklich schön. Es wurde im Stil von Romanik, Gotik, Renaissance, Barock und sogar modernen Stilen gebaut. Es ist wichtig, all dies bei schönem Wetter zu erleben. Wir hatten kein Glück, wir bewegten uns im kalten Regen von einer Kirche zur anderen und dann weiter zum Museum mit Zwischenstopps in Cafés und Restaurants. Aber es hat sich trotzdem gelohnt. Lübeck ist eine schöne, historische und kulturelle Stadt.

Der Mensch lebt nicht nur von Marzipan.

Lübeck Teil I.

“Lübeck ist weltbekannt für sein Marzipan”, sagte einmal eine Schulkollegin meines Sohnes die aus dieser Stadt stammte, fügte aber gleich deprimiert hinzu: “Aber davon wissen nur die Lübecker selbst.” Die Legende, dass Marzipan gerade in dieser Stadt erfunden wurde, als die Bürger während einer Belagerung und drohenden Hungersnot ein paar Säcke Zucker und Mandeln fanden, ist natürlich erfunden. Marzipan stammt aus dem Orient und gelangte – wie könnte es anders sein – über Venedig nach Europa. Aber in Lübeck trifft man an jeder Ecke darauf, es gibt ganze Geschäfte mit Marzipan und es werden daraus nicht nur Statuen in allen möglichen Größen, sondern sogar Trabbis hergestellt. Zwar nicht fahrbar, dafür umso süßer.

Marzipan

Lübeck war vor allem eine Handelsstadt und über seinen Hafen gelangte die süße Versuchung, die im frühen 16. Jahrhundert als Aphrodisiakum galt, also so etwas wie das Viagra der damaligen Zeit, in ganz Norddeutschland. Das absolute Mekka für Marzipanliebhaber ist das Cafe Niederegger – wo sonst als in Lübeck, auf einem ehrenwerten Platz neben dem Rathaus. Hier gibt es auch ein Marzipanmuseum, falls Sie nach einem Spaziergang durch die Stadt noch nicht genug davon haben. Wenn in den Museen von Madam Tussaud die Portraits der Prominenten aus Wachs gemacht werden, hier kann man zum Beispiel Thomas Mann aus Marzipan bestaunen. Aber wir sind nicht wegen des Marzipans in diese Stadt im Norden Deutschlands gefahren. Genauso wie die überwiegende Mehrheit der Menschen auf der Welt hatten wir keine Ahnung von seinem Ruhm. Aber Lübeck hat noch viel mehr zu bieten.

               Das Holstentor, als architektonische Kuriosität, brachte es im Jahr 2006 auf eine der ersten deutschen Gedenk-Zwei-Euro-Münzen.

Die Stadt hatte enge Beziehungen zu einem deutschen Kanzler und gleich zwei Trägern des Nobelpreises für Literatur. Willi Brandt wurde hier im Jahr 1913 und Thomas Mann im Jahr 1875 geboren und Günter Grass starb hier im Jahr 2015. Es gab also viel zu entdecken.

Lübeck liegt am Fluss Trave nahe der Nordsee. Praktisch alle wichtigen Häfen in Nordeuropa liegen im Landesinneren an Flüssen, da die raue Witterung den Bau von sicheren Häfen direkt an der Küste erschwert (eine Ausnahme ist beispielsweise Tallinn in Estland). Obwohl die Trave kein großer Fluss ist, entschied sich Graf Adolf II. von Schauenburg im Jahr 1143, auf einer Insel zwischen den Flüssen Trave und Wakenitz eine Stadt zu gründen. Für die damaligen Schiffe reichte die Trave aus, heute müssen große Schiffe, die in Travemünde anlegen, zurück ins Meer rückwärtsfahren, weil sie im Hafen nicht genug Platz zum Umdrehen haben.

Nachdem die erste Stadt bereits im Jahr 1157 niedergebrannt war, gab Graf Adolf den Platz an Herzog Heinrich den Löwen von der Herzogfamilie der Welfen ab. Dieser ließ die Stadt ausbauen, aber die Welfen wagten es, sich mit der regierenden Dynastie der Staufer anzulegen. Heinrich der Löwe verlor Bayern in einem Kampf mit Friedrich Barbarossa. Barbarossas Enkelsohn Friedrich II., verlieh dann Lübeck im Jahr 1226 mitten in Welf-Sachsen den Status einer freien Reichsstadt. Die Welfen mussten auf die geplanten Erträge aus der reichen Stadt verzichten, heute würde man es eine schlechte Investition nennen.

Die Lübecker waren ungewöhnlich unternehmungslustig. Es war nicht nur Marzipan und Wein, an denen sich die lokalen Kaufleute und die Stadtkasse eine goldene Nase verdienten. In Lübeck wurde ein neuer Typ von Handelsschiff, die sogenannte Kogge, erfunden, die bis zu 300 Tonnen Fracht aufnehmen konnte. Lübeck galt als “Königin der Hanse”, hatte Handelsniederlassungen von London bis Novgorod und war 1370 nach Köln die zweitgrößte deutsche Stadt. Damals entstanden wunderschöne Gebäude, auf die die Stadt noch heute stolz ist. Lübeck wagte sogar einen Krieg mit seinem unmittelbaren mächtigen Nachbarn – dem Königreich Dänemark, das ihm in der Nordsee Konkurrenz machte. Es ging um die Kontrolle der strategisch wichtigen Meerengen zwischen der Ostsee und der Nordsee, Skagerrak und Kattegat, die für den Lübecker Handel lebenswichtig waren. (Dänemark kontrollierte zu dieser Zeit auch das Gebiet um Lund und Malmö auf der Skandinavischen Halbinsel.) Im Krieg von 1534-1536 gelang es der von Lübeck geführten Koalition sogar, Kopenhagen zu erobern. Aber gerade mit diesem Krieg gegen den mächtigen Nachbarn überspannten die Bürgen von Lübeck ihre Kräfte, was den Niedergang der Stadt zur Folge hatte. Seine Truppen mussten sich 1536 in Kopenhagen ergeben und seine Flotte erlitt eine vernichtende Niederlage auf See. Die Machtposition der Stadt im Norden war damit dahin. Gerade aus der Zeit der Belagerung der Stadt durch dänische Truppen stammt der größte Münzschatz, der jemals in Deutschland gefunden wurde. Beim Ausheben von Fundamenten für eine neue Hochschule für Musik entdeckte ein Baggerfahrer einen Schatz von 395 Gold- und 23.228 Silbermünzen, den jemand aus Angst vor der dänischen Plünderung vergraben und nicht wieder ausgegraben hatte – obwohl die Dänen die Stadt schließlich nicht eroberten. Wir konnten diesen Schatz bei unserem Besuch im Stadtmuseum bewundern. Der Abstieg des Reichtums und der Bedeutung Lübecks setzte sich fort, nach dem Zerfall der Hanse und dem Dreißigjährigen Krieg sank die Bedeutung der Stadt (obwohl sie aufgrund ihrer Befestigungen nie erobert wurde). Heute hat die Stadt etwa eine Viertelmillion Einwohner und gehört damit in Deutschland eher zu den kleineren regionalen Zentren.

Die Schicksalsstunde schlug in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942, an einem Palmsonntag, als 234 britische Bomber die Stadt angriffen. Das Ergebnis war verheerend. 300 Menschen starben, 1.468 Häuser wurden zerstört und die Glocke der Marienkirche stürzte vom Turm, und ihre Trümmer sind noch heute zu sehen.

Lübeck hatte jedoch Glück im Unglück. Der Schweizer Diplomat und Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Carl Jacob Burckhardt, erlebte die Beinahe-Zerstörung der Stadt und es gelang ihm, den Verbindungsoffizier der Alliierten, Eric Warburg, zu überzeugen, in Lübeck einen Umschlagplatz für das Material des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu errichten. Dies rettete die Stadt vor weiteren verheerenden Angriffen, denen andere deutschen Städte wie Hamburg, Bremen, Nürnberg oder Dresden zum Opfer fielen.

Der Angriff forderte auch vier Lübecker Märtyrer. Der lutherische Pastor Karl Friedrich Stellbrink hatte unmittelbar nach dem Angriff am Palmsonntag, als die Stadt noch brannte, eine Predigt gehalten, in der er rief: “Gott hat jetzt mit mächtiger Stimme gesprochen, um die Menschen zu lehren, wieder zu beten.” Die Gestapo interpretierte dies als Zustimmung zum Angriff. Der Pastor und drei katholische Geistliche, die sich ihm angeschlossen hatten, wurden verhaftet, durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. 2011 wurden sie von Papst Benedikt XVI. seliggesprochen. Ein Museum, das sich mit ihnen und dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten befasst, befindet sich in der evangelischen Lutherkirche, und eine Gedenktafel an der Seitenwand des Rathauses erinnert an sie.

Nach dem Krieg hatte Lübeck zwar Glück, in die britische Besatzungszone zu kommen, aber es wurde zu einer Grenzstadt – die Grenze zwischen der russischen und der britischen Zone und später zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik verlief auf dem Fluss Trave. Dies trug nicht gerade zur Attraktivität der Stadt bei, zusätzlich kamen 90.000 Flüchtlinge aus dem östlichen Europa hierher. Der Eiserne Vorhang fiel also direkt vor den Toren der Stadt. Zum Glück für Lübeck jedoch nicht hinter seinen Toren. Dank dieser Tatsache konnte die teilzerstörte Stadt wiederhergestellt werden, obwohl die Rekonstruktionsarbeiten bis in die 1980er Jahre dauerten. Heute ragen wieder schlanke grüne Kirchtürme in den Himmel und die Stadt erstrahlt in ihrer früheren Pracht.

Das Wahrzeichen der Stadt und des gesamten Bundeslandes Schleswig-Holstein ist jedoch das Holstentor. Es ist das Stadttor auf einer Insel zwischen dem Stadtgraben und der Trave. Ihr Bild zierte bis 1990 die Rückseite des 50-Mark-Scheins und heute ist es auf der Gedenkmünze von 2006 zu sehen – es war die erste Münze mit Motiven der einzelnen Bundesländer. Dieses Tor mit zwei spitzen Türmen, die ein wenig schief stehen, weil der Untergrund sumpfig ist, stammt aus dem Jahr 1478. Am Tor befindet sich das Holstentormuseum mit einer Ausstellung über die Hanse, dort können Waren besichtigt werden, die Wohlstand in die Stadt brachten. In der Nähe kann man dann die ehemaligen neu rekonstruierten Salzspeicher sehen. Das Geschäft mit Salz war im Mittelalter sehr attraktiv.

Wenn man nicht nur das Holstentor, sondern auch die gesamte Stadt von oben sehen möchte, muss man auf den Turm der St.-Petri-Kirche steigen. Wenn man sich damit abfindet, dass die Fenster vergittert sind. Der Innenraum der Kirche ist leer, es gibt hier nur ein schwarz-weißes Kreuz, da die Kirche bei dem Bombenangriff zerstört und erst 1987 wieder aufgebaut wurde.

Ein Blick vom Turm St Petri

Ein paar Schritte entfernt befindet sich der Hauptplatz “Markt” mit dem prächtigen Gebäude des Rathauses. Das erste Rathaus durften die Bürger bereits im Jahr 1230 errichten, das heutige Gebäude stammt jedoch aus dem Jahr 1435. Nicht aber das ganze Gebäude, nur der weiß leuchtende Teil mit den Wappen der Hansestädte und der Lübecker Patriziern. Im rechten Winkel dazu befindet sich das sogenannte “Neue Gemach”. An seiner Fassade wechseln sich kaiserliche Adler mit dem Wappen von Lübeck ab – horizontal gespaltener Wappen in Rot und Silber.

Wir haben das Rathaus natürlich besucht, beim Verkauf der Tickets erlebte ich allerdings einen Schock, von dem ich mich bis heute nicht ganz erholt habe. Die Dame an der Kasse fragte, ob wir Tickets für Erwachsene wollten. Sie bemerkte meinen verwirrten Blick und fragte, ob ich vielleicht eine Rentnerermäßigung hätte. Ich füge hinzu, dass ich damals 48 Jahre alt war. Ich kaufte mir ein Ticket zum vollen Preis, der Stolz siegte über die Gier.

Im Rathaus kann der Audienzsaal besichtigt werden, in dem Thomas Mann und Willy Brand die Ehrenbürgerschaft der Stadt erhielten, der Sitzungssaal des Stadtparlaments und der Gerichtssaal. Interessant sind die Türen zum Gerichtssaal, genauer gesagt aus ihm heraus. Sie haben unterschiedliche Höhen. Wenn jemand schuldig befunden und verurteilt wurde, musste er durch die kleine Tür gehen, in denen er sich bücken musste. Wer von Schuld freigesprochen wurde, konnte durch die große Tür mit erhobenem Haupt gehen. Oder, wie es die Einheimischen gleich witzig beschrieben haben: “Kleine Sünder durch die kleine Tür, große Sünder durch die große Tür.” Offensichtlich hat sich an dieser Regel bis heute nichts geändert.

Vor dem Rathaus steht auf dem freien Platz am Markt der sogenannte “Kaak”, ein offenes niedriges Gebäude mit einem Kupferdach. Im Erdgeschoss gab es einen Markt und oben in einem offenen Turm wurden verurteilte Verbrecher ausgestellt, es war also eine Art Pranger – ziemlich menschlich im Gegensatz zu anderen Prangern befand sich der Verurteilte außerhalb der Reichweite einer boshaften Menge.

Orthodoxie III

Im Jahr 1071 verloren die Byzantiner die Schlacht bei Manzikert gegen die Seldschuken-Türken, was den unaufhaltsamen Niedergang ihres Reiches einleitete. Kaum eine andere Schlacht hatte solche weitreichenden Folgen. Die Schutzmauer der europäischen griechisch-römischer Kultur und damit auch Christentums ist damit gefallen. Die Byzantiner mussten ganz Anatolien räumen und konnten es nie wieder zurückerobern. Das Reich beschränkte sich auf die Küstengebiete und die Ägäis Inseln. Die Expansion der Türken führte zu Kreuzzügen, von denen der vierte im Jahr 1204 sich gegen die Griechen wandte. Die Kreuzfahrer eroberten Konstantinopel und gründeten dort das Lateinische Kaiserreich.

Eroberung Konstantinopels durch den vierten Kreuzzug 1204

Wahrscheinlich inspiriert von diesem Triumph ließ Papst Innozenz III. im Jahr 1215 auf dem Vierten Laterankonzil das “filioque” als kirchliches Dogma in das offizielle Glaubensbekenntnis aufnehmen. Er hatte wohl das Gefühl, endgültig über die Orthodoxie gesiegt zu haben, die sich in das sogenannte „Reich von Nicäa“ zurückziehen musste. Die Katholiken beherrschten beide Hauptstädte des ehemaligen römischen Reiches und wollten bestimmen, was richtig war.

Die Griechen gaben jedoch nicht auf. Im Jahr 1261 eroberten sie Konstantinopel zurück, und es folgten weitere zweihundert Jahre eines allmählichen Verfalls des Byzantinischen Reiches, bis es im Jahr 1453 endgültig unterging. Der Eroberer von Konstantinopel von 1261, der Kaiser Michael Palaiologos, versuchte, eine Kirchenunion mit dem Westen zu schaffen, und diese Union entstand tatsächlich im Jahr 1274 in Lyon. In Byzanz stieß sie jedoch auf allgemeinen heftigen Widerstand, und der Kaiser, obwohl er sich durch die Rückeroberung der Hauptstadt und die Gründung einer neuen Dynastie einen Namen gemacht hatte, starb im Exil. Der Glaube und die damit verbundenen Emotionen besiegten die Vernunft, die von einem weisen Herrscher in die Ost-West Beziehungen eingeführt werden sollte.

Die Bedrohung durch die Türken wurde jedoch auch im Westen sehr wohl wahrgenommen, insbesondere vom ungarischen König und deutschen Kaiser Sigismund, der an seiner südlichen Grenze ununterbrochen mit dieser Bedrohung konfrontiert wurde. Der Plan für einen großen Kreuzzug scheiterte genau an den Uneinigkeiten der Kirche. Die militärischen Expeditionen der Jahre 1395 (Nikopol) und 1444 (Varna) endeten jeweils in Katastrophen.

Die byzantinischen Kaiser waren sich vollkommen bewusst, dass sie ohne Hilfe des Westens der türkischen Expansion nicht standhalten konnten und suchten dort Hilfe. Aber die Päpste waren unnachgiebig. Sie waren nur bereit zu helfen, wenn die Griechen in den Schoß der allgemeinen Kirche zurückkehren, also wenn sie sich mit den Veränderungen in den Ritualen und im Glaubensbekenntnis versöhnen würden. Zu diesem Zweck wurde vom Papst Eugen ein Konzil nach Ferrara einberufen, das im Jahr 1438 begann. Symptomatisch für die Asymmetrie der beiden Kirchen war die Tatsache, dass die katholische Delegation Papst Eugen IV. selbst anführte (der diese Gelegenheit nutzte oder missbrauchte, um das Konzil von Basel zu boykottieren, das seit 1431 tagte und an dem eigentlich der Papst teilnehmen müsste), während die griechische Delegation vom Kaiser Johannes VIII. Palaiologos geleitet wurde. Der Patriarch Josef II., der mit ihm kam, durfte zwar diskutieren, alle Schlussfolgerungen mussten aber vom Kaiser abgesegnet werden. Daran hat sich in Osten seit tausend Jahren nichts geändert. Nach langen Verhandlungen und der Verlegung des Konzils von Ferrara nach Florenz wurde am 6. Juli 1439 in der Kathedrale von Florenz feierlich die Kirchenunion verkündet. 31 Bischöfe, darunter auch der Patriarch von Konstantinopel Josef II., unterzeichneten das Dokument für die griechische Seite. Der Patriarch starb allerdings bald darauf und wurde in der florentinischen Kirche Santa Maria Novella begraben.

In Konstantinopel stieß aber dieser Vertrag wieder einmal auf einen unüberwindbaren Widerstand. Der Hass auf den Westen war enorm. Er war nicht nur die Folge der Erinnerungen an die demütigende Eroberung der Hauptstadt durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204. Es war der Hass eines Machtlosen, der sich nicht wehren konnte und nichts anderes als Hass übrig hatte. Das Motto der orthodoxen Christen wurde “Lieber den türkischen Turban als den Kardinalshut”. Die mit dem Kaiser loyalen Bischöfe, wie Metrophanes II. (1440-1443), Gregor III. Mammas (1443-1450) oder Athanasios II. (1450-1453), konnten das Volk für die Rettung der “ewigen Stadt” nicht gewinnen. Für einfache Griechen war die Vorstellung von Heterodoxie, also Ketzerei, so schrecklich, dass sie sich lieber entschieden, allein gegen die Türken zu kämpfen. 21 von 31 Bischöfen, die das Unionsdokument in Florenz unterzeichnet hatten, zogen ihre Unterschriften unter Druck des Volkes zurück. Der Hauptakteur des Widerstandes gegen die Union war der Mönch Gennadios Scholarios, der dann durch die Gnade von Sultan Mehmed der erste Patriarch von Konstantinopel wurde, nachdem die Türken die Stadt 1453 erobert hatten. Gennadios Scholarios war der beste Philosoph seiner Zeit. Er nahm am Konzil von Florenz als persönlicher Sekretär des Kaisers teil und unterzeichnete sogar das Unionsdokument. Danach wechselte er jedoch die Seiten. Er zog seine Unterschrift zurück und zog sich nach der Verkündung der Union in der Hagia Sophia am 12. Oktober 1452 (es dauerte so lange, bis der letzte byzantinische Kaiser Konstantin Palailogos sich dazu entschloss), aus Protest in ein Kloster zurück. Von dort aus wirkte er weiter als symbolische Person, die den unerschütterlichen wahren Glauben verkörperte. Unter türkischer Herrschaft verlor der Patriarch von Konstantinopel seine Bedeutung, da es keinen Kaiser mehr gab. Die Orthodoxie suchte nach einer neuen Führung, die dem muslimischen Herrscher nicht untergeben war. Noch im Jahr 1448 (also unmittelbar vor dem Fall von Konstantinopel) erhielt die orthodoxe Kirche des fernen Moskauer Fürstentums eine Autonomie. Die orthodoxe Kirche war nie so strikt hierarchisch organisiert wie die katholische. Die einzelnen Völker, die sich zum orthodoxen Glauben bekannten, erhielten in der Regel das Recht, ihre Angelegenheiten in ihrer eigenen Kirchenprovinz unabhängig zu regeln. Das ist auch heute noch der Fall. Praktisch jede Nation, die sich zum orthodoxen Glauben bekennt, hat ihren Patriarchen – seit dem 15. Dezember 2018 auch die Ukraine. Dazu kommen wir später noch zurück. Im Jahr 1448 wurde der erste Moskauer Metropolit, Bischof Jona, ernannt. Zu dieser Zeit erkannten die Moskauer Metropoliten jedoch noch die Überlegenheit des Konstantinopler Patriarchen an. Im Jahr 1547 ließ sich Ivan der Schreckliche zum “Zaren von ganz Russland” krönen und übertrug damit offiziell die Kaiserkrone des Byzantinischen Reiches nach Moskau. („Zar“ ist der russische Ausdruck für Kaiser). Ivan hatte jedoch kein Interesse an der gleichzeitigen Übertragung des Patriarchats. Der Patriarch in entferntem Konstantinopel war ihm lieber, als wenn er neben ihm im Kreml sitzen und ihm Leviten lesen würde (was er bei Ivan wahrscheinlich nicht lange getan hätte).

Die Gründung des Moskauer Patriarchats geht auf einen anderen russischen Politiker, nämlich auf Boris Godunov, zurück.

Boris Godunov

Boris Godunov war für seine Zeit ein genialer Stratege und hatte in Russland praktisch keine Konkurrenz. Er regierte als Vormund des geistig behinderten Sohnes Ivans dem Schrecklichen, Fjodor I. Er erkannte, dass Moskau, um zum Oberhaupt der orthodoxen Kirche zu werden, benötigte, Russlands Ansprüche auf die Stellung als Erbe und Nachfolger des Byzantinischen Reiches zu legitimieren. Die kaiserliche Krone ohne eine Untermauerung durch den Glauben (also die Kirche) war nicht genug. Er begann sofort nach Ivans Tod im Jahr 1584 mit den Vorbereitungen für diesen Schritt. Im Jahr 1589 wurde das Moskauer Patriarchat ausgerufen und ein Jahr später genehmigte die Synode in Konstantinopel seine Gründung – was konnte sie schon tun? Jove wurde der erste Patriarch und belohnte Boris Godunov damit, dass er nach dem Tod von Fjodor I. im Jahr 1598 einen entscheidenden Anteil an seiner Wahl zum Zaren hatte. Die kaiserliche Krone brachte Boris kein Glück. Bis zu seinem Tod im Jahr 1605 kämpfte er gegen die Rebellion der Bojaren, gegen eine polnische Intervention, Missernten und Hunger. Das alles wurde von fanatischen Mönchen als göttliche Strafe interpretiert (angeblich für den Mord an Ivans dem Schrecklichen jüngstem Sohn Dimitrij, der jedoch Boris niemals nachgewiesen werden konnte). Boris Godunov ist wohl eine der meistverarbeiteten Figuren in der russischen Literatur (Puschkin und Alexej Tolstoi schrieben Dramen über ihn, Modest Mussorgskij eine Oper und Sergej Bondartschuk drehte über den unglücklichen Zaren einen Film). Das Schicksal von Boris Godunov ist das Schicksal eines Menschen, der in Russland etwas voranbringen wollte und am russischen Mystizismus, Fatalismus und der Passivität scheiterte. Nur Peter der Große konnte Russland reformieren, allerdings nur weil er brutaler als alle seine Gegner war und bei Bedarf sogar persönlich Rebellen die Köpfe abschlug.

Es funktionierte in diesem Land auf eine gute Weise nie etwas, oder etwa doch, Herr Gorbatschow?

Moskau übernahm zwar die Machtansprüche von Konstantinopel, wenn es um die Führungsposition in der orthodoxen Kirche ging, vermisste jedoch vollständig die feine und hochentwickelte griechische Philosophie. Dazu hatte das russische Reich einfach keine Kapazitäten. Es konnte sie auch nicht haben. Kenntnisse des Griechischen waren rudimentär und die russische Sprache wurde sogar von den Russen selbst bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als literarisch unbrauchbar angesehen. Die bessere Gesellschaft unterhielt sich auf Französisch und die schlechtere konnte weder lesen noch schreiben. Erst Puschkin und Gogol (übrigens ein gebürtiger Ukrainer) machten aus dem Russischen eine Salonsprache. Anstatt Philosophen wie Photios, Gennadios Scholarios oder Gregorios von Nazianz sollte also die Entwicklung der orthodoxen Kirche in Russland von Propheten, Narren und Rasputins bestimmt werden. Es war ein Rückzug ins dunkle Mittelalter (eigentlich ist sogar diese Formulierung ungenau, jeder von den Patriarchen im Konstantinopel sogar im vierten Jahrhundert war bei weitem mehr gebildet als russische Patriarchen, sogar die derzeitigen) und diesen Weg hat die russische Orthodoxie bis heute nicht verlassen. Die Patriarchen spielten eine sehr wichtige Rolle im Leben Russlands und konservierten mittelalterliche Bräuche. Moskau war das Zentrum ihrer Arbeit – und der Rückwärtsgewandtheit. Das ging dem reformorientierten Kaiser Peter dem Großen (der auch aus diesem Grund eine neue Hauptstadt weit entfernt von Moskau gründete) ungemein auf die Nerven.

Peter der Große

Im Jahr 1721 entzog er dem Patriarchat seine Rechte und unterstellte die Kirche dem Staat – also sich selbst. Die “Heilige Synode” unter staatlicher Aufsicht entschied über organisatorische Angelegenheiten im Patriarchat und seit 1742 war der Vorsitzende der “Heiligen Synode”. anstelle des Patriarchen der Oberste Staatsanwalt.       

Interessanterweise wurde das Patriarchat nach der Oktoberrevolution 1918, also nach der Machtergreifung der Bolschewiki, wieder eingeführt. Die Kommunisten gingen zwar im Allgemeinen unerbittlich gegen Religion vor (Religion war für sie das „Opium des Volkes“), aber Stalin erkannte die Möglichkeiten, die ihm die Frömmigkeit des russischen Volkes bot. Er verwandelte das Patriarchat mit seinen Strukturen und Anhängern in eine Filiale des KGB. Im Grunde musste jeder Priester mit dem KGB zusammenarbeiten, viele von ihnen hatten in dieser Organisation sogar bedeutende Positionen. Wie auch der gegenwärtige Patriarch Kyril oder sein Vorgänger Alexios (1990-2009). Stalin förderte die orthodoxe Kirche auch auf “befreiten” europäischen Gebieten. Im östlichen Teil der Slowakei wurden orthodoxe Priester mit verschiedenen Vorteilen gelockt, insbesondere Mitglieder der griechisch-katholischen Kirche, und viele von ihnen verfielen den Verführungen. Die KGB war erfreut.

 Die Russen fanden nach 1990 sehr schnell den Weg zurück zum orthodoxen Glauben. Zum Beispiel wurde die Alexander-Newski-Kirche in Tallinn, die von der estnischen Regierung ursprünglich abgerissen werden sollte, sehr schnell zum Treffpunkt für die in Estland lebende Russen. Die Russen kehrten willig in den Schoß ihrer Kirche zurück. Die Kommunisten trennten die Bevölkerung gewaltsam von der Religion, aber der wirkliche Atheismus, der in Europa auf der Grundlage der Aufklärung entstand, fand nie einen Weg nach Russland. Die Russen verstanden den Verzicht auf die Orthodoxie im Grunde genommen als eine Abtrennung von ihren kulturellen Wurzeln. Die Aufklärung hat Russland nie wirklich berührt. Selbst Katharina II. die Große, eine begeisterte Anhängerin der Ideale von Jean-Jacques Rousseau, gab schnell ihre Bemühungen auf, diese Ideale in Russland zu verbreiten, als sie erkannte, mit welchem Widerstand sie konfrontiert wäre und dass es sie höchstwahrscheinlich sowohl die Krone, als auch den Kopf kosten würde. Als eine gebürtige Deutsche und eine Protestantin, also eine Heterodoxe, musste sie täglich beweisen, dass sie es mit der Konversion zum orthodoxen Glauben ernst meinte und dass sie sich mit diesem Glauben identifizieren konnte.

Katharina die Große

Aber ohne den Einfluss der Aufklärung fehlt den Menschen der Vernunft. Es bleibt lediglich ein blinder Glaube – an Gott, an den Zaren und an den Patriarchen. Ihre Befehle müssen blind befolgt werden, kritisches Denken ist nicht erwünscht. Was kann sich ein Monarch – Diktator – mehr wünschen? Vor allem, wenn der Leiter der Kirche – der Patriarch – daran gewöhnt und bereit ist, dem Zaren zu dienen.

Die orthodoxe Kirche ist einer der Pfeiler des aktuellen totalitären russischen Systems geworden. Ihre Ablehnung von allem Westlichen ist symptomatisch für die Reinheit des Glaubens! Sie ist nicht einmal bereit, den Kalender zu reformieren, weil der katholische Papst Gregor es angeordnet hat und sie hält weiterhin am julianischen Kalender fest. Aus Prinzip! Auch wenn sie bereits um 14 Tage zurückliegt. Sie wäre bereit, Weihnachten im Sommer zu feiern, nur um ihre Ablehnung des Papsttums zum Ausdruck zu bringen. Nichts davon hat sich geändert, nicht einmal als die Bolschewiki aus praktischen Gründen den gregorianischen Kalender übernommen haben. Die russische Orthodoxie kennt keine praktischen Gründe, sondern nur ideologische. Und die Hauptideologie ist der Hass auf den Westen. Kirchen (auch die katholische Kirche) haben sich nie für Demokratie begeistern können, ihre Strukturen sind totalitär und sie kommen daher besser mit totalitären Regimen zurecht (es war schließlich die katholische Kirche, die als erste den faschistischen Mussolini-Regime im Austausch für den Lateranvertrag anerkannt hat). Putin verbindet mit Kyrill außerdem eine gemeinsame Vergangenheit im KGB und beide sprechen fließend Deutsch (Kyrill liebt Aufenthalte in der Schweiz, wo er sein luxuriöses Anwesen hat). Welche Rolle Putins Beichtvater Tichon, den ihm Kyrill zugewiesen hat, bei derzeitigem Verhalten seines Präsidenten spielt, können wir nur vermuten. Es scheint, dass diese graue Eminenz einen erheblichen Anteil an der Entfachung des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine hatte. Vielleicht hat er Putin einen Platz im Himmel und Vergebung all seiner Sünden versprochen. Und Putin muss sich im Klaren sein, dass er nicht gerade wenige dieser Sünden begangen hat, die er beim jüngsten Gericht zu verantworten haben wird. Aber warum würde Tichon das tun? Also der russische Patriarchat hat die Ausrufung der ukrainischen autokephalen Kirche im Jahr 2018 nie verdaut. Die Ukrainer hatten beim Patriarchen in Konstantinopel (wie die Griechen und orthodoxen Gläubigen Istanbul immer noch nennen) um Autokephalie angesucht und die Konstantinopler Synode hatte ihren Antrag trotz heftiger Proteste aus Moskau positiv beurteilt. Kyrill hat also ein Drittel seiner Gläubigen verloren. Dennoch haben viele orthodoxe Gläubige in der Ukraine weiterhin die Moskauer Priorität akzeptiert (obwohl sich die Priester dieser Kirche weigerten, die in den Kämpfen in Donbas gefallenen ukrainischen Soldaten zu beerdigen) – allerdings nur bis zum 24. Februar 2022. Ab diesem Tag möchte niemand mehr in der Ukraine etwas mit Kyrill zu tun haben. Aussagen wie die, die ich am Anfang meines ersten Artikels zitiert habe, nämlich: “Der russische Soldat ist heute ein Krieger des Lichts, der für die Rettung des wahren Glaubens und Russlands kämpft, er ist buchstäblich ein Kämpfer der himmlischen Armee, hinter der sich Engel unter der Führung des Erzengels Michael befinden”, heben selten die Moral der kämpfenden Truppen an, entschuldigen aber dafür im Voraus alle Verbrechen, die diese “heilige” Armee begehen wird. Ein Verbrecher kann sich nichts mehr als eine absolute Amnestie für alle seine Verbrechen wünschen, die er begehen will. Mit umso größerer Freude begeht er sie dann. Wie die Kreuzfahrer im Jahr 1099 in Jerusalem und die Russen 2022 in Butscha und anderen ukrainischen Städten.

Die orthodoxe Kirche, die Waffen segnet (ihre Priester haben sogar eine Rakete namens “Satan” geweiht, als Beweis für den gegenwärtigen russischen Wahnsinn), wird für die Ewigkeit mit Blut beschmiert werden. Der Glaube der einfachen Russen an die Unfehlbarkeit des Zaren und Patriarchen sowie an die Erlösung durch genaue Erfüllung ihrer Befehle wird sich jedoch wahrscheinlich nicht ändern. Dass der Kriegstreiber Kyrill von der Europäischen Union auf die Liste der sanktionierten Personen gesetzt wurde, war mehr als logisch. Umso erstaunlicher war es, dass Viktor Orban seine Streichung von dieser Liste erpresst hatte, als er mit einem Boykott des Sanktionspakets, dass gegen den russischen Ölimport gerichtet war, drohte. Die Tatsache, dass Calvinisten (also Ungarn) gleich wie orthodoxe Gläubige gesäuertes Brot bei der Messe essen, spielte in seinem Handeln sicherlich keine Rolle. Es ging wahrscheinlich auch nicht um den Aufbau von Orbáns eigenem Ego. Die Anweisung, dass Orbán die Sanktionierung des Oberhaupts der russischen Kirche blockieren sollte, kam zweifellos aus Moskau, wahrscheinlich von Putin selbst. Vielleicht hatte ihm sein Beichtvater Tikhon mitgeteilt, dass die Voraussetzung für seine eigene Erlösung darin besteht, dass Kyrill den Sommer 2022, wie gewohnt, in seiner Residenz in den Schweizer Bergen (umgeben von der ketzerischen Bevölkerung, was ihn erstaunlicherweise nicht stört) verbringen konnte. Umso überraschender war es, dass sich Orbán für ihn so heftig eingesetzt hat und nicht einmal vor der Gefahr seiner eigenen Blamage zurückschreckte. Das wirft die Frage auf, was Putin gegen Onkel Viktor hat und womit er ihn erpressen kann. Worum ging es bei Orbáns Treffen mit Putin in Moskau im Februar 2022 unmittelbar vor dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine?

Alte Freundschaft rostet nicht

Hat Putin Orbán damals die Transkarpaten-Ukraine versprochen? War es so etwas wie der Molotow-Ribbentrop-Pakt und jetzt sitzt Orbán in einer Falle, weil er entweder etwas unterschrieben hat oder sein Gespräch aufgezeichnet wurde? Es wäre denkbar. Vielleicht werden wir es eines Tages erfahren. Patriarch Kyrill kann jedoch dank Orbán seine Schäfchen weiterhin straffrei zum Krieg anstacheln. Und sie werden weiterhin blind gehorchen und morden mit der Erwartung einer Erlösung.

Ohne den Einfluss der Aufklärung ist es nicht möglich, Glauben mit Vernunft zu verbinden. Die Verwendung von Vernunft riecht in Russland nach Heterodoxie, das heißt Ketzerei. Im Westen wurde man im Mittelalter dafür verbrannt. Im Osten geschieht dies bis heute.

Orthodoxie II – das Schizma

Ein einziges Wort reichte aus, um den schwelenden zwischen dem westlichen und dem östlichen Patriarchat Konflikt auszulösen. Das Wort lautete “filioque” und fand seinen Weg in das Glaubensbekenntnis des Westens. Im Nicänischen Glaubensbekenntnis, das als offiziell galt, stand in lateinischer Form “qui ex Patre procedit”, was bedeutet, dass der Heilige Geist vom Vater ausgeht. Irgendwann um das Jahr 400 tauchte in Spanien erstmals die Formulierung “qui ex Patre Filioque procedit” auf, was bedeutet, dass der Heilige Geist vom Vater und gleichzeitig auch vom Sohn ausgeht. Dieses Glaubensbekenntnis empfahl die Synode von Toledo im Jahr 481. Solange sich so etwas am damaligen Ende der Welt im fernen Spanien ereignete, interessierte es niemanden, schon allein deshalb, weil die westgotischen Herrscher, die Spanien beherrschten, Arianer waren, die zur Heiligen Dreifaltigkeit ihre eigene, politisch motivierte Beziehung hatten. Nach dem Arianismus war die Kirche (der Sohn) und der Heilige Geist (die Gelehrsamkeit) dem Vater, also dem Herrscher, untergeordnet. Deshalb liebten die germanischen Herrscher diese Lehre so sehr.

Das Problem entstand erst, als die katholischen Franken begannen, dieses veränderte Glaubensbekenntnis zu verwenden, und der wahre Ärger entstand, als im Jahr 809 Kaiser Karl der Große dieses Glaubensbekenntnis auf den von ihm kontrollierten Gebieten zur Pflicht erklärte. Offenbar wollte er damit den oströmischen Kaiser Nikephoros I. in Konstantinopel provozieren, der bis zum Jahr 812 zögerte, Karls kaiserlichen Titel anzuerkennen und weiterhin darauf bestand, dass er der einzige “Caesar Romanorum” wäre. Papst Leo III., der Karl einst zum Kaiser gekrönt hatte, schwieg zu dieser fränkischen Provokation mit „filioque“ – was blieb ihm auch übrig? Er war vollkommen vom Kaiser abhängig. Er widersprach dem Kaiser nicht, ließ aber zumindest für Sicherheit das Glaubensbekenntnis ohne “filioque” in die Wand der Peterskirche meißeln.

Aber der Geist war bereits aus der Flasche entkommen und begann sein eigenes Leben zu führen.

Erstmalig führte dies zu einem diplomatischen Konflikt am Ende des 9. Jahrhunderts, als sich die Wege der östlichen und westlichen Kirche zum ersten Mal trennten. Es ging wiederum hauptsächlich um die Politik. In Byzanz übernahm der junge Kaiser Michael III. die Macht. Eigentlich herrschte anstatt ihm sein Onkel und Mentor Bardas (Michal interessierte sich vor allem für Trinkgelage und das Verführen der Ehefrauen von Hofbeamten, denen er dann Hirschgeweihe als ein Hinweis schickte, damit der Beamte wusste, dass seine Frau im kaiserlichen Bett lag – so entstand historisch gesehen – das Wort „der Gehörnte“ für betrogene Ehemänner). Bardas entmachtete Michaels Mutter Theodora und ließ ihren ersten Minister Theoktistos ermorden. Aber Patriarch Ignatios stellte sich ihm in den Weg. Er war nicht sehr klug, aber hart und unnachgiebig. Mit ihm zu verhandeln war unmöglich. Bardas ließ ihn also einfach vom Posten des Patriarchen absetzen (es half ihm, dass Ignatios sich beim Amtsantritt zum Patriarchen ernennen ließ, ohne zuvor von einer Bischofssynode gewählt worden zu sein, so dass sein Amt als illegal angesehen werden konnte). Bardas brauchte dringend einen neuen Patriarchen, und wenn möglich einen klugen, gebildeten und loyalen. Seine Wahl fiel auf den größten Gelehrten dieser Zeit, Fotios, genannt „Philosoph“ oder auch „Der Große“.

Er war der berühmteste Professor an der Universität von Konstantinopel. Er war auch ein Kollege, Freund und Mentor des slawischen Apostels Konstantin – Kyrill, er war es, der die Brüder von Saloniki, Kyrill und Methodius, nach Großmähren als Missionäre schickte. Das kleine Hindernis bei seiner Ernennung zum Patriarchen war die Tatsache, dass Fotios ein Laie war und keine Priesterweihe hatte. In Byzanz wurde dieses Problemchen auf ihre spezifische Weise gelöst. Fotios erhielt in vier Tagen alle vier notwendigen Weihen und übernahm das Amt. Aber dann kam Papst Nikolaus I. ins Spiel. Er wurde gerade im Jahr von Fotios’ Inauguration gewählt und wollte Stärke zeigen. Mit Verweis auf die Schnelligkeit von Fotios’ Weihe lehnte Nikolaus Fotios als Konstantinopler Patriarchen ab. Damit erhob er offiziell Anspruch nicht nur das Oberhaupt der Kirche, sondern auch ein Schiedsrichter zu sein, der das Recht hat, die Ernennung anderer Patriarchen zu bestätigen. Also ein Privileg, das traditionell nur dem Kaiser vorbehalten war. Aber Nikolaus fühlte sich bereits über Könige und Kaiser erhoben. Nikolaus erklärte Fotios im Jahr 863 für abgesetzt und installierte erneut Ignatios, was jedoch in Konstantinopel niemanden interessierte. Nach einem Austausch von verärgerten Briefen berief Fotios in Konstantinopel ein Konzil und lud alle Patriarchen außer den Römischen ein. Wenn Nikolaus auf dem politischen Gebiet kämpfte, antwortete Fotios, wie es in Griechenland üblich war, mit Gelehrsamkeit.

Das Konzil beschuldigte den Papst der Ketzerei, genau deshalb, weil er angeblich im Glaubensbekenntnis das Wort “Filioque” verwendet und beschuldigt ihm auch, diese ketzerische Lehre in der neuen Kirchenprovinz in Bulgarien zu verbreiten. Weil dieses Glaubensbekenntnis in Rom im Gegensatz zum Frankenreich nicht verwendet wurde, war dies nicht wahr, die Wahrheit interessierte aber niemanden. Das Konzil erklärte Nikolaus für einen Ketzer und schloss ihn aus der Kirche aus. Bevor den Papst von Wut der Schlag treffen konnte, kam es in Konstantinopel zu einem politischen Umsturz. Der Liebhaber (ursprünglich ein Stallknecht) des Kaisers Michael Bazileos ermordete Bardas und nach ihm auch den Kaiser und erklärte sich selbst zum „Caesar Romanorum“. Um den Papst zu besänftigen und seine sehr fragliche Legitimität bestätigt zu bekommen, rief er Fotios aus dem Amt ab und setzte Ignatius ein. Nikolaus starb im selben Jahr mit dem Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben.

Aber Bazileos’ Loyalität zu Rom war nicht von Dauer. Er hatte bereits seine Titelbestätigung erhalten und so ernannte er nach Ignatius’ Tod im Jahr 877 zum Erstaunen von Papst Johannes VIII. Fotios erneut zum Patriarchen. Was Bildung und diplomatische Fähigkeiten betraf, hatte er nämlich im ganzen Reich keinen besseren Mann. Fotios berief in den Jahren 879-880 ein Konzil nach Konstantinopel, das durch versöhnliche Formulierungen den zwölf Jahre alten Streit überwand. Der Papst benötigte dringend die byzantinische Flotte zum Schutz Roms vor den Arabern und entschied sich daher, die Sache nicht eskalieren zu lassen und vorläufig nicht mehr in die Souveränität des Konstantinopeler Patriarchats einzugreifen. Fotios ließ jedoch das Glaubensbekenntnis ohne das „Filioque“ bestätigen, und alle fünf Patriarchen sowie die Gesandten von Papst Johannes stimmten dieser Formulierung zu. Der Streit wurde auf der Oberfläche gelöst, es brodelte allerdings weiter in der Tiefe. Das erste Schisma, also die Spaltung der Kirche, wurde vorerst vermieden. Aber die Spannungen zwischen Ost und West wuchsen weiter. Es ging nicht nur um den Glauben, die entgegengesetzte Richtung des Kreuzens oder den Verzehr von gesäuertem (Osten) und ungesäuertem (Westen) Brot bei der Messe. In diesem Punkt bezog sich der westliche Teil der noch einheitlichen Kirche auf Jesus, der für seine Jungen bei dem letzten Abendmal gemäß der jüdischen Tradition, natürlich ungesäuertes Brot brach. Die Griechen jedoch beriefen sich auf die Tradition des heiligen Paulus (1.Kor 5.6), der die Verwendung von gesäuertem Brot einführte, mit der Begründung, dass “Christen wie Sauerteig sind, der den Teig der Gesellschaft durchsäuert wie das Brot und es besser und schmackhafter macht.”

Im Gebiet des römischen Reiches der deutschen Nation oder im westlichen römischen Reich wurde gemäß dem Befehl seines Gründers Karl weiterhin das Glaubensbekenntnis mit dem „Filioque“ verwendet, das im Jahr 1013 vom Papst Benedikt VIII. als einzig richtig anerkannt wurde. Ihm ging es im Wesentlichen nur darum, Hilfe von den Soldaten des Kaisers Heinrich II. zu bekommen, der später zum Heiligen erklärt wurde, obwohl er den Spitznamen “der Zänker” erhielt, also ein Streithahn oder Randalierer sein musste. (Seine Heiligkeit wurde ihm wahrscheinlich durch die Phimose der Vorhaut beschert, die ihm den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau Kunigunde, die ebenso heilig wurde,  unmöglich machte.) Der Kaiser kam tatsächlich im Jahr 1014 nach Italien und ließ sich vom Papst krönen. Der Papst sah damals die Hauptbedrohung durch die Byzantiner, die den Süden der Apenninenhalbinsel kontrollierten.

Das „Filioque“ wurde also erstmals auch in Rom in das Glaubensbekenntnis aufgenommen, aber solange darüber diskret geschwiegen wurde, lief alles weiter. Es durfte nur kein Dummkopf in die Führung einer der konfliktträchtigen Parteien gelangen. Wir wissen, dass ein initiativer Trottel gefährlicher als ein Klassenfeind (oder ein Parteifreund) ist. Aber in Konstantinopel passierte im Jahr 1043 gerade das. Zum Patriarchen wurde ein bestimmter Michael Kerullarios ernannt, ein eingeschränkter Bürokrat mit unzureichender theologischer Ausbildung und nur rudimentären Kenntnissen der Kirchengeschichte.

Überraschenderweise gelang es ihm trotz seiner etwas begrenzten Intelligenz (oder gerade wegen ihr), eine große Popularität beim byzantinischen Volk zu erlangen. In Süditalien entflammten die Konflikte erneut. Vor vierzig Jahren suchten die Päpste noch in den Normannen – Einwanderern aus dem europäischen Norden – Verbündete gegen Byzanz, jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Papst Leo IX., mit dem ursprünglichen Namen Bruno von Egisheim-Dagsburg in Elsass, also einer der wenigen Deutschen auf dem Papstthron, suchte gegen den normannischen Druck eine Allianz mit Byzanz.

Leo IX

Eine solche Allianz stand jedoch im Widerspruch zum dogmatischen Patriarchen. Er beschuldigte den Papst, dass er auf dem von den Normannen eroberten Gebiet lateinische Bräuche mit ungesäuertem Brot einführte und die dortigen Menschen zum Glaubensbekenntnis mit dem „Filioque“ zwang. Er befahl sofort allen lateinischen Klöstern im Gebiet des Byzantinischen Reiches, zum griechischen Ritus überzugehen, sonst würden sie geschlossen werden. Der Papst antwortete versöhnlich (er brauchte unbedingt militärische Hilfe von Byzanz) und argumentierte, dass im Westen in griechischen Klöstern griechische Riten toleriert werden.

Der Kaiser Konstantin IX. strebte nach Versöhnung und zwang schließlich den Patriarchen, einen versöhnlichen Brief an den Papst zu schreiben. Dieser tat es widerwillig, obwohl er sich kleine Provokationen nicht verkneifen konnte, wie zum Beispiel den Papst als “Bruder” anstatt “Vater” anzusprechen, wie es das Protokoll vorschrieb.

Die Normannen waren jedoch geschickte Kämpfer. Sie verhinderten das Zusammenkommen der päpstlichen und byzantinischen Streitkräfte und besiegten am 18. Juni 1053 das päpstliche Heer bei der Stadt Civitate. Der Papst geriet sogar für mehrere Monate in ihre Gefangenschaft. Der Papst befand sich dadurch in einer emotional schwierigen Situation. Noch voller Groll schrieb er zwei Briefe, einen an Kerullarios und einen an den Kaiser, und schickte drei Gesandte mit ihnen nach Konstantinopel. Bei der Wahl der Gesandten hatte er außerordentlich unglückliche Hand. Die Leitung wurde dem Papstsekretär Humbert von Moyenmoutier anvertraut, der befangen und für seinen Hass auf alles Griechische bekannt war. An seiner Seite standen Kardinal Friedrich von Lothringen und Erzbischof Peter von Amalfi, die beide bei Civitate kämpften und überzeugt waren, dass die Byzantiner sie absichtlich in der verlorenen Schlacht im Stich gelassen hatten.

Die Delegation kam im April 1054 in Konstantinopel an und es lief von Anfang an einfach nicht gut. Kerullarios verstand die Antwort des Papstes auf seinen versöhnlichen Brief als Beleidigung. Die Legaten, die sich in Diplomatie nicht auskannten und den höflichen Empfang beim Kaiser (wie es das griechische Protokoll vorschrieb), als kaiserliches Bündnis in ihrem Feldzug gegen den Patriarchen interpretierten. Sie veröffentlichten also einen Brief, den Papst Leo in größter Aufregung geschrieben hatte und den er dann nicht zu senden wagte (aber sein Sekretär hatte seinen Text dabei). Auf diesen Brief antwortete der Mönch Niketas Stethatos im Namen von Kerullarios so scharf, dass die Legaten jede Kontrolle übere ihre Emotionen verloren haben. Humberts Gebrüll, durchsetzt mit vulgären Schimpfwörtern, beraubte die päpstlichen Gesandten jeglicher Autorität. In den Straßen von Konstantinopel demonstrierten Menschenmengen gegen die Päpstlichen, der kranke Kaiser Konstantin verlor die Kontrolle über die Entwicklung. Kerullarios jedoch vergaß in diesem sensiblen Moment nicht, “filioque” als Beweis für römische Ketzerei ins Spiel zu bringen.

Zu dieser Zeit kam die Nachricht vom Tod von Papst Leo IX. Seine Legaten verloren dadurch jegliche Befugnis und sollten sofort nach Rom zurückkehren. Der wütende Humbert jedoch berücksichtigte das nicht. Am 16. Juli 1054 marschierten während einer Messe, die der Patriarch persönlich leitete, alle drei Legaten in die Hagia Sophia und legten auf dem Altar eine Exkommunikationsbulle nieder, mit der sie den Patriarchen von Konstantinopel aus der Kirche ausschlossen. Zwei Tage später verließen sie Konstantinopel.

Wenn der Patriarch ein Gelehrter wie Photios gewesen wäre, hätte er die Sache zu seinen Gunsten gedreht. Er hätte die Inkompetenz der Legaten und die Unsinnigkeit ihrer Exkommunikationsbulle nachgewiesen und sich wahrscheinlich mit einer entsprechenden Entschuldigung aus Rom ihre Aufhebung erzwungen. Unabhängig von der Tatsache, dass die Legaten nach dem Tod des Papstes, der sie nach Konstantinopel geschickt hatte, kein Mandat hatten, war das Dokument so schlecht geschrieben und mit so vielen sachlichen und rechtlichen Fehlern versehen, dass Historiker bis heute erstaunt sind, wie ein Mensch mit Humberts Bildung so ein schlechtes Pamphlet schreiben konnte. Wahrscheinlich hat ihm seine Wut den Verstand vernebelt. Ein fähiger Anwalt hätte alle dort genannten Argumente leicht widerlegen und das Dokument als unsinnig und irrelevant erklären können. Aber der Patriarch war eben Michael Kerullarios, der nicht allzu viel Verstand hatte. In der ganzen Stadt fanden Demonstrationen zu seinem Gunsten statt und in diesem Machtrausch tat er nichts Besseres, als den römischen Papst (der zu diesem Zeitpunkt bereits im Grab ruhte und mit der Exkommunikation des Patriarchen nichts zu tun hatte) zu exkommunizieren.

Im Sommer 1054 stießen in Konstantinopel also zwei Dummköpfe aufeinander und wie wir wissen, ist eine solche Kollision mit einem Dummkopf immer gefährlich. Der bereits fragile Bau der Universalkirche überlebte diese Kollision nicht und brach auseinander. Das Schisma, also die Spaltung zwischen der westlichen und der östlichen Kirche, entstand also aus menschlicher Dummheit, wie es bei historischen Ereignissen von entscheidender Bedeutung viel zu oft der Fall ist. Ironischerweise hatten weder Humbert noch Kerullarios eine Kirchenspaltung im Sinn und die Exkommunikation hatte für sie nur eine rein persönliche Bedeutung. Wenn nach Leo IX. und Kerullarios Menschen mit Weitblick in den Ämtern gewesen wären, hätten sie alles noch in Ordnung bringen können.

Es sollte aber anders kommen. Kaiser Konstantin IX., enttäuscht von menschlicher Dummheit und schwer krank, zog sich zurück und starb am 11. Januar 1055. Da er keinen legitimen Sohn hatte, herrschte in Byzanz nach seinem Tod ein Chaos. Auf dem römischen Papstthron folgte nach Viktor II., der seiner Aufgabe absolut nicht gewachsen war, im Jahr 1057 Stephan IX, niemand anders als Friedrich von Lothringen, also einer der Legaten, die für die Kirchenspaltung im Jahr 1054 verantwortlich waren.

Also hat niemand versucht, das Problem zu lösen, es wurden keine diplomatischen Schritte unternommen. Kaiser Konstantin Dukas hatte schließlich genug von Kerullaios’ Exzessen.  Er stürzte ihn im Jahr 1058 und verbannte ihn aus Konstantinopel, der Riss im Bau der Kirche konnte aber nicht mehr geheilt werden. Das „Filioque“ wurde auf Anregung von Papst Innozenz III. offiziell auf dem 4. Laterankonzil im Jahr 1215 in das Glaubensbekenntnis aufgenommen. Danach gab es kein Zurück mehr.

Die Exkommunikation von Kerrulaios wurde erst 1965 von Papst Paul VI. aufgehoben. Über das, was danach geschah und wie der Konflikt zwischen West und Ost von Griechenland nach Russland überging, wo er bis heute andauert, werden wir das nächste Mal in dem letzten Teil dieser Erzählung sprechen.

Orthodoxie I

“Ein russischer Soldat ist heute ein Krieger des Lichts, der für die Rettung des wahren Glaubens und Russlands kämpft. Er ist buchstäblich ein Krieger der himmlischen Armee, deren Streitkräfte von Engeln unter der Führung des Erzengels Michael stehen. “

Einen ähnlichen Text (ohne Erwähnung Russlands) hätte ich vom Papst Urban erwartet, als er im Jahr 1096 den ersten Kreuzzug ins Heilige Land verkündete. Aber dieser Aufruf ist fast tausend Jahre jünger, im März 2022 rief der Moskauer Patriarch Kirill I. auf diese Weise russische Soldaten in den Kampf und bezeichnete die Kräfte, die gegen diese himmlische Armee die Ukraine verteidigten, als “außerirdische höllische Kräfte, die gegen den wahren Glauben und russische Soldaten kämpfen”.

Wenn dies wie ein schlechter Witz scheint, handelt es sich um eine falsche Schätzung. Wenn man die Aussagen des obersten geistlichen Leiters der russischen Kirche als völligen Verrat an der Botschaft des Evangeliums bewerten, hat man allerdings Recht.

Um das Unverständliche zu verstehen, müssten wir uns die Geschichte ansehen. Ich möchte meine Leser sehr weit zurück bis zu den Ursprüngen der Kirche und ihrer Spaltung führen. Da es sich um eine lange Reise handelt, wird es darüber wahrscheinlich gleich eine Artikelserie geben, daher bitte ich um Ihre Geduld. Aber das Thema könnte so interessant und heutzutage auch hochaktuell sein, dass es die Leser hoffentlich nicht langweilen würde.

Zunächst muss erklärt werden, was das Wort Orthodoxie im russischen Verständnis bedeutet. Der Ausdruck stammt aus dem Griechischen und bedeutet “der wahre Glaube”. Das bedeutet, dass jeder, der anders glaubt, “Heterodoxie” begeht, was dasselbe wie Häresie oder Ketzerei ist. In diesem Sinne ist Papst Franziskus für orthodoxe Gläubige ein Ketzer, ganz zu schweigen von Protestanten.

Die christliche Kirche entstand im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung als ungleichartige Mischung von Gemeinden in den Städten des Römischen Reiches. An der Spitze der Gemeinden standen gewählte Bischöfe, die zunächst tatsächlich nur die Aufgabe hatten, die Heilige Schrift zu predigen und sich um die Mitglieder der Gemeinschaft zu kümmern. Aber schon im dritten Jahrhundert begannen sich Unterschiede zwischen Westen und Osten des Römischen Reiches zu zeigen. Während der Osten relativ stabil blieb und eine funktionierende Infrastruktur und Verwaltung hatte, zerfiel im Westen die Infrastruktur in Folge des Drucks der Germanen und Hunnen Ab dem vierten Jahrhundert wurden die Bischöfe gezwungen, auch organisatorische Aufgaben zu übernehmen und im Grunde genommen die Funktion der römischen Verwaltung zu ersetzen – das bekannteste Beispiel war der Mailänder Bischof Ambrosius.

Seit dem Jahr 313, als Kaiser Konstantin das Christentum mit der traditionellen römischen Religion gleichgestellt hat, konnten Christen aus der Illegalität herauskommen und ihre Rituale frei ausüben. Im Jahr 325 fand unter der Leitung eines heidnischen Kaisers (Konstatins I.) das erste Konzil von Nicäa statt, das unter anderem das Glaubensbekenntnis festlegte, das wir bis heute beten – mit einem kleinen Unterschied über den noch gesprochen werden wird. Die offizielle Kirche brauchte eine feste Struktur. Das Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 und das Konzil von Chalcedon im Jahr 451 bestimmten die Hauptverwaltungseinheiten der Kirche, und Kaiser Justinian legte diese Aufteilung in fünf Patriarchate in der Mitte des sechsten Jahrhunderts per Gesetz fest.

Es handelte sich um:

  • Das westliche Patriarchat, gegründet von den Aposteln Petrus und Paulus mit Sitz in Rom
  • Das Patriarchat von Konstantinopel, gegründet vom Apostel Andreas
  • Das Patriarchat von Alexandria, gegründet vom Evangelisten Markus
  • Das Patriarchat von Antiochien, gegründet vom heiligen Petrus
  • Das Patriarchat von Jerusalem, gegründet von allen Aposteln.

Entsprechend der Entscheidung des Kaisers sollte kein Patriarch einem anderen untergeordnet sein. Der römische Patriarch hatte nur das Recht, als erster auf der Liste zu stehen. Aber der römische Bischof hatte gleich eine Reihe von Vorteilen. Einerseits hatte er seinen Sitz in der traditionellen Hauptstadt des Reiches, andererseits konnte er sich auf direkte Nachfolge des heiligen Petrus berufen, der laut Tradition der erste römische Bischof war und von Christus persönlich mit der Leitung der Kirche beauftragt wurde. Zukünftige Päpste werden diese Karte sehr geschickt ausspielen und politisches Kapital daraus schlagen. Formal waren also alle diese Patriarchate gleich, aber in Wirklichkeit hatten die ersten beiden eine entscheidende Position. Nach der Teilung des Römischen Reiches in das Oströmische und das Weströmische Reich waren Patriarchen von Rom und Konstantinopel im Vorteil, weil sie den regierenden Kaisern nahestanden. Der Patriarch von Alexandria konnte ihnen noch in gewissem Maße Konkurrenz machen, da Alexandria ein Zentrum der Bildung war, sowohl der ehemaligen heidnischen als auch der späteren christlichen. Aber der Kaiser war der Kaiser und die Bischöfe waren seine Diener, einschließlich der höchsten Bischöfe, also der Patriarchen. Drei dieser fünf Patriarchate, Alexandria, Antiochia und Jerusalem, verloren in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts ihre Bedeutung, als diese Gebiete von Arabern erobert wurden und der Islam hier das Christentum ablöste. Es blieben lediglich zwei Machzentren, und das ist nie gut. Zu zweit können keine Koalitionen gebildet werden, es kann nur ein Kampf auf Leben und Tod geben – oder ein Zusammenleben in Frieden und Harmonie. Leider entspricht die menschliche Natur eher der ersten Variante.

Es blieben also Rom und Konstantinopel. Diese beiden Patriarchen lebten jedoch unter unterschiedlichen Bedingungen und hatten daher unterschiedliche Aufgaben. Im Osten blieb der Kaiser in Konstantinopel und der dortige Patriarch hatte die Rolle seines Hofkaplans. Der Kaiser schätzte vor allem Loyalität. Das Kirchenoberhaupt war zu dieser Zeit nur der Herrscher, also der Kaiser, der Patriarch war sein engster Diener, den der Kaiser nach Belieben absetzen konnte – wie es zum Beispiel dem Patriarchen Fotios dem Großen im neunten Jahrhundert gleich mehrmals passierte. Der Patriarch von Konstantinopel war also von der Gnade seines Herrschers abhängig.

 In Rom war es anders. Schon Kaiser Diokletian hatte 286 neben Rom Mailand als weiteren Regierungssitz festgelegt und die Kaiser zogen tatsächlich dorthin. 402 änderte Kaiser Honorius wieder einmal seine Hauptstadt und zog nach Ravenna, die im Gegensatz zu Rom oder Mailand als uneinnehmbar galt. Der Papst blieb jedoch weiterhin in Rom (durch einen Umzug außerhalb der Stadt, wo der heilige Petrus seine Mission gegründet hatte, hätte er seine Legitimität verloren) und musste sich daher zunehmend in der weltlichen Politik engagieren. Einfach gesagt, er musste die Hausaufgaben für den abwesenden Kaiser machen.

Historiker sind sich nicht einig, welchen der römischen Bischöfe man als ersten Papst, also weltlichen Herrscher, betrachten soll. Sie zögern zwischen Innozenz I. (401-417) und Leo I. dem Großen (440-461). Beide haben jedoch eine Gemeinsamkeit. Beide erlebten die Eroberung und Plünderung Roms (Innozenz im Jahr 410 durch den Einfall der Westgoten, Leo im Jahr 455 durch die Verwüstungen der Stadt durch die Vandalen) und mussten sich um das leidende Volk kümmern, während der Kaiser in Ravenna verschanzt war. Dies verlieh ihnen Legitimität als weltliche Herrscher der Stadt, aber auch Ansehen außerhalb der Stadtgrenzen. Als Leo I. im Jahr 451 seinen Hirtenbrief an das Konzil von Chalcedon schickte, erschien in der Resolution des Konzils der Satz: “Petrus sprach durch den Mund von Leo.” Dies wurde im Westen als Anerkennung der führenden Rolle des römischen Bischofs in der christlichen Kirche interpretiert.

Leo I der Große

Während die Päpste Schritt für Schritt ihre Machtposition aufbauten, versank der Osten in Glaubensstreitigkeiten. Dies war durch kulturelle Unterschiede vorherbestimmt. Während die Griechen lange Diskussionen liebten, in denen sie Rhetorik schärften, neue Ausdrücke für ihre Sprache erfanden und es mehr um ihre Verherrlichung als um das Ergebnis des Streits ging, hasste man im Westen lange Diskussionen. Sie hielten vom praktischen Leben ab und Latein war dafür übrigens nicht wirklich geeignet. Es war immer die Sprache der Beamten und nicht der Philosophen. Darüber hinaus verfiel die Kenntnis des Lateinischen nach dem Fall des Römischen Reiches. Das mittelalterliche Latein ähnelte Ciceros Sprache nur wenig und war viel primitiver. Philosophen wie Boethius waren in Italien eine absolute Ausnahme, während sie in Griechenland das kulturelle Bild bestimmten.

Im Wesentlichen stammten mit Ausnahme von Papst Gregor dem Großen (590-604) alle Kirchenlehrer aus dem Osten. Hier hatten sie in einer relativen Ruhe die Zeit, sich mit Glaubensfragen zu beschäftigen, während der Westen um das nackte Überleben kämpfte. In die Kirchengeschichte haben sich vor allem Gregor von Nazianz (329-389), Basilius der Große (330-379) und Johannes Chrysostomus (347-407) eingeschrieben, wobei letzterer nicht einmal von seiner Gelehrsamkeit oder Beredsamkeit politisch profitieren konnte. Er geriet in Ungnade des Kaisers und starb im Exil. Aber im Osten wirkten nicht nur Kirchenlehrer, sondern auch Verfechter von Strömungen, die in weiterer Folge für ketzerisch erklärt wurden. Die bekannteste von ihnen war wohl die Lehre von Arius von Alexandria (260-327). Der gebildete Philosoph bemühte sich, Glauben und Vernunft zu vereinen und den grundlegenden Widerspruch des christlichen Glaubens – die Dreieinigkeit Gottes – logisch zu erklären. Seine Lehre zog besonders die gebildeten Schichten an, aber erstaunlicherweise auch die Häuptlinge der germanischen Stämme. Zum einen wuchsen germanische Fürsten meist als Geiseln am kaiserlichen Hof in Konstantinopel auf, zum anderen wirkte unter den Germanen der Mönch Wulfila, der zu ihren Völkern das Christentum in der arianischen Form brachte. Und Arius’ Lehre festigte die Stellung des Herrschers, was für die Häuptlinge praktisch war. Aber dazu später mehr. Mit Ausnahme der Franken wurden alle Germanen Arianer. Für das einfache byzantinische Volk war Arius’ Lehre jedoch zu kompliziert. Zuerst geriet er mit dem alexandrinischen Patriarchen Alexander in Streit, dann auch mit dem Patriarchen von Konstantinopel, Athanasios (295-373). Arius’ Lehre wurde auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 verurteilt, er selbst überlebte seine Verurteilung nur um zwei Jahre.

Als Papst Leo I. der Große seine Anerkennung als erster unter den Bischöfen erlangte, befand sich der Osten in einem weiteren Konflikt. Es handelte sich um den von dem Mönch Eutyches verkündeten Monophysitismus. Diese Lehre leugnete die menschliche Natur von Jesus Christus und schrieb ihm nur eine, nämlich die göttliche Natur zu. Patriarch Flavianus bemühte sich vergeblich, diese Lehre zu unterdrücken, er tat sich schon deshalb schwer, weil die Lehre Kaiser Theodosius II. gefiel. Auf der Synode von Ephesus im Jahr 449 wurde der Patriarch sogar brutal verprügelt und seines Amtes enthoben. Erst das Konzil von Chalcedon im Jahr 451 brachte Ordnung und hier engagierte sich – auf der Seite des Patriarchen – auch der römische Bischof. Er übernahm also erstmals das Recht, über Glaubensfragen zu entscheiden, über die bisher immer nur Konzile unter dem Vorsitz des Kaisers entschieden hatten. Das Papsttum begann den Weg der Emanzipation, von der der Patriarch von Konstantinopel nur träumen konnte. (Auf der anderen Seite wurde seine Stadt nicht von den wilden Vandalen geplündert). Es gab jedoch zur Unabhängigkeit der Päpste noch einen langen Weg. Papst Johannes I. (523-526) sollte darüber belehrt werden. Der oströmische Kaiser Justinian verbot das Arianertum und befahl die Verfolgung der Anhänger dieser Lehre. Das gefiel dem ostgotischen König Theoderich, der selbst Arianer war, gar nicht. Er schickte Johannes nach Konstantinopel, um beim Kaiser die Aufhebung des Edikts zu erreichen. Johannes wurde in Konstantinopel als eigentlicher Kirchenführer begrüßt (er war der einzige römische Papst in der Geschichte, der nach Konstantinopel reiste). Er wagte es jedoch nicht, das Problem des Arianismus nur anzusprechen, und nach seiner Rückkehr nach Ravenna ließ ihn der wütende König Theoderich ins Gefängnis werfen, wo der Kopf des westlichen Christentums 526 starb.

Das achte Jahrhundert war für beide Teile der Kirche bestimmend. Im Osten ging es wieder um Glaubensfragen, im Westen um den Aufbau des päpstlichen Reiches. Kaiser Leo III. (717-741) erließ im Jahr 730 ein Edikt zur Zerstörung der Bilder von Jesus-, Maria- und Heiligen. Das Zeitalter des sogenannten Bildersturms begann. Leo ließ sich offensichtlich vom Islam inspirieren, mit dem er sonst permanent Kriege führte. Es ging ihm aber vor allem um die Schwächung der Macht von Klöstern, Kirche und damit auch des Patriarchen. Der Kaiser stützte sich auf den Text des Alten Testaments. Im zweiten Buch Mose, Exodus, heißt es: “Du sollst dir kein Bild von Gott machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich vor nichts Derartigem niederwerfen oder ihnen dienen.” Derselbe Text wird dann im fünften Buch Mose (Deuteronomium) wiederholt. Übrigens ließen sich die Muslime bei ihrem Verbot der Darstellung lebender Kreaturen genau von diesem Text inspirieren – der Koran ist nämlich zum großen Teil eine Neuinterpretation des Alten Testaments.

Verehrer von Heiligenbildern stützten sich auf den Text von Johannes von Damaskus, der schrieb: “Da Gott in Jesus Christus Fleisch geworden ist und eine konkrete menschliche Gestalt angenommen hat, ist seine körperliche Darstellung möglich. Heilige verkörpern auf eine bestimmte Weise den Heiligen Geist.” Der Kampf um die Anbetung von Heiligenbildern dauerte bis 843. In der ersten Phase vertraten Kaiser Leo III., sein Sohn Konstantin V. und sein Nachfolger Leo IV. eine harte Linie gegen die Bilder und damit auch gegen die Kirche. Aber Leo IV. starb zu früh, und seine Frau Irene, die die Anbetung von Bildern begünstigte, übernahm die Regentschaft für seinen kleinen Sohn Konstantin VI. Die zweite Phase begann mit Kaiser Leo V. (813-820) und setzte sich sowohl bei seinem Sohn Michael II. als auch bei seinem Nachfolger Theophilos fort. Aber die Geschichte wiederholte sich. Theophilos starb, als sein Sohn Michael drei Jahre alt war, die Kaiserin Theodora übernahm die Regentschaft. Sie rief 843 eine Kirchensynode in Konstantinopel ein und beendete endgültig die Zeiten des Bildersturms. Orthodoxe Gläubige lassen sich deshalb ihre Liebe zu Heiligenbildern nicht nehmen. Das Küssen von Heiligenbildern ist ein Teil des Kirchenbesuchs in Russland, Griechenland oder Serbien, obwohl dieser Brauch die Hygieniker ekelt. Wir sahen dasselbe in Griechenland auf dem Lykabettus in Athen wie in St. Petersburg. Dort stand zumindest vor dem Bild der von Bolschewiki ermordeten kaiserlichen Familie Nikolaus II., die zu heiligen Märtyrer erklärt wurde, eine Dame in Arbeitskleidung und mit einer Flasche Alkohol in der Hand und wusch nach jedem Kuss das Bild, damit ein nächster Interessent, die in einer langen Schlange warteten, es küssen konnte.

Die Anbetung von Bildern wurde zu einem integralen Bestandteil der orthodoxen Glaubenspraxis, gerade weil die Gläubigen sie in einem hundertjährigen blutigen Kampf erkämpft haben, der viele Märtyrer forderte. Zur gleichen Zeit hatte Papst Stephan II. in Rom völlig andere Sorgen. Rom litt unter ständigen Angriffen der Langobarden, die unter dem Vorwand einer besseren Religion (sie waren Arianer) seit Jahrhunderten immer wieder die katholischen Römer angriffen. Papst Stephan suchte Hilfe beim fränkischen  – katholischen – König „Pipin dem Kurzen“ und er fand sie. Als Dank dafür, dass ihn der Papst zum König krönte und damit die Herrschaft der Merowinger in dem Frankenreich beendete, fiel Pipin in Italien ein und zwang die Langobarden, dem Papst umfangreiche Gebiete des ehemaligen byzantinischen Exarchats von Ravenna zu überlassen. Dieses “Pipinische Schenkung” vom Jahr 756 machte den Papst endgültig zum weltlichen Herrscher. Dabei stützte sich dieses “Recht auf das Eigentum des heiligen Petrus” auf eine unverschämte Fälschung namens “Constitutum Constantini”, die Stephan offenbar genau zu diesem Anlass herstellen ließ. In diesem Dokument, das Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert als Fälschung entlarvte, handelte es sich um eine Schenkungsurkunde des Kaisers Konstantin des Großen, der den Nachfolgern des heiligen Petrus umfangreiche Gebiete in Zentralitalien schenken sollte. Während also die Christen im Osten darüber stritten, ob man sich vor den Bildern der Heiligen verbeugen und sie küssen sollte, baute der Papst im Westen eine vielversprechende Machtposition auf, die er dann weiter ausbauen konnte, als Leo III. am 25. Dezember 800 überraschenderweise Karl dem Großen, dem Sohn von Pipin, die Kaiserkrone auf den Kopf setzte und damit das Weströmische Reich wiederherstellte. Der neue Kaiser nahm – vielleicht ungewollt und unerwartet – seine Krone aus den Händen des Papstes entgegen, und die Päpste rechtfertigten damit in Zukunft ihr Alleinrecht, die Kaiser krönen zu dürfen und damit über ihre Berechtigung dieses Amt zu bekleiden zu entscheiden. Während also im Osten der Kaiser darüber entschied, wer Patriarch werden würde, war es im Westen der Patriarch, der darüber entscheiden wollte, wer das Recht hatte, Kaiser zu werden. Während die östliche Kirche sich auf die Verteidigung der Reinheit des Glaubens konzentrierte, baute das Oberhaupt der Kirche im Westen zielstrebig seine Machtposition aus.

Die Konfrontation dieser beiden Konzepte war unvermeidlich und würde bald eintreten. Aber darüber das nächste Mal.

Bremen II

Die legendäre Bötchergasse betritt man unter einem goldenen Relief des „Lichtbringers“.

Diese enge Gasse, wo einmal Fässer für den Transport des gesalzenen Fisches erzeugt wurden und nach der Verlegung des Hafens zu verfallen drohte, hat ein bestimmter Ludwig Roselius gerettet. Er kaufte ein Haus nach dem anderen, er ließ sie restaurieren und schmücken. Die größte Kuriosität, die Touristen hierher lockt, ist das Glockenspiel mit dreißig Meißener Porzelanglocken am Haus, das nach ihm seinen Namen trägt.

Es gibt hier aber auch zum Beispiel das „Haus der Sieben Faulen“. Diese sieben Brüder bewiesen, dass die Faulheit der Antrieb des Fortschritts der Menschheit ist, weil sie einen Brunnen bohrten, um nicht das Wasser durch Schlamm aus der Weser nach Hause zu tragen oder Bäume im Garten pflanzten, um nicht aus dem Wald das Holz schleppen zu müssen. Die Häuser in der Gasse sind alle schön, wie St. Petri Haus, das nach dem Patron der Fischer benannt wurde, das Paula Modersohn-Becker Museum, ein Meisterwerk des Expressionismus oder letztendlich das Roseliushaus, genannt nach dem Mäzen, in dem man auch seine Sammlungen besichtigen könnte.

               Entlang des Flusses gibt es eine schöne Promenade „Große Schlachte“, wo wir geräucherte Makrelen aßen und über eine Brücke die Insel Teerhof besuchen konnten.

Die Insel schaut bereits vom Ufer schön aus. Die Häuser auf der Insel wurden im zweiten Weltkrieg vollständig zerbombt, die Bremer bauten hier nach dem Krieg Häuser mit Luxuswohnungen in einem einheitlichen Stil der mittelalterlichen Schiffkontoren. Dann gingen wir in den romantischen Teil der Altstadt, genannt Schnoor. Der Name stammt aus dem Wort „Schnur“, weil sich die Häuser hintereinander, wie die Perlen auf einer Schnur, reihen. Es gibt hier viele Geschäfte, Souvenirs Shops, kleine Werkstätte und kleine Restaurants. Es gibt hier auch das kleinste Hotel der Welt. Dieses Hochzeithotel hat nur einen Raum für die Neuvermählten. Es gibt hier auch eine kleine Küche, damit sich die Braut nach der Hochzeitsnacht gleich als Köchin und Hausfrau bewähren könnte.

               Hinter dem Wall, mit dem die Altstadt umgeben ist, beginnt das so genannte „Viertel“, wo sich das Kulturleben der Stadt konzentriert. Neben der Kunsthalle und dem Theater auf dem Goetheplatz gibt es hier Geschäfte, Restaurants, Bars und alles, was zum Kulturleben gehört.

Das so genanntes „Universum“, ein Gebäude, das an einen großen silbernen Wal erinnert, befindet sich in der Nähe der Universität. Wahrscheinlich deshalb gibt es hier Ausstellungen und Programme mit Bildungsambitionen. Für Kinder ist das sicher faszinierend, aber um die Wahrheit zu sagen, es gab auch für uns einiges Neues, was wir dort erfahren konnten.

               Allerdings – man hat Bremen nicht besucht, solange man nicht im Botanischen Garten, also in einem Rhododendronpark war. Er ist 46 Hektar groß, also wenn man ihn wirklich erkunden möchte, braucht man eine gute Kondition und feste Schuhe. Aber es zahlt sich aus. Die Rhododendrone sind das Symbol der Stadt, man findet sie fast in jedem Garten und wenn sie im Mai und Juni in Blüte stehen, ist das ein wirklich wunderschöner Blick. Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Arten mit unterschiedlichsten Farben und Größe gibt, im Park kann man sogar die Zuchtstation sehen, wo durch Kreuzen neue Arten entwickelt werden.

In der Mitte des Parks gibt es „Botanica“, wo man die Natur verschiedener exotischen Ländern besichtigen konnte.

               Alles also o.k. in Bremen?

               Es konnte sein, hätte ich nicht am Ende unseres Besuches im berühmten Restaurant Ratskeller nach örtlicher Spezialität zum Abendessen verlangt. Das Restaurant befindet sich unter dem Rathaus, das Ambiente ist schön, es gibt verschiedene Separee Räume, wo man bei Date den Abend in einer diskreten Zweisamkeit verbringen könnte. Im Reiseführer wird geschrieben, dass hier im Keller 120 000 Flaschen Wein aufbewahrt werden, die älteste soll aus dem Jahr 1653 stammen. Die wollte ich nicht unbedingt kosten, dafür aber eine örtliche Spezialität. Gerade Bremen waren dann der Anlass, warum ich begonnen habe zu forschen, warum an bestimmten Orten das Essen ungenießbar ist und so den Zusammenhang der Küche mit der Religion entdeckte. So habe ich erfahren, dass diese Stadt bereits im Jahr 1522 zum Protestantismus übertreten war. Das wäre allein keine Tragödie, aber die Bürger von Bremen haben sich für die Lehre Calvins entschieden. Die von meinen Lesern, die meinen Artikel „Calvin ist an allem Schuld“ gelesen haben, wissen schon, wohin ich will.

               Ich bat den Kellner um eine Speise, die typisch für Bremen war. Er meinte, dass die beste Möglichkeit, die originelle Bremer Küche ausprobieren zu können, ein „Seemanlabkaus“ war. Ich ahnte nichts Böses und habe das Wunder der örtlichen Küche bestellt, Ich kam aus dem Erstaunen nicht heraus. Es wurde mir ein suspekter Brei unbestimmter Farbe serviert, zusammengesetzt aus dem geselchten Fleisch und Kartoffelbrei – beides zusammengemixt. Es hatte kein Geschmack, es enthielt offensichtlich keine Gewürze, das einzige essbare war das Spiegelei auf der Kuppe dieses Haufens. Als Beilage wurde ein saurer Hering serviert. Nein, ich habe es nicht geschafft. Meine Familie amüsierte sich köstlich, ich gab in der Hälfte der Portion auf. Das Ei habe ich aufgegessen, vom Hering probierte ich nur einen kleinen Biss.

               Meine Hypothese, wie dieses Essen entstanden ist, ist die Folgende. Die Bremer Matrosen stachen in den See und zum Mittagessen hatten sie geselchtes Fleisch mit Kartoffeln. Dann kam ein starker Sturm und so konnten sie die Portionen, die sie bereits zum Mittag verzehrt haben, zum Abend noch einmal essen. Beim Zahlen schlug ich dem Kellner vor, dass ich bereit bin, die Hälfte des Preises zu zahlen. Die andere Hälfte sollte der Mensch zahlen, der das Essen bereits vor mir im Magen hatte.

               Er lächelte nicht.

               Bremen ist sicherlich schön, die Leute dort lieb, aber einen Sinn für Humor habe ich vermisst.

               „Moin“

Bremen I

               Bremen ist weit weg. Bremen ist das kleinste deutsche Bundesland. Bremen ist eine alte Hansa-Stadt. Bremen ist eine Rhododendron-Stadt. In Bremen hat unser Sohn Lubomir ein halbes Jahr gearbeitet, und so entschieden wir uns, ihn zu besuchen. Es ist zwar bereits zehn Jahre her, die Erinnerungen blieben aber bis heute lebhaft. Bremen ist nämlich sehr schön, obwohl sich die Einwohner irgendwann um das Jahr 1522 in der Sache der Religion für die Lehre Calvins entschieden haben. Es hat sie nicht daran gehindert, ihre Häuser schön zu schmücken. Nur bitte, keine lokalen Spezialitäten ausprobieren, man kann hier auch anders gut essen. Aber dazu später.

               Die Bremer grüßen sich mit dem Wort „Moin“. Das bedeutet in ihrem Dialekt, also in Plattdeutsch „Guten Morgen“. Im kalten Nordwind, der vom Nordsee bläst, erstarrte wahrscheinlich den Einheimischen der Mund und deshalb schaffen sie längere Worte nicht. Möglicherweise aus dem gleichen Grund sprechen auch die nicht weit entfernten Dänen nur die erste Hälfte ihrer Worte aus, was nicht gerade kleine Probleme mit der Verständigung zur Folge hat. Aber die Natur lässt offensichtlich nichts anderes zu. Mein Sohn grüßte brav auf die österreichische Art „Grüß Gott“ und verursachte damit unter den Angestellten der Firma eine bestimmte Panik. Am dritten Tag stellte ihn sein Chef in die Mitte der Halle und sagte nachdrücklich „Der Kollege kommt aus Österreich“. Trotzdem hat er schnell gelernt mit „Moin“ zu grüßen, um nicht auffällig zu sein. Wenn sie in Bremen gefragt werden, wie es Ihnen geht, handelt sich nur um eine Höflichkeitsfrage. Man muss also seinen Zustand nicht lange schildern, es reicht mit einem „Muscha“ zu antworten. Das bedeutet „Es muss gehen“. Mehr Optimismus wird in Bremen nicht verlangt.

               Bremen lebt – neben Anderem – von Schiffbau. Es gibt hier gleich einige große Firmen, die Luxusyachten produzieren. Die größte von ihnen ist die Firma Lürssen, die bereits im Jahr 1904 gegründet wurde und bei der russische Oligarchen ihre Yachten bauen ließen.

Es wird erzählt, dass Lürssen nicht einmal von den absurdesten Wünschen dieser meistens kriminellen Neureichen zurückgeschreckt ist. Als einmal ein Oligarch erfuhr, dass sich ein anderer eine Yacht bei der Konkurrenz bauen ließ und diese um fünf Meter länger als die seine sein sollte, ließ er seine Yacht, die bereits fertig war, in der Mitte durchschneiden und einen zehn Meter langen Teil hineinbauen. Die Deutschen wunderten sich zwar, sie schmunzelten sogar, aber der Kunde ist der Herr, also sie schnitten, klebten und die Yacht war fertig nach den Wünschen des Herren Oligarchen. Das heißt, zu diesem Zeitpunkt die größte auf der Welt.

               Unser Sohn arbeitete bei der Konkurenzfirma Abeking und Rasmussen, die in Bremen seit 1907 tätig ist. Diese Firma spezialisierte sich auf zwar kleinere, dafür aber spezielle und durchgedachte Schiffe. Zum Beispiel, als sie für einen Millionär, dessen Gattin an Seekrankheit litt,  eine Yacht bauten, die das Schwanken der Wellen am breiten See so kompensieren konnte, dass der stolze Besitzer auch mit seiner lieben Frau Ausflüge am Meer machen konnte. Die Größe der Yacht war für ihn im Gegensatz zu den Russen nebensächlich. Die Preise solcher Produkte entsprechen natürlicherweise der Bonität der Kunden. Wenn es gelang, zwei Aufträge in einem Jahr für solche Yachten zu bekommen, war die Firma Abeking und Rasmussen sorgenfrei, bei vier Yachten badete sie im Geld und wies große Gewinne auf.

               Wegen dieser großen Schiffbauer, wo man über die Größe ihrer Produkte in voraus nichts weiß, darf der Fluss Weser, an dem Bremen liegt, ab einem bestimmten Punkt mit keinen Brücken überquert werden, die dann das Ausfahren der fertigen Yachten ans Meer hindern könnten – der Sohn fuhr also täglich zur Arbeit mit der Fähre. Die letzte Brücke ist die Stephanibrücke am nördlichen Ende der historischen Stadt, danach ist Schluss.

               Der Fluss Weser ist die Ader der Stadt. Auf dem Fluss wurde die Ware transportiert, dank ihm wurde Bremen zu einer der wichtigsten Städte der Hansa. Aber mit der Zeit versandete der Fluss und war für Schiffe mit größerem Tiefgang nicht schiffbar. Zuerst versuchten die Bremer das Problem mit einem künstlichen Hafen im Vorort Vegesack zu lösen (wo heutzutage die Schiffswerften tätig sind), später bauten sie einen Hafen an der Flussmündung, der später zu einer selbständigen Stadt Bremerhaven wurde.

Bremerhaven

Sie blieb es bis heute, ist aber weiterhin ein Teil des Bundeslandes Bremen. Übrigens gerade von diesem Hafen aus verließen die meisten Deutschen im neunzehnten Jahrhundert ihre Heimat in Richtung Amerika. Darüber erzählt ein Museum im Bremerhaven. Man kann dort die Identität eines Emigranten einnehmen und dann mit ihm seine Reise nach Amerika, die Ankunft im Hafen von New York, die Dokumentenkontrolle sowie auch das weitere Leben in der Neuen Welt erleben. Der Bremerhaven war so wichtig, dass die Amerikaner nach dem zweiten Weltkrieg erzwangen, dass Bremen mit Bremerhaven, liegend inmitten der britischen Besetzungszone, unter die amerikanische Verwaltung gestellt wurde. Bremen bildete also eine kleine amerikanische Insel, wo die Einwohner wahrscheinlich mehr Kaugummi, Chocolade und Jazz als Leute aus der Umgebung erleben durften.

               Bremen wurde dank seiner Mitgliedschaft in der Hansa eine reiche Stadt. Die Unabhängigkeit der Stadt stellt die Statue von Roland unter Beweis, die vor dem reichlich geschmückten Rathaus steht.

Roland

An der Fassade des Rathauses gibt es die Legende über die Gründung der Stadt oder auch Kaiser Karl der Große mit Kurfürsten. Bremen wurde zum Mitglied der Hansa im Jahr 1358 in der Zeit der Herrschaft von Karl IV. Karl IV. unterstützte die Unabhängigkeit der Reichsstädte von den lokalen Herrschern. In seiner Goldenen Bulle aus dem Jahr 1356 trat er viele Kompetenzen des Kaisers an die Kurfürsten ab, unterstützte dafür aber die Selbstbestimmung der Städte. Roland als Palatin des Kaisers Karl und damit sein Vertreter wurde in dieser Zeit zum Symbol der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung. In Bremen wurde diese Statue allerdings zugleich mit der Fertigstellung des Rathauses im Jahr 1404 enthüllt, also in der kurzen Unterbrechung der Herrschaft der Luxemburger Dynastie im Reich durch Ruprecht von Pfalz. Aber es hat halt einige Zeit benötigt, bis Bremen für so ein prächtiges Gebäude genug Geld verdient hatte. Die Legende sagt, dass die Stadt so lange bestehen bleibe, solange Roland auf seinem Platz stehen würde. Deshalb blieb Roland sogar in der Zeit des zweiten Weltkrieges, als Bremen wegen seiner Lage und Bedeutung ein Ziel häufiger Luftangriffe der Alliierten wurde (es wurde 62% der Gebäude in der Stadt vollständig zerstört), auf seinem Platz. Er wurde mit Sandsäcken umhüllt und dann in eine Schutzwand eingemauert. Roland hat den Krieg überlebt und mit ihm auch die Stadt. Jetzt steht er vor dem Rathaus mit dem Schwert in der rechten Hand, geschützt mit einem Schild in der linken, auf dem der zweiköpfige kaiserliche Adler ist, als ein Zeichen der direkten Untergebenheit der freien Stadt ausschließlich dem Kaiser.

               Zu einer freien Reichsstadt wurde Bremen offiziell lediglich im Jahr 1646, lange konnte es sich aber an seinen Status nicht freuen. Der Westfälische Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg beendet hat, hat die Stadt nämlich Schweden zugesprochen. Im Jahr 1712 übernahmen Dänen die Stadt von den Schweden, die nach der vernichtenden Niederlage bei Poltava gegen Russland nicht mehr im Stande waren, ihre Besitzungen gegen die Koalition von Russland, Dänemark und Polen/Sachsen zu schützen und zu behalten. Die Dänen haben dann die Stadt gleich drei Jahre später an den Kurfürsten von Hannover verkauft. Im Jahr 1810 kamen Franzosen hierher, um hier drei Jahre lang zu herrschen, der Wiener Kongress erteilte Bremen den Status einer freien Stadt, den sie auch nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 behalten konnte. Als ein Bundesland mit einer Selbstverwaltung funktioniert Bremen also bis heute.

               Die zweite Skulptur in Bremen mit einer symbolischen Bedeutung sind die „Bremer Stadtmusikanten“.

Dieses Märchen der Gebrüder Grimm von vier alternden Tieren (Esel, Hund, Katze und Hahn), die tapfer Räuber in die Flucht geschlagen und ihre Beute sich angeeignet haben, gilt im deutschen Sprachraum zu den populärsten. In Bremen sind diese vier Helden in einer Skulptur verewigt, die an der Seitenwand des Rathauses steht. Bei Berührung der Statue aus Bronze werden angeblich Wünsche wahr, die man in diesem Moment hat. Ich wünschte mir etwas, es erfüllte sich nichts davon. Man kann nichts machen. Eine Kopie dieser Bremer Skulptur findet man auch im lettischen Riga. Es war ein Geschenk der Stadt Bremen an die Partnerstadt, die ebenso zur Hansa gehörte, nach der Selbständigkeitserklärung von Lettland im Jahr 1991.

               Die Altstadt von Bremen bildet eine Ellipse an dem rechten Flussufer, sie ist von einem Erdwall mit Wassergraben und Parkanlagen umgeben. Alles ist dort nah, alles kann man zu Fuß erkunden. Wir passierten eine lange Einkaufpassage Loyd,

dann kam man durch den Blumenmarkt zur Frauenkirche und dann zum Rathaus und zum Roland. Vor der Kirche „Unserer Lieben Frau“ steht eine Reiterstatue des Kanzlers Bismarck. Wie er sich um Bremen wirklich verdient gemacht hätte, habe ich nicht erfahren, vielleicht war das Dank dafür, dass in seinem politischen Gebilde, also im neuen Deutschen Kaiserreich, Bremen seine Autonomie bewahren durfte, da sonst das Verhältnis des Kanzlers zu Bremen wegen unterschiedlichen Ansichten auf die Kolonial- und Handelszollfragen nicht ungetrübt war.  Meine Hypothese, dass die Bremer sich bei dem mächtigen Mann einfach nur einschleimen wollten, hinkt durch die Tatsache, dass die Staue im Jahr 1910, also 12 Jahre nach Bismarcks Tod eingeweiht wurde. Wahrscheinlich als Symbol der deutschen Vereinigung, also etwas ähnliches wie Giuseppe Garibaldi in italienischen Städten. Dort fragt auch keiner, warum dort seine Statuen in beinahe jeder Stadt stehen, obwohl ihn manche von ihnen nicht ausstehen konnten.

               Einen Platz weiter gibt es den Dom, der dem heiligen Petrus geweiht ist. Auf den Turm des Doms kann man steigen. Natürlich kann man, wenn man die Sicht auf die Stadt von oben genießen möchte, dieser Versuchung nicht widerstehen, man muss aber über eine so enge Stiege nach oben gehen, dass eine Ampelregelung nicht ganz abartig wäre. Den entgegenkommenden Menschen auszuweichen, besonders wenn sie nicht gerade schlank sind, ist eine echte Herausforderung und ein enger Körperkontakt ist unvermeidlich. Vor dem Dom wurden wir Zeugen einer alten Tradition. Ein Mann, der mit Dreißig noch immer ledig ist, ist verpflichtet, am Tag seines dreißiger Geburtstags die Treppen vor dem Dom zu fegen oder den vorbeigehenden Menschen Schuhe zu putzen, um für seine Hochzeit das Geld endlich zu verdienen. Ich war ein vorbeigehender Mensch und meine Schuhe haben sich ein ordentliches Putzen seit langem dringend verdient, ein Widerstand war also zwecklos. Ob sich der junge Mann für die Hochzeit das Geld tatsächlich verdient hat, darf ich aber anzweifeln. Ich habe ihn kurz danach gesehen, wie er mit seinen Freunden, die seine Tätigkeit streng kontrolliert haben, den Verdienst in einer der vielen Bars verzechte. Die Tradition, die das weibliche Geschlecht betrifft, haben wir leider nicht erlebt. Eine dreißigjährige Jungfrau (die Jungfräulichkeit wird nicht dringend nötig, es reicht, wenn sie nicht verheiratet ist) muss so lange die Klinke an der Tür der Kirche putzen, bis sie von einem jungen Mann mit einem Schmatzer befreit wird. Ich fürchte, dass diese Tradition in Folge der „politic corectness“ bald stirbt (wenn nicht bereits gestorben ist). Schade darum.

Fortsetzung folgt.