Peter der Große

Kaum eine Person wurde für die Nation, in der sie geboren wurde, zu einem so bedeutenden Symbol wie Peter der Große für die Russen. Jeder russische Herrscher neigt dazu, sich mit ihm zu vergleichen, insbesondere Männer, die im Vergleich zu ihm körperlich wie Zwerge wirken würden. Weder Stalin noch Putin erreichten eine Körpergröße von 170 Zentimetern. Peter hingegen war mit einer geschätzten Größe zwischen 201 und 215 Zentimetern ein Riese seiner Zeit – und wäre es auch heute noch. Doch sein Beiname „der Große“ rührte nicht von seiner Körpergröße, sondern von seinen politischen Leistungen. Am 8. Februar (nach dem damals in Russland verwendeten julianischen Kalender der 28. Januar) des Jahres 1725 endete sein Lebensweg – also genau vor 300 Jahren.

Peter der Große

Peters Weg zur Macht war nicht einfach. Sein Vater, Zar Alexei Michailowitsch, der zweite Zar aus dem Hause Romanow, hatte aus zwei Ehen insgesamt 14 Kinder, und Peter war das jüngste von ihnen – das vierzehnte. Nach dem frühen Tod von Zar Alexei (er starb im Alter von 47 Jahren) bestieg dessen ältester Sohn und Peters Halbbruder Fjodor den Thron. Fjodor war kein schlechter Zar, er war reformfreudig, starb jedoch bereits im Jahr 1682 im Alter von nur 20 Jahren und ohne einen legitimen Nachfolger, da sein einziger Sohn Ilja 1681 nur zehn Tage nach der Geburt starb.

Nach Fjodors Tod war dessen jüngerer Bruder Iwan der legitime Thronfolger, er war jedoch geistig schwach. Es entbrannte ein Machtkampf zwischen den Familien der Ehefrauen von Zar Alexei – auf der einen Seite seine Tochter Sofia (geboren 1657) aus der ersten Ehe, auf der anderen seine zweite Ehefrau Natalija Naryschkina. Die Entscheidung fällte die zaristische Garde, die sogenannten „Strelizen“, die seit der Zeit Iwans des Schrecklichen große Macht genossen. Patriarch Joachim erkannte, dass Iwan als Herrscher völlig ungeeignet war, und erklärte daher Peters Mutter Natalija zur Regentin und Peter selbst – Iwans Halbbruder – zum Zaren. Als jedoch das Gerücht aufkam, dass die Familie Naryschkin Iwan ermordet habe, um den zehnjährigen Peter auf den Thron zu setzen, drangen die Strelizen in den Kreml ein und ermordeten vor den Augen des kleinen Peter zwei seine Onkel sowie seinen Erzieher Matwejew. Seit diesem Moment hasste Peter die Strelizen – und ließ sie diesen Hass bei deren nächstem Aufstand im Jahr 1698 bitter spüren.

Letztlich wurde dank des Patriarchen ein Kompromiss gefunden. Iwan wurde offiziell zum Zaren ernannt, jedoch unter der Regentschaft seiner älteren Schwester Sofia Alexejewna, während Peter als „zweiter Zar“ zum Mitregenten bestimmt wurde.

Allerdings residierte im Kreml nur „der erste Zar“ Iwan, zusammen mit seiner Schwester Sofia, die tatsächlich die Regierungsgeschäfte führte. Peter und seine Mutter lebten in einer Art luxuriösen Exils im Dorf Preobraschenskoje Selo an der Kljasma. Diese Zeit prägte Peter für sein ganzes Leben, denn in seiner Nachbarschaft lebten Kaufleute, Unternehmer und Handwerker aus Westeuropa (darunter auch Vorfahren des heutigen österreichischen Präsidenten Van den Bellen). Durch den Kontakt mit ihnen lernte Peter eine andere Welt kennen und fasste den Entschluss, Russland durch Reformen zu verändern und dem westlichen Lebensstil anzunähern.

Aus den Freunden seiner Jugendzeit – meist Söhne von Offizieren des Preobraschenski-Regiments, mit denen der heranwachsende Peter Kriegsspiele spielte – entstand später sein enger Kreis von Adjutanten und Militärführern. Einer von ihnen war Alexander Danilowitsch Menschikow, Sohn eines Korporals, der ursprünglich auf den Märkten Moskaus Piroggen verkaufte und unter Peter bis zum Fürsten und Feldmarschall aufstieg. Ein anderer Jugendfreund war Generalissimus Romodanowski, der später Peters persönliche Garde befehligte. Menschikow wurde zum Peters engsten Vertrauten und einflussreichsten Minister – fähig, intelligent und äußerst korrupt. Die Korruption war damals genau wie heute in Russland die tragende Säule des Staates. Obwohl Menschikow des Amtsmissbrauchs überführt und zu einer enormen Geldstrafe von 700.000 Rubeln verurteilt wurde (zum Vergleich: eine Kuh kostete damals sechs Rubel), verstieß ihn Peter nicht. Bis zum Ende seines Lebens hatte der Zar für seinen Minister und Freund eine Schwäche. Zu dem Hauptgrund dieser Zuneigung kommen wir noch später.

Im Jahr 1689, im Alter von 17 Jahren, gelang es Peter, die Macht zu ergreifen. Seine Schwester Sofia Alexejewna, die ihn als aufstrebenden Rivalen immer weniger ertragen konnte, heuerte 600 Strelizen an, um Preobraschenskoje zu überfallen und Peter sowie seine Mutter zu töten. Doch die Verschwörung wurde aufgedeckt, was zur Entmachtung Sofias und ihres Ministers Golizyn führte. Iwan blieb zwar formell „Mitzar“, mischte sich jedoch in nichts ein. Er starb im Jahr 1696, hinterließ zwar keinen Sohn, dafür aber fünf Töchter, von denen zwei eine bedeutende Rolle in der russischen Geschichte spielen sollten.

Zunächst musste sich Peter jedoch gegen seine machtgierige Mutter durchsetzen. Besonders in den ersten Jahren seiner Herrschaft mischte sie sich in die Regierungsgeschäfte ein und zwang ihm Jewdokija Lopuchina als Ehefrau auf. Jewdokija gebar ihm im Februar 1690 einen Sohn, Alexei, doch ihre religiöse Orthodoxie ging Peter zu sehr auf die Nerven. Die Ehe blieb daher rein formell und wurde schließlich geschieden. Jewdokija behielt jedoch noch einige Jahre Einfluss auf ihren Sohn und impfte ihm Misstrauen gegenüber Peters weltlichen Reformen und seinem säkularen Lebensstil ein. Dies führte schließlich zu einer tiefen Feindschaft zwischen Vater und Sohn mit tragischen Folgen.

Nach dem Tod Iwans wagte sich Peter endlich auf seine lange geplante Reise nach Westeuropa. Von 1697 bis 1698 reiste er „inkognito“ unter dem Namen Peter Michailow durch Europa. Besonders interessierte er sich für den Schiffbau, die Marine, Handelsregeln und moderne Handwerkskünste. Trotz seiner imposanten Körpergröße arbeitete er selbst als Schmied oder in Werften am Bau von Schiffen.

Doch dann musste er überstürzt nach Russland zurückkehren. Nach feierlichen Empfängen in Prag und Wien eilte er nach Moskau, wo erneut ein Aufstand der Strelizen ausgebrochen war. Doch diesmal hatten die Strelizen nicht mehr das Monopol auf bewaffnete Gewalt im Kreml und dessen Umgebung. Peters Freunde hatten inzwischen eine Garde aufgestellt, die sich ihnen entgegenstellen konnte.

Einer Legende zufolge – die historisch nicht belegt ist – ließ Peter Kanonen auf die betenden Strelizen abfeuern, bevor sie zum Angriff übergingen (so befahl es die Tradition) , mit der sarkastischen Bemerkung, dass sie so leichter ins Himmelreich kämen. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, das Strelizen-Korps aufgelöst und Hunderte von ihnen hingerichtet. Ein biografischer Film über Peter übernahm die Erzählung, dass sein Sohn Alexei ihn fragte, ob es nicht zu leicht sei, Todesurteile zu fällen und dann nur zuzusehen, wie die Henker die Köpfe der Verurteilten abschlugen. Daraufhin soll der Zar aufgestanden sein, einem Henker das Beil aus der Hand genommen und selbst mit der blutigen Arbeit begonnen haben. Peter war eben nichts russisches fremd.

Da er – vermutlich zu Recht – vermutete, dass der Aufstand von seiner Frau Jewdokija initiiert worden war, um ihren Sohn Alexei auf den Thron zu bringen und Peters Reformen zu stoppen, ließ er sie in ein Kloster sperren. Die Ehe wurde daraufhin geschieden.

Nach seiner Rückkehr widmete sich Peter mit voller Energie seinen Reformen, die überall auf Widerstand stießen – sowohl bei den Bojaren als auch beim Volk.

Das ist typisch für Russland, das genau entgegengesetzt zum Rest Europas tickt – sofern man Russland überhaupt als ein Teil Europas betrachten kann. Während in Europa Reformen oft unter Druck der unteren Bevölkerungsschichten entstanden und die Herrscher gezwungen waren, ihren Untertanen nachzugeben, verlief es in Russland genau umgekehrt. Der Zar befahl das Leben zu modernisieren und das Volk musste sich fügen – wenn auch ungern, da es lieber zwar in einer rückständige, aber dafür unkomplizierten Weise weitergelebt hätte.

Peter reformierte das Reich, auch wenn es selbst unter seiner Herrschaft noch weit von einem modernen Staat entfernt war. Die Bojaren wurden in 14 Ränge eingeteilt, waren aber keine geschlossene Kaste mehr – was Queraufsteigern wie Menschikow ermöglichte, in ihre Reihen aufzusteigen. Der städtische Stand wurde in drei Gilden mit einer autonomen Stadtverwaltung unterteilt, die Bojarenduma wurde durch einen Senat ersetzt, der beratende Funktion in der Regierung hatte und die Staatsverwaltung sowie auch die Justiz überwachte. Das Reich wurde in 12 Gouvernements und 43 Provinzen unterteilt, es wurde eine ständige Armee eingeführt und ein effektiveres Steuersystem etabliert – die Steuern wurden endlich konsequent eingetrieben.

Peter entmachtete zudem das Patriarchat, indem er es in einen Heiligen Synod umwandelte, der als oberste religiöse Instanz des Reiches fungierte. Der Patriarch wurde – nach guter byzantinischer Tradition – faktisch zum Hofkaplan des Zaren degradiert. Die Zeiten, in denen Patriarchen mitbestimmen konnten, wer Zar wurde, waren vorbei.

Peter agierte in gewisser Weise wie später Atatürk in der Türkei. Er wollte aus den Russen Europäer machen – ob sie es wollten oder nicht. Man kann mit Sicherheit sagen, sie wollten es nicht. Doch Peter setzte seine Maßnahmen mit solcher Entschlossenheit und Brutalität durch, dass ihnen nichts anderes übrigblieb, als sich zu fügen. Seine Reformen gingen so weit, dass er den Bojaren befahl, sich die Bärte zu rasieren, und das Tragen russischer Kaftane verbot.

Doch Peter war eine Sache völlig klar: Russland würde ein rückständiges asiatisches Land bleiben, solange es keinen Zugang zum Meer erhielt. Der Handel auf dem Landweg war damals völlig unproduktiv, es war langsam, gefährlich und brachte keinen Gewinn. Das Meer hingegen war der wahre Verkehrsraum für Waren und somit eine Quelle des Wohlstands.

Europa um 1700

Doch genau hier lag das Problem. Bereits 1696 nahm Peter als „einfacher Artillerist“ an der Eroberung von Asow gegen die Krimtataren teil. Er nutzte die Schwächung der osmanischen Schutzmacht, die sich nach ihrer Niederlage bei Wien 1683 nicht mehr erholen konnte. Im Frieden von Karlowitz 1699 erhielt Russland Asow (während die Polen Podolien und Teile der Ukraine gewannen), konnte es jedoch nicht lange halten. 1711 gab Peter die Stadt wieder an die Türken zurück, da seine Prioritäten inzwischen ganz woanders lagen.

Trotzdem gründete Peter 1698 am Don-Delta Russlands ersten Marinestützpunkt: Taganrog. Bereits 1691 begann er mit Hilfe ausländischer Experten den Bau einer russischen Flotte. Doch damals besaß Russland nur einen einzigen Seehafen – Archangelsk –, der im Winter zufror.

Peters Blick richtete sich auf die Ostsee. Von dort war es wesentlich näher zu den entwickelten westlichen Ländern, und es gab keine Meerengen wie den Bosporus oder die Dardanellen, die von den feindlichen Türken kontrolliert wurden. Doch im Norden stand eine andere Großmacht im Wege – Schweden. Seit dem Dreißigjährigen Krieg galt die schwedische Armee als unbesiegbar, und Schweden beherrschte Finnland sowie auch die Gebiete der heutigen baltischen Staaten.

Peter beschloss, diesen Knoten zu durchbrechen, und begann 1700 den Großen Nordischen Krieg, der 21 Jahre dauern sollte und Kurland buchstäblich entvölkerte (Riga verlor beispielsweise 90 % seiner Einwohner). Er verbündete sich mit Polen und Dänemark nach dem Motto: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund.“ Der Vertrag mit dem polnischen König August II wurde symbolisch in Preobraschenskoje unterschrieben. Doch anfangs sah es nicht so aus, als könnte sein Plan aufgehen. In Schweden regierte seit 1697 der junge König Karl XII., ein energischer Soldat und brillanter Stratege, der nicht ohne Grund „Löwe des Nordens“ genannt wurde.

Karl XII

Bei Narva erlitt die russische Armee – mit 40.000 Mann – eine katastrophale Niederlage gegen nur 8.000 Schweden. Karl XII. schaltete die Dänen aus, eroberte Warschau und setzte dort seinen Schützling Stanisław Leszczyński auf den polnischen Thron. Peter stand dem „Löwen“ plötzlich allein gegenüber.

Doch das bedeutete nicht, dass Peter seinen Traum von der Ostsee aufgab. Er nutzte die schwedische Beschäftigung in Polen und besiegte 1701 schwedische Truppen bei Erastfer in Livland und 1702 bei Hummelshof. 1703 besetzte er die Mündung des Flusses Newa und entschied sich, genau hier eine neue Hauptstadt zu errichten. Auf ersten Blick auf dem sumpfigen Boden ein aussichtsloses Unternehmen. Deshalb haben die Schweden dem Bau keine Beachtung geschenkt. Für Peter war allerdings nichts unmöglich.

Peter hasste Moskau mit seinen Klöstern, Mönchen, Wunderheilern, Heiligen Narren und dem traditionellen Lebensstil. An der Newa-Mündung wollte er ein „russisches Fenster nach Europa“ bauen. Bis heute herrscht jedoch die Ansicht vor, dass es ihm lediglich gelang, eine Kulisse zu errichten, die das wahre Russland vor Europa verbergen sollte.

Er baute die Stadt buchstäblich auf den Knochen seiner Untertanen. Hunderttausende wurden für den Bau herangezogen – Schätzungen zufolge starben bei den Arbeiten bis zu drei Millionen Menschen. Peter selbst überwachte die Bauarbeiten persönlich. Die einfache Holzhütte, die er sich dort errichten ließ und in der er unter bescheidenen Bedingungen ohne jeglichen Luxus lebte, kann man in Sankt Petersburg noch heute besichtigen.

Die Namenswahl der neuen Hauptstadt ist ebenfalls interessant. Peter entschied sich für die deutsche Namensform „Sankt Petersburg“. Ebenso heißt der von ihm errichtete Zarensitz, im Original „Petergof“ – also „Peterhof“. Die Stadt wurde erst im März 1917 nach der Februarrevolution und dem Sturz der Romanows in „Petrograd“ umbenannt. Doch das hielt nicht lange. Schon 1924 erhielt sie den Namen des gerade verstorbenen bolschewistischen Führers Lenin. Im achtzehnten Jahrhundert galt Russisch nicht als Sprache der Gebildeten. Da Peter seine Ausbildung hauptsächlich in Deutschland, Holland und England erhielt, wählte er für seine Städte deutsche Namen. Im 18. Jahrhundert wurde dann Französisch zunehmend zur Sprache der russischen Aristokratie. Dies änderte sich erst nach den Napoleonischen Kriegen. Erst unter dem Schock, dass ihre „französischen Götter“ Russland angegriffen hatten – und vor allem, dass die „Übermenschen“ besiegt wurden –, begann sich im frühen 19. Jahrhundert eine eigenständige russische Literatur zu entwickeln. In der Lyrik legte Puschkin die Grundlagen, in der Prosa Turgenjew (der übrigens gebürtiger Ukrainer war).

Der Große Nordische Krieg ging weiter. Karl XII. vertrieb die Russen aus Kurland und Livland und beschloss, sie endgültig zu besiegen – er machte denselben fatalen Fehler wie später Napoleon und Hitler. Er unterschätzte, wie riesig Russland war und wie grausam seine Winter sein konnten. Da sein wichtigster Verbündeter der ukrainische Kosakenführer Iwan Masepa war (die Ukrainer versuchten, den fatalen Fehler von Bohdan Chmelnyzkyj zu korrigieren, der die Ukraine 1654 an Peters Vater Alexei übergeben hatte), marschierte Karl nicht direkt auf Moskau, sondern in die Ukraine ein. Der Winter 1708–1709 war selbst für die kälteerprobten Schweden schrecklich. Dreitausend Soldaten erfroren, und Tausende weitere erlitten schwere Erfrierungen. Dennoch setzte Karl seinen Feldzug fort. Im Februar 1709 besiegte er bei Charkiw 7.000 Russen mit nur 400 Soldaten und kurz darauf 5.000 Russen mit nur 300 Mann. Durch diese Erfolge bestärkt, versuchte Karl, die Russen zur entscheidenden Schlacht zu zwingen, und begann im Juni 1709 die Belagerung der Stadt Poltawa. Doch dann wurde er verwundet. Bei einem Gefecht wurde Karl XII. am Bein angeschossen, die Wunde entzündete sich, und er konnte nicht mehr an der Spitze seines Heeres stehen. Die Russen trafen schließlich mit einer Armee von 44.000 Mann und 70 Kanonen ein. Die Schweden hatten dagegen nur 17.000 Soldaten – und keine Geschütze, genauer gesagt: keine Munition und keinen Schießpulvervorrat mehr.

Trotzdem war es Karl, der angriff. Er hatte keine andere Wahl, denn Peter, durch frühere Niederlagen gewarnt, hatte eine defensive Stellung in einem befestigten Lager bezogen. Unglaublich, aber die Schweden standen kurz vor dem Sieg – doch am Ende entschied die zahlenmäßige Überlegenheit der Russen und die Entschlossenheit ihres Oberbefehlshabers. Peter war für die schwedischen Schützer ein leichtes Ziel, trotzdem zog er sich nicht in Deckung. Mit seiner riesigen Statur ragte er weit über seine Soldaten hinaus. Er wurde von drei Kugeln getroffen. Eine durchschlug den Sattel seines Pferdes, eine riss ihm den Hut vom Kopf, und eine prallte von einer silbernen Ikone ab, die er an einer Kette um den Hals trug. Gott war auf der Seite Russlands.

Die schwedische Armee wurde vernichtet. Karl XII. floh in die Türkei und starb 1718 bei der Belagerung der dänischen Festung Frederiksten. Peter feierte seinen Sieg mit seinen Gefangenen. Als er in seinem Zelt die gefangenen schwedischen Generäle bewirtete und einen Trinkspruch auf seine „Lehrer“ ausbrachte, fragte Feldmarschall Rehnskiöld, wen er damit meinte. Peter antwortete: „Euch, meine Herren.“

Doch der Krieg dauerte noch zwölf weitere Jahre. Erst 1721 erkannte Schweden im Frieden von Nystad den Verlust seiner Gebiete südlich des Finnischen Meerbusens an. Peter änderte seinen Titel von „Zar von ganz Russland“ zu „Imperator“ – ein klares Signal, dass Russland das Erbe des Oströmischen Reiches für sich beanspruchte.

Peter stand auf dem Höhepunkt seiner Macht. Doch privat lief es nicht rund. Daran hatte auch sein Vertrauter Menschikow seinen Anteil, der ihm um 1703 seine Geliebte überließ – eine ungebildete, aber schöne und kluge livländische Kriegsgefangene namens Marta Skawrońska. Sie wurde zur Schicksalsfrau Peters. Sie gebar ihm zwölf Kinder, trat zum orthodoxen Glauben über, nahm dabei den Namen Katharina an, und 1712 heiratete Peter sie. Das verschärfte den Konflikt mit seinem Sohn aus erster Ehe, Alexei. Alexei versuchte 1717, aus Russland nach Italien zu fliehen. Doch Peter erzwang seine Auslieferung und organisierte einen Schauprozess gegen seinen eigenen Sohn. Alexei wurde wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde jedoch nicht vollstreckt – Alexei starb bereits am 28. Juni 1718 an den Folgen schwerer Folter, an der Peter vermutlich selbst beteiligt war.

Väter, die ihre Söhne töten, hatten in Russland eine Tradition. Iwan der Schreckliche hatte ebenfalls seinen Sohn erschlagen – doch zumindest soll er es später bereut haben. So zeigt es zumindest das berühmte Gemälde von Ilja Repin. Peter hingegen bereute nichts.

Auch große Männer haben aber ihre Gesundheitsprobleme. Peter ließ sich zweimal in Karlsbad behandeln (1711 und 1712). Vor dem Hotel „Roter Adler“ trank ich übrigens den teuersten Kaffee meines Lebens – für zwei Espressi zahlte ich 13,50 Euro, und das war im Jahr 2021, also noch vor der großen Inflation. Peter litt unter Problemen beim Wasserlassen. Einige Quellen vermuten eine Geschlechtskrankheit, wahrscheinlicher war es jedoch nur eine vergrößerte Prostata. Dies führte zu einer Harnwegsinfektion und Sepsis, die ohne Antibiotika damals nicht heilbar war. Am 8. Februar 1725 starb Peter an einer Blutvergiftung.

Noch kurz vor seinem Tod gründete er im Jahr 1724 die „Russische Akademie der Wissenschaften“. So sehr wollte er, dass Russland wie die großen Reiche des Westens wurde!

Doch hätte er wissen können, dass dies niemals gelingen würde? Es widersprach dem russischen Charakter, der russischen Seele.

Nach seinem Tod brach das für das russische Nachfolgesystem typische Chaos aus, das stark an das byzantinische erinnerte. Es war geprägt von Gewalt – und Frauen spielten darin eine wesentliche, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle. Nach Peter folgte seine zweite Ehefrau Katharina I. als Zarin.

Katharina I.

Die Regierungsgeschäfte führte ihr ehemaliger Liebhaber Menschikow. Nach ihrem Tod im Jahr 1727 bestieg der Sohn des zu Tode gefolterten Alexei unter dem Namen Peter II. den Thron. Doch er wurde nicht einmal 15 Jahre alt als er am 30. Januar 1730 starb.

Daraufhin entbrannte ein regelrechter Machtkampf. Zunächst riss Anna Iwanowna, die Halbschwester Peters, die Macht an sich. Sie war ursprünglich Herzogin von Kurland. Wie lohnend es war, ihr Geliebter zu sein, zeigt das Schloss Rundale (heute Lettland), das ihr Favorit Ernst Johann von Biron für sich errichten ließ.  Anna hielt sich bis zu ihrem Tod im Jahr 1740 auf dem Thron. Da sie kinderlos starb, folgte ihr ihre Nichte Anna Leopoldowna, eine Tochter ihrer Schwester Katarina Iwanowna und somit die Enkelin Iwans V. Doch sie war eine Deutsche – und konnte die russischen Herzen nicht gewinnen. Zudem entmachtete sie Biron, ohne selbst des politischen Geschicks mächtig zu sein. 1741 wurde sie durch einen Staatsstreich gestürzt, der mit Hilfe des Preobraschenski Regiments, das ihr Vater einst gegründet hatte, Peters Tochter Elisabeth Petrowna an die Macht brachte.

Die tragischste Figur dieser Epoche war jedoch Annas Sohn, Iwan VI. Er wurde am 23. August 1740 geboren und nach dem Tod seiner Großtante Anna am 17. Oktober 1740 mit nur zwei Monaten zum Zaren ausgerufen. Doch bereits am 25. November 1741 übernahm Elisabeth die Macht. Anna Leopoldowna und ihr Mann wurden in ein Kloster nahe Archangelsk verbannt, wo Anna 1746 mit nur 28 Jahren starb. Iwan aber wurde von seinen Eltern getrennt und lebenslang eingekerkert. Auf Befehl der Zarin durfte ihm im Krankheitsfall keine medizinische Hilfe geleistet werden. Doch er erwies sich als überlebensstark. Trotz seiner Gefangenschaft überlebte er – allerdings mit schweren psychischen Schäden. Die Isolation hinterließ ihre Spuren: Er litt unter Wutausbrüchen und Depressionen. Als mit Katharina II. im Jahr 1762 erneut eine Frau auf den Thron kam, wurde Iwan ermordet – angeblich bei einem Fluchtversuch. Er war 24 Jahre alt und hatte sein gesamtes Leben in einer Gefängniszelle verbracht.

Russische Geschichte ist voller grausamer Schicksaale. So wurde die schöne Ehefrau des falschen Dimitri II., Marina Mniszech, 1614 in Moskau zusammen mit ihrem dreieinhalbjährigen Sohn erhängt. Dagegen konnte Iwan VI. sich fast noch glücklich schätzen.

Bemerkenswert ist, dass Russland fast das gesamte 18. Jahrhundert nach Peters Tod von Frauen regiert wurde. (Mit einer kurzen Unterbrechung von sechs Monaten im Jahr 1762, als Peter III. auf dem Thron saß – bis ihn seine Frau Katharina ermorden ließ). Doch auch unter den Zarinnen blieb Russland ein Reich der Gewalt, der Barbarei und der Missachtung menschlichen Lebens. Selbst die belesene Katharina II., die Rousseau bewunderte, konnte daran nichts ändern.

Ein Herrscher kann seinem Volk Reformen aufzwingen – aber nicht seine Seele ändern.

Die Brutalität und die Verachtung des menschlichen Lebens sind grundlegende Eigenschaften Russlands.

Das Reiterstandbild Peters des Großen, der „Eherne Reiter“, dominiert den Senatsplatz in Sankt Petersburg. Es wurde zum Symbol der Stadt – und der expansionistischen russischen Politik.

Medni vsadnik – Eherher Reiter in Sankt Petersburg

Doch Peters angebliches politisches Testament ist eine Fälschung. Das Dokument, in dem er seine Nachfolger zum Eroberungsfeldzug gegen Europa aufgerufen haben soll, wurde bereits 1812 als Fälschung entlarvt. Doch die Russen lassen sich dieses Narrativ nicht nehmen. Immer wieder stilisiert sich jemand zum Erben Peters und zum Vollstrecker seiner „letzten Wünsche“. In Wahrheit hinterließ Peter keine offizielle Nachfolgeregelung. Sein Tod kam zu unerwartet und zu schnell. Sein Werk war monumental – doch mit grausamen Mitteln errichtet. Sein Vermächtnis blieb unvollendet.

Die Bolschewiki verlegten die Hauptstadt zurück nach Moskau und führten Russland zurück zu seinen asiatischen Wurzeln. Sie kehrten Europa den Rücken und betrachteten es nur als verlockende Beute. Peters Ziel war nicht die Eroberung Europas. Es ging ihm um Handel, um Geld, um Wohlstand. Er glaubte naiv, dass er aus Russen Europäer machen könnte – notfalls mit Gewalt. Doch die russische Seele ließ sich nicht umerziehen.

Die russischen Soldaten kamen erstmals unter Elisabeths Herrschaft nach Mitteleuropa – auf Einladung Maria Theresias, die verzweifelt Unterstützung gegen den Preußenkönig Friedrich II. benötigte. Damals eroberten sie sogar Berlin. Und es gefiel ihnen dort so gut, dass sie seitdem immer wieder nach Europa zurückkehrten – und es war immer sehr schwer, sie wieder loszuwerden.

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