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Lübeck Teil I.

“Lübeck ist weltbekannt für sein Marzipan”, sagte einmal eine Schulkollegin meines Sohnes die aus dieser Stadt stammte, fügte aber gleich deprimiert hinzu: “Aber davon wissen nur die Lübecker selbst.” Die Legende, dass Marzipan gerade in dieser Stadt erfunden wurde, als die Bürger während einer Belagerung und drohenden Hungersnot ein paar Säcke Zucker und Mandeln fanden, ist natürlich erfunden. Marzipan stammt aus dem Orient und gelangte – wie könnte es anders sein – über Venedig nach Europa. Aber in Lübeck trifft man an jeder Ecke darauf, es gibt ganze Geschäfte mit Marzipan und es werden daraus nicht nur Statuen in allen möglichen Größen, sondern sogar Trabbis hergestellt. Zwar nicht fahrbar, dafür umso süßer.

Marzipan

Lübeck war vor allem eine Handelsstadt und über seinen Hafen gelangte die süße Versuchung, die im frühen 16. Jahrhundert als Aphrodisiakum galt, also so etwas wie das Viagra der damaligen Zeit, in ganz Norddeutschland. Das absolute Mekka für Marzipanliebhaber ist das Cafe Niederegger – wo sonst als in Lübeck, auf einem ehrenwerten Platz neben dem Rathaus. Hier gibt es auch ein Marzipanmuseum, falls Sie nach einem Spaziergang durch die Stadt noch nicht genug davon haben. Wenn in den Museen von Madam Tussaud die Portraits der Prominenten aus Wachs gemacht werden, hier kann man zum Beispiel Thomas Mann aus Marzipan bestaunen. Aber wir sind nicht wegen des Marzipans in diese Stadt im Norden Deutschlands gefahren. Genauso wie die überwiegende Mehrheit der Menschen auf der Welt hatten wir keine Ahnung von seinem Ruhm. Aber Lübeck hat noch viel mehr zu bieten.

               Das Holstentor, als architektonische Kuriosität, brachte es im Jahr 2006 auf eine der ersten deutschen Gedenk-Zwei-Euro-Münzen.

Die Stadt hatte enge Beziehungen zu einem deutschen Kanzler und gleich zwei Trägern des Nobelpreises für Literatur. Willi Brandt wurde hier im Jahr 1913 und Thomas Mann im Jahr 1875 geboren und Günter Grass starb hier im Jahr 2015. Es gab also viel zu entdecken.

Lübeck liegt am Fluss Trave nahe der Nordsee. Praktisch alle wichtigen Häfen in Nordeuropa liegen im Landesinneren an Flüssen, da die raue Witterung den Bau von sicheren Häfen direkt an der Küste erschwert (eine Ausnahme ist beispielsweise Tallinn in Estland). Obwohl die Trave kein großer Fluss ist, entschied sich Graf Adolf II. von Schauenburg im Jahr 1143, auf einer Insel zwischen den Flüssen Trave und Wakenitz eine Stadt zu gründen. Für die damaligen Schiffe reichte die Trave aus, heute müssen große Schiffe, die in Travemünde anlegen, zurück ins Meer rückwärtsfahren, weil sie im Hafen nicht genug Platz zum Umdrehen haben.

Nachdem die erste Stadt bereits im Jahr 1157 niedergebrannt war, gab Graf Adolf den Platz an Herzog Heinrich den Löwen von der Herzogfamilie der Welfen ab. Dieser ließ die Stadt ausbauen, aber die Welfen wagten es, sich mit der regierenden Dynastie der Staufer anzulegen. Heinrich der Löwe verlor Bayern in einem Kampf mit Friedrich Barbarossa. Barbarossas Enkelsohn Friedrich II., verlieh dann Lübeck im Jahr 1226 mitten in Welf-Sachsen den Status einer freien Reichsstadt. Die Welfen mussten auf die geplanten Erträge aus der reichen Stadt verzichten, heute würde man es eine schlechte Investition nennen.

Die Lübecker waren ungewöhnlich unternehmungslustig. Es war nicht nur Marzipan und Wein, an denen sich die lokalen Kaufleute und die Stadtkasse eine goldene Nase verdienten. In Lübeck wurde ein neuer Typ von Handelsschiff, die sogenannte Kogge, erfunden, die bis zu 300 Tonnen Fracht aufnehmen konnte. Lübeck galt als “Königin der Hanse”, hatte Handelsniederlassungen von London bis Novgorod und war 1370 nach Köln die zweitgrößte deutsche Stadt. Damals entstanden wunderschöne Gebäude, auf die die Stadt noch heute stolz ist. Lübeck wagte sogar einen Krieg mit seinem unmittelbaren mächtigen Nachbarn – dem Königreich Dänemark, das ihm in der Nordsee Konkurrenz machte. Es ging um die Kontrolle der strategisch wichtigen Meerengen zwischen der Ostsee und der Nordsee, Skagerrak und Kattegat, die für den Lübecker Handel lebenswichtig waren. (Dänemark kontrollierte zu dieser Zeit auch das Gebiet um Lund und Malmö auf der Skandinavischen Halbinsel.) Im Krieg von 1534-1536 gelang es der von Lübeck geführten Koalition sogar, Kopenhagen zu erobern. Aber gerade mit diesem Krieg gegen den mächtigen Nachbarn überspannten die Bürgen von Lübeck ihre Kräfte, was den Niedergang der Stadt zur Folge hatte. Seine Truppen mussten sich 1536 in Kopenhagen ergeben und seine Flotte erlitt eine vernichtende Niederlage auf See. Die Machtposition der Stadt im Norden war damit dahin. Gerade aus der Zeit der Belagerung der Stadt durch dänische Truppen stammt der größte Münzschatz, der jemals in Deutschland gefunden wurde. Beim Ausheben von Fundamenten für eine neue Hochschule für Musik entdeckte ein Baggerfahrer einen Schatz von 395 Gold- und 23.228 Silbermünzen, den jemand aus Angst vor der dänischen Plünderung vergraben und nicht wieder ausgegraben hatte – obwohl die Dänen die Stadt schließlich nicht eroberten. Wir konnten diesen Schatz bei unserem Besuch im Stadtmuseum bewundern. Der Abstieg des Reichtums und der Bedeutung Lübecks setzte sich fort, nach dem Zerfall der Hanse und dem Dreißigjährigen Krieg sank die Bedeutung der Stadt (obwohl sie aufgrund ihrer Befestigungen nie erobert wurde). Heute hat die Stadt etwa eine Viertelmillion Einwohner und gehört damit in Deutschland eher zu den kleineren regionalen Zentren.

Die Schicksalsstunde schlug in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942, an einem Palmsonntag, als 234 britische Bomber die Stadt angriffen. Das Ergebnis war verheerend. 300 Menschen starben, 1.468 Häuser wurden zerstört und die Glocke der Marienkirche stürzte vom Turm, und ihre Trümmer sind noch heute zu sehen.

Lübeck hatte jedoch Glück im Unglück. Der Schweizer Diplomat und Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Carl Jacob Burckhardt, erlebte die Beinahe-Zerstörung der Stadt und es gelang ihm, den Verbindungsoffizier der Alliierten, Eric Warburg, zu überzeugen, in Lübeck einen Umschlagplatz für das Material des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz zu errichten. Dies rettete die Stadt vor weiteren verheerenden Angriffen, denen andere deutschen Städte wie Hamburg, Bremen, Nürnberg oder Dresden zum Opfer fielen.

Der Angriff forderte auch vier Lübecker Märtyrer. Der lutherische Pastor Karl Friedrich Stellbrink hatte unmittelbar nach dem Angriff am Palmsonntag, als die Stadt noch brannte, eine Predigt gehalten, in der er rief: “Gott hat jetzt mit mächtiger Stimme gesprochen, um die Menschen zu lehren, wieder zu beten.” Die Gestapo interpretierte dies als Zustimmung zum Angriff. Der Pastor und drei katholische Geistliche, die sich ihm angeschlossen hatten, wurden verhaftet, durch ein Standgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet. 2011 wurden sie von Papst Benedikt XVI. seliggesprochen. Ein Museum, das sich mit ihnen und dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten befasst, befindet sich in der evangelischen Lutherkirche, und eine Gedenktafel an der Seitenwand des Rathauses erinnert an sie.

Nach dem Krieg hatte Lübeck zwar Glück, in die britische Besatzungszone zu kommen, aber es wurde zu einer Grenzstadt – die Grenze zwischen der russischen und der britischen Zone und später zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik verlief auf dem Fluss Trave. Dies trug nicht gerade zur Attraktivität der Stadt bei, zusätzlich kamen 90.000 Flüchtlinge aus dem östlichen Europa hierher. Der Eiserne Vorhang fiel also direkt vor den Toren der Stadt. Zum Glück für Lübeck jedoch nicht hinter seinen Toren. Dank dieser Tatsache konnte die teilzerstörte Stadt wiederhergestellt werden, obwohl die Rekonstruktionsarbeiten bis in die 1980er Jahre dauerten. Heute ragen wieder schlanke grüne Kirchtürme in den Himmel und die Stadt erstrahlt in ihrer früheren Pracht.

Das Wahrzeichen der Stadt und des gesamten Bundeslandes Schleswig-Holstein ist jedoch das Holstentor. Es ist das Stadttor auf einer Insel zwischen dem Stadtgraben und der Trave. Ihr Bild zierte bis 1990 die Rückseite des 50-Mark-Scheins und heute ist es auf der Gedenkmünze von 2006 zu sehen – es war die erste Münze mit Motiven der einzelnen Bundesländer. Dieses Tor mit zwei spitzen Türmen, die ein wenig schief stehen, weil der Untergrund sumpfig ist, stammt aus dem Jahr 1478. Am Tor befindet sich das Holstentormuseum mit einer Ausstellung über die Hanse, dort können Waren besichtigt werden, die Wohlstand in die Stadt brachten. In der Nähe kann man dann die ehemaligen neu rekonstruierten Salzspeicher sehen. Das Geschäft mit Salz war im Mittelalter sehr attraktiv.

Wenn man nicht nur das Holstentor, sondern auch die gesamte Stadt von oben sehen möchte, muss man auf den Turm der St.-Petri-Kirche steigen. Wenn man sich damit abfindet, dass die Fenster vergittert sind. Der Innenraum der Kirche ist leer, es gibt hier nur ein schwarz-weißes Kreuz, da die Kirche bei dem Bombenangriff zerstört und erst 1987 wieder aufgebaut wurde.

Ein Blick vom Turm St Petri

Ein paar Schritte entfernt befindet sich der Hauptplatz “Markt” mit dem prächtigen Gebäude des Rathauses. Das erste Rathaus durften die Bürger bereits im Jahr 1230 errichten, das heutige Gebäude stammt jedoch aus dem Jahr 1435. Nicht aber das ganze Gebäude, nur der weiß leuchtende Teil mit den Wappen der Hansestädte und der Lübecker Patriziern. Im rechten Winkel dazu befindet sich das sogenannte “Neue Gemach”. An seiner Fassade wechseln sich kaiserliche Adler mit dem Wappen von Lübeck ab – horizontal gespaltener Wappen in Rot und Silber.

Wir haben das Rathaus natürlich besucht, beim Verkauf der Tickets erlebte ich allerdings einen Schock, von dem ich mich bis heute nicht ganz erholt habe. Die Dame an der Kasse fragte, ob wir Tickets für Erwachsene wollten. Sie bemerkte meinen verwirrten Blick und fragte, ob ich vielleicht eine Rentnerermäßigung hätte. Ich füge hinzu, dass ich damals 48 Jahre alt war. Ich kaufte mir ein Ticket zum vollen Preis, der Stolz siegte über die Gier.

Im Rathaus kann der Audienzsaal besichtigt werden, in dem Thomas Mann und Willy Brand die Ehrenbürgerschaft der Stadt erhielten, der Sitzungssaal des Stadtparlaments und der Gerichtssaal. Interessant sind die Türen zum Gerichtssaal, genauer gesagt aus ihm heraus. Sie haben unterschiedliche Höhen. Wenn jemand schuldig befunden und verurteilt wurde, musste er durch die kleine Tür gehen, in denen er sich bücken musste. Wer von Schuld freigesprochen wurde, konnte durch die große Tür mit erhobenem Haupt gehen. Oder, wie es die Einheimischen gleich witzig beschrieben haben: “Kleine Sünder durch die kleine Tür, große Sünder durch die große Tür.” Offensichtlich hat sich an dieser Regel bis heute nichts geändert.

Vor dem Rathaus steht auf dem freien Platz am Markt der sogenannte “Kaak”, ein offenes niedriges Gebäude mit einem Kupferdach. Im Erdgeschoss gab es einen Markt und oben in einem offenen Turm wurden verurteilte Verbrecher ausgestellt, es war also eine Art Pranger – ziemlich menschlich im Gegensatz zu anderen Prangern befand sich der Verurteilte außerhalb der Reichweite einer boshaften Menge.

Orthodoxie III

Im Jahr 1071 verloren die Byzantiner die Schlacht bei Manzikert gegen die Seldschuken-Türken, was den unaufhaltsamen Niedergang ihres Reiches einleitete. Kaum eine andere Schlacht hatte solche weitreichenden Folgen. Die Schutzmauer der europäischen griechisch-römischer Kultur und damit auch Christentums ist damit gefallen. Die Byzantiner mussten ganz Anatolien räumen und konnten es nie wieder zurückerobern. Das Reich beschränkte sich auf die Küstengebiete und die Ägäis Inseln. Die Expansion der Türken führte zu Kreuzzügen, von denen der vierte im Jahr 1204 sich gegen die Griechen wandte. Die Kreuzfahrer eroberten Konstantinopel und gründeten dort das Lateinische Kaiserreich.

Eroberung Konstantinopels durch den vierten Kreuzzug 1204

Wahrscheinlich inspiriert von diesem Triumph ließ Papst Innozenz III. im Jahr 1215 auf dem Vierten Laterankonzil das “filioque” als kirchliches Dogma in das offizielle Glaubensbekenntnis aufnehmen. Er hatte wohl das Gefühl, endgültig über die Orthodoxie gesiegt zu haben, die sich in das sogenannte „Reich von Nicäa“ zurückziehen musste. Die Katholiken beherrschten beide Hauptstädte des ehemaligen römischen Reiches und wollten bestimmen, was richtig war.

Die Griechen gaben jedoch nicht auf. Im Jahr 1261 eroberten sie Konstantinopel zurück, und es folgten weitere zweihundert Jahre eines allmählichen Verfalls des Byzantinischen Reiches, bis es im Jahr 1453 endgültig unterging. Der Eroberer von Konstantinopel von 1261, der Kaiser Michael Palaiologos, versuchte, eine Kirchenunion mit dem Westen zu schaffen, und diese Union entstand tatsächlich im Jahr 1274 in Lyon. In Byzanz stieß sie jedoch auf allgemeinen heftigen Widerstand, und der Kaiser, obwohl er sich durch die Rückeroberung der Hauptstadt und die Gründung einer neuen Dynastie einen Namen gemacht hatte, starb im Exil. Der Glaube und die damit verbundenen Emotionen besiegten die Vernunft, die von einem weisen Herrscher in die Ost-West Beziehungen eingeführt werden sollte.

Die Bedrohung durch die Türken wurde jedoch auch im Westen sehr wohl wahrgenommen, insbesondere vom ungarischen König und deutschen Kaiser Sigismund, der an seiner südlichen Grenze ununterbrochen mit dieser Bedrohung konfrontiert wurde. Der Plan für einen großen Kreuzzug scheiterte genau an den Uneinigkeiten der Kirche. Die militärischen Expeditionen der Jahre 1395 (Nikopol) und 1444 (Varna) endeten jeweils in Katastrophen.

Die byzantinischen Kaiser waren sich vollkommen bewusst, dass sie ohne Hilfe des Westens der türkischen Expansion nicht standhalten konnten und suchten dort Hilfe. Aber die Päpste waren unnachgiebig. Sie waren nur bereit zu helfen, wenn die Griechen in den Schoß der allgemeinen Kirche zurückkehren, also wenn sie sich mit den Veränderungen in den Ritualen und im Glaubensbekenntnis versöhnen würden. Zu diesem Zweck wurde vom Papst Eugen ein Konzil nach Ferrara einberufen, das im Jahr 1438 begann. Symptomatisch für die Asymmetrie der beiden Kirchen war die Tatsache, dass die katholische Delegation Papst Eugen IV. selbst anführte (der diese Gelegenheit nutzte oder missbrauchte, um das Konzil von Basel zu boykottieren, das seit 1431 tagte und an dem eigentlich der Papst teilnehmen müsste), während die griechische Delegation vom Kaiser Johannes VIII. Palaiologos geleitet wurde. Der Patriarch Josef II., der mit ihm kam, durfte zwar diskutieren, alle Schlussfolgerungen mussten aber vom Kaiser abgesegnet werden. Daran hat sich in Osten seit tausend Jahren nichts geändert. Nach langen Verhandlungen und der Verlegung des Konzils von Ferrara nach Florenz wurde am 6. Juli 1439 in der Kathedrale von Florenz feierlich die Kirchenunion verkündet. 31 Bischöfe, darunter auch der Patriarch von Konstantinopel Josef II., unterzeichneten das Dokument für die griechische Seite. Der Patriarch starb allerdings bald darauf und wurde in der florentinischen Kirche Santa Maria Novella begraben.

In Konstantinopel stieß aber dieser Vertrag wieder einmal auf einen unüberwindbaren Widerstand. Der Hass auf den Westen war enorm. Er war nicht nur die Folge der Erinnerungen an die demütigende Eroberung der Hauptstadt durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204. Es war der Hass eines Machtlosen, der sich nicht wehren konnte und nichts anderes als Hass übrig hatte. Das Motto der orthodoxen Christen wurde “Lieber den türkischen Turban als den Kardinalshut”. Die mit dem Kaiser loyalen Bischöfe, wie Metrophanes II. (1440-1443), Gregor III. Mammas (1443-1450) oder Athanasios II. (1450-1453), konnten das Volk für die Rettung der “ewigen Stadt” nicht gewinnen. Für einfache Griechen war die Vorstellung von Heterodoxie, also Ketzerei, so schrecklich, dass sie sich lieber entschieden, allein gegen die Türken zu kämpfen. 21 von 31 Bischöfen, die das Unionsdokument in Florenz unterzeichnet hatten, zogen ihre Unterschriften unter Druck des Volkes zurück. Der Hauptakteur des Widerstandes gegen die Union war der Mönch Gennadios Scholarios, der dann durch die Gnade von Sultan Mehmed der erste Patriarch von Konstantinopel wurde, nachdem die Türken die Stadt 1453 erobert hatten. Gennadios Scholarios war der beste Philosoph seiner Zeit. Er nahm am Konzil von Florenz als persönlicher Sekretär des Kaisers teil und unterzeichnete sogar das Unionsdokument. Danach wechselte er jedoch die Seiten. Er zog seine Unterschrift zurück und zog sich nach der Verkündung der Union in der Hagia Sophia am 12. Oktober 1452 (es dauerte so lange, bis der letzte byzantinische Kaiser Konstantin Palailogos sich dazu entschloss), aus Protest in ein Kloster zurück. Von dort aus wirkte er weiter als symbolische Person, die den unerschütterlichen wahren Glauben verkörperte. Unter türkischer Herrschaft verlor der Patriarch von Konstantinopel seine Bedeutung, da es keinen Kaiser mehr gab. Die Orthodoxie suchte nach einer neuen Führung, die dem muslimischen Herrscher nicht untergeben war. Noch im Jahr 1448 (also unmittelbar vor dem Fall von Konstantinopel) erhielt die orthodoxe Kirche des fernen Moskauer Fürstentums eine Autonomie. Die orthodoxe Kirche war nie so strikt hierarchisch organisiert wie die katholische. Die einzelnen Völker, die sich zum orthodoxen Glauben bekannten, erhielten in der Regel das Recht, ihre Angelegenheiten in ihrer eigenen Kirchenprovinz unabhängig zu regeln. Das ist auch heute noch der Fall. Praktisch jede Nation, die sich zum orthodoxen Glauben bekennt, hat ihren Patriarchen – seit dem 15. Dezember 2018 auch die Ukraine. Dazu kommen wir später noch zurück. Im Jahr 1448 wurde der erste Moskauer Metropolit, Bischof Jona, ernannt. Zu dieser Zeit erkannten die Moskauer Metropoliten jedoch noch die Überlegenheit des Konstantinopler Patriarchen an. Im Jahr 1547 ließ sich Ivan der Schreckliche zum “Zaren von ganz Russland” krönen und übertrug damit offiziell die Kaiserkrone des Byzantinischen Reiches nach Moskau. („Zar“ ist der russische Ausdruck für Kaiser). Ivan hatte jedoch kein Interesse an der gleichzeitigen Übertragung des Patriarchats. Der Patriarch in entferntem Konstantinopel war ihm lieber, als wenn er neben ihm im Kreml sitzen und ihm Leviten lesen würde (was er bei Ivan wahrscheinlich nicht lange getan hätte).

Die Gründung des Moskauer Patriarchats geht auf einen anderen russischen Politiker, nämlich auf Boris Godunov, zurück.

Boris Godunov

Boris Godunov war für seine Zeit ein genialer Stratege und hatte in Russland praktisch keine Konkurrenz. Er regierte als Vormund des geistig behinderten Sohnes Ivans dem Schrecklichen, Fjodor I. Er erkannte, dass Moskau, um zum Oberhaupt der orthodoxen Kirche zu werden, benötigte, Russlands Ansprüche auf die Stellung als Erbe und Nachfolger des Byzantinischen Reiches zu legitimieren. Die kaiserliche Krone ohne eine Untermauerung durch den Glauben (also die Kirche) war nicht genug. Er begann sofort nach Ivans Tod im Jahr 1584 mit den Vorbereitungen für diesen Schritt. Im Jahr 1589 wurde das Moskauer Patriarchat ausgerufen und ein Jahr später genehmigte die Synode in Konstantinopel seine Gründung – was konnte sie schon tun? Jove wurde der erste Patriarch und belohnte Boris Godunov damit, dass er nach dem Tod von Fjodor I. im Jahr 1598 einen entscheidenden Anteil an seiner Wahl zum Zaren hatte. Die kaiserliche Krone brachte Boris kein Glück. Bis zu seinem Tod im Jahr 1605 kämpfte er gegen die Rebellion der Bojaren, gegen eine polnische Intervention, Missernten und Hunger. Das alles wurde von fanatischen Mönchen als göttliche Strafe interpretiert (angeblich für den Mord an Ivans dem Schrecklichen jüngstem Sohn Dimitrij, der jedoch Boris niemals nachgewiesen werden konnte). Boris Godunov ist wohl eine der meistverarbeiteten Figuren in der russischen Literatur (Puschkin und Alexej Tolstoi schrieben Dramen über ihn, Modest Mussorgskij eine Oper und Sergej Bondartschuk drehte über den unglücklichen Zaren einen Film). Das Schicksal von Boris Godunov ist das Schicksal eines Menschen, der in Russland etwas voranbringen wollte und am russischen Mystizismus, Fatalismus und der Passivität scheiterte. Nur Peter der Große konnte Russland reformieren, allerdings nur weil er brutaler als alle seine Gegner war und bei Bedarf sogar persönlich Rebellen die Köpfe abschlug.

Es funktionierte in diesem Land auf eine gute Weise nie etwas, oder etwa doch, Herr Gorbatschow?

Moskau übernahm zwar die Machtansprüche von Konstantinopel, wenn es um die Führungsposition in der orthodoxen Kirche ging, vermisste jedoch vollständig die feine und hochentwickelte griechische Philosophie. Dazu hatte das russische Reich einfach keine Kapazitäten. Es konnte sie auch nicht haben. Kenntnisse des Griechischen waren rudimentär und die russische Sprache wurde sogar von den Russen selbst bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts als literarisch unbrauchbar angesehen. Die bessere Gesellschaft unterhielt sich auf Französisch und die schlechtere konnte weder lesen noch schreiben. Erst Puschkin und Gogol (übrigens ein gebürtiger Ukrainer) machten aus dem Russischen eine Salonsprache. Anstatt Philosophen wie Photios, Gennadios Scholarios oder Gregorios von Nazianz sollte also die Entwicklung der orthodoxen Kirche in Russland von Propheten, Narren und Rasputins bestimmt werden. Es war ein Rückzug ins dunkle Mittelalter (eigentlich ist sogar diese Formulierung ungenau, jeder von den Patriarchen im Konstantinopel sogar im vierten Jahrhundert war bei weitem mehr gebildet als russische Patriarchen, sogar die derzeitigen) und diesen Weg hat die russische Orthodoxie bis heute nicht verlassen. Die Patriarchen spielten eine sehr wichtige Rolle im Leben Russlands und konservierten mittelalterliche Bräuche. Moskau war das Zentrum ihrer Arbeit – und der Rückwärtsgewandtheit. Das ging dem reformorientierten Kaiser Peter dem Großen (der auch aus diesem Grund eine neue Hauptstadt weit entfernt von Moskau gründete) ungemein auf die Nerven.

Peter der Große

Im Jahr 1721 entzog er dem Patriarchat seine Rechte und unterstellte die Kirche dem Staat – also sich selbst. Die “Heilige Synode” unter staatlicher Aufsicht entschied über organisatorische Angelegenheiten im Patriarchat und seit 1742 war der Vorsitzende der “Heiligen Synode”. anstelle des Patriarchen der Oberste Staatsanwalt.       

Interessanterweise wurde das Patriarchat nach der Oktoberrevolution 1918, also nach der Machtergreifung der Bolschewiki, wieder eingeführt. Die Kommunisten gingen zwar im Allgemeinen unerbittlich gegen Religion vor (Religion war für sie das „Opium des Volkes“), aber Stalin erkannte die Möglichkeiten, die ihm die Frömmigkeit des russischen Volkes bot. Er verwandelte das Patriarchat mit seinen Strukturen und Anhängern in eine Filiale des KGB. Im Grunde musste jeder Priester mit dem KGB zusammenarbeiten, viele von ihnen hatten in dieser Organisation sogar bedeutende Positionen. Wie auch der gegenwärtige Patriarch Kyril oder sein Vorgänger Alexios (1990-2009). Stalin förderte die orthodoxe Kirche auch auf “befreiten” europäischen Gebieten. Im östlichen Teil der Slowakei wurden orthodoxe Priester mit verschiedenen Vorteilen gelockt, insbesondere Mitglieder der griechisch-katholischen Kirche, und viele von ihnen verfielen den Verführungen. Die KGB war erfreut.

 Die Russen fanden nach 1990 sehr schnell den Weg zurück zum orthodoxen Glauben. Zum Beispiel wurde die Alexander-Newski-Kirche in Tallinn, die von der estnischen Regierung ursprünglich abgerissen werden sollte, sehr schnell zum Treffpunkt für die in Estland lebende Russen. Die Russen kehrten willig in den Schoß ihrer Kirche zurück. Die Kommunisten trennten die Bevölkerung gewaltsam von der Religion, aber der wirkliche Atheismus, der in Europa auf der Grundlage der Aufklärung entstand, fand nie einen Weg nach Russland. Die Russen verstanden den Verzicht auf die Orthodoxie im Grunde genommen als eine Abtrennung von ihren kulturellen Wurzeln. Die Aufklärung hat Russland nie wirklich berührt. Selbst Katharina II. die Große, eine begeisterte Anhängerin der Ideale von Jean-Jacques Rousseau, gab schnell ihre Bemühungen auf, diese Ideale in Russland zu verbreiten, als sie erkannte, mit welchem Widerstand sie konfrontiert wäre und dass es sie höchstwahrscheinlich sowohl die Krone, als auch den Kopf kosten würde. Als eine gebürtige Deutsche und eine Protestantin, also eine Heterodoxe, musste sie täglich beweisen, dass sie es mit der Konversion zum orthodoxen Glauben ernst meinte und dass sie sich mit diesem Glauben identifizieren konnte.

Katharina die Große

Aber ohne den Einfluss der Aufklärung fehlt den Menschen der Vernunft. Es bleibt lediglich ein blinder Glaube – an Gott, an den Zaren und an den Patriarchen. Ihre Befehle müssen blind befolgt werden, kritisches Denken ist nicht erwünscht. Was kann sich ein Monarch – Diktator – mehr wünschen? Vor allem, wenn der Leiter der Kirche – der Patriarch – daran gewöhnt und bereit ist, dem Zaren zu dienen.

Die orthodoxe Kirche ist einer der Pfeiler des aktuellen totalitären russischen Systems geworden. Ihre Ablehnung von allem Westlichen ist symptomatisch für die Reinheit des Glaubens! Sie ist nicht einmal bereit, den Kalender zu reformieren, weil der katholische Papst Gregor es angeordnet hat und sie hält weiterhin am julianischen Kalender fest. Aus Prinzip! Auch wenn sie bereits um 14 Tage zurückliegt. Sie wäre bereit, Weihnachten im Sommer zu feiern, nur um ihre Ablehnung des Papsttums zum Ausdruck zu bringen. Nichts davon hat sich geändert, nicht einmal als die Bolschewiki aus praktischen Gründen den gregorianischen Kalender übernommen haben. Die russische Orthodoxie kennt keine praktischen Gründe, sondern nur ideologische. Und die Hauptideologie ist der Hass auf den Westen. Kirchen (auch die katholische Kirche) haben sich nie für Demokratie begeistern können, ihre Strukturen sind totalitär und sie kommen daher besser mit totalitären Regimen zurecht (es war schließlich die katholische Kirche, die als erste den faschistischen Mussolini-Regime im Austausch für den Lateranvertrag anerkannt hat). Putin verbindet mit Kyrill außerdem eine gemeinsame Vergangenheit im KGB und beide sprechen fließend Deutsch (Kyrill liebt Aufenthalte in der Schweiz, wo er sein luxuriöses Anwesen hat). Welche Rolle Putins Beichtvater Tichon, den ihm Kyrill zugewiesen hat, bei derzeitigem Verhalten seines Präsidenten spielt, können wir nur vermuten. Es scheint, dass diese graue Eminenz einen erheblichen Anteil an der Entfachung des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine hatte. Vielleicht hat er Putin einen Platz im Himmel und Vergebung all seiner Sünden versprochen. Und Putin muss sich im Klaren sein, dass er nicht gerade wenige dieser Sünden begangen hat, die er beim jüngsten Gericht zu verantworten haben wird. Aber warum würde Tichon das tun? Also der russische Patriarchat hat die Ausrufung der ukrainischen autokephalen Kirche im Jahr 2018 nie verdaut. Die Ukrainer hatten beim Patriarchen in Konstantinopel (wie die Griechen und orthodoxen Gläubigen Istanbul immer noch nennen) um Autokephalie angesucht und die Konstantinopler Synode hatte ihren Antrag trotz heftiger Proteste aus Moskau positiv beurteilt. Kyrill hat also ein Drittel seiner Gläubigen verloren. Dennoch haben viele orthodoxe Gläubige in der Ukraine weiterhin die Moskauer Priorität akzeptiert (obwohl sich die Priester dieser Kirche weigerten, die in den Kämpfen in Donbas gefallenen ukrainischen Soldaten zu beerdigen) – allerdings nur bis zum 24. Februar 2022. Ab diesem Tag möchte niemand mehr in der Ukraine etwas mit Kyrill zu tun haben. Aussagen wie die, die ich am Anfang meines ersten Artikels zitiert habe, nämlich: “Der russische Soldat ist heute ein Krieger des Lichts, der für die Rettung des wahren Glaubens und Russlands kämpft, er ist buchstäblich ein Kämpfer der himmlischen Armee, hinter der sich Engel unter der Führung des Erzengels Michael befinden”, heben selten die Moral der kämpfenden Truppen an, entschuldigen aber dafür im Voraus alle Verbrechen, die diese “heilige” Armee begehen wird. Ein Verbrecher kann sich nichts mehr als eine absolute Amnestie für alle seine Verbrechen wünschen, die er begehen will. Mit umso größerer Freude begeht er sie dann. Wie die Kreuzfahrer im Jahr 1099 in Jerusalem und die Russen 2022 in Butscha und anderen ukrainischen Städten.

Die orthodoxe Kirche, die Waffen segnet (ihre Priester haben sogar eine Rakete namens “Satan” geweiht, als Beweis für den gegenwärtigen russischen Wahnsinn), wird für die Ewigkeit mit Blut beschmiert werden. Der Glaube der einfachen Russen an die Unfehlbarkeit des Zaren und Patriarchen sowie an die Erlösung durch genaue Erfüllung ihrer Befehle wird sich jedoch wahrscheinlich nicht ändern. Dass der Kriegstreiber Kyrill von der Europäischen Union auf die Liste der sanktionierten Personen gesetzt wurde, war mehr als logisch. Umso erstaunlicher war es, dass Viktor Orban seine Streichung von dieser Liste erpresst hatte, als er mit einem Boykott des Sanktionspakets, dass gegen den russischen Ölimport gerichtet war, drohte. Die Tatsache, dass Calvinisten (also Ungarn) gleich wie orthodoxe Gläubige gesäuertes Brot bei der Messe essen, spielte in seinem Handeln sicherlich keine Rolle. Es ging wahrscheinlich auch nicht um den Aufbau von Orbáns eigenem Ego. Die Anweisung, dass Orbán die Sanktionierung des Oberhaupts der russischen Kirche blockieren sollte, kam zweifellos aus Moskau, wahrscheinlich von Putin selbst. Vielleicht hatte ihm sein Beichtvater Tikhon mitgeteilt, dass die Voraussetzung für seine eigene Erlösung darin besteht, dass Kyrill den Sommer 2022, wie gewohnt, in seiner Residenz in den Schweizer Bergen (umgeben von der ketzerischen Bevölkerung, was ihn erstaunlicherweise nicht stört) verbringen konnte. Umso überraschender war es, dass sich Orbán für ihn so heftig eingesetzt hat und nicht einmal vor der Gefahr seiner eigenen Blamage zurückschreckte. Das wirft die Frage auf, was Putin gegen Onkel Viktor hat und womit er ihn erpressen kann. Worum ging es bei Orbáns Treffen mit Putin in Moskau im Februar 2022 unmittelbar vor dem Beginn der russischen Invasion in die Ukraine?

Alte Freundschaft rostet nicht

Hat Putin Orbán damals die Transkarpaten-Ukraine versprochen? War es so etwas wie der Molotow-Ribbentrop-Pakt und jetzt sitzt Orbán in einer Falle, weil er entweder etwas unterschrieben hat oder sein Gespräch aufgezeichnet wurde? Es wäre denkbar. Vielleicht werden wir es eines Tages erfahren. Patriarch Kyrill kann jedoch dank Orbán seine Schäfchen weiterhin straffrei zum Krieg anstacheln. Und sie werden weiterhin blind gehorchen und morden mit der Erwartung einer Erlösung.

Ohne den Einfluss der Aufklärung ist es nicht möglich, Glauben mit Vernunft zu verbinden. Die Verwendung von Vernunft riecht in Russland nach Heterodoxie, das heißt Ketzerei. Im Westen wurde man im Mittelalter dafür verbrannt. Im Osten geschieht dies bis heute.

Orthodoxie II – das Schizma

Ein einziges Wort reichte aus, um den schwelenden zwischen dem westlichen und dem östlichen Patriarchat Konflikt auszulösen. Das Wort lautete “filioque” und fand seinen Weg in das Glaubensbekenntnis des Westens. Im Nicänischen Glaubensbekenntnis, das als offiziell galt, stand in lateinischer Form “qui ex Patre procedit”, was bedeutet, dass der Heilige Geist vom Vater ausgeht. Irgendwann um das Jahr 400 tauchte in Spanien erstmals die Formulierung “qui ex Patre Filioque procedit” auf, was bedeutet, dass der Heilige Geist vom Vater und gleichzeitig auch vom Sohn ausgeht. Dieses Glaubensbekenntnis empfahl die Synode von Toledo im Jahr 481. Solange sich so etwas am damaligen Ende der Welt im fernen Spanien ereignete, interessierte es niemanden, schon allein deshalb, weil die westgotischen Herrscher, die Spanien beherrschten, Arianer waren, die zur Heiligen Dreifaltigkeit ihre eigene, politisch motivierte Beziehung hatten. Nach dem Arianismus war die Kirche (der Sohn) und der Heilige Geist (die Gelehrsamkeit) dem Vater, also dem Herrscher, untergeordnet. Deshalb liebten die germanischen Herrscher diese Lehre so sehr.

Das Problem entstand erst, als die katholischen Franken begannen, dieses veränderte Glaubensbekenntnis zu verwenden, und der wahre Ärger entstand, als im Jahr 809 Kaiser Karl der Große dieses Glaubensbekenntnis auf den von ihm kontrollierten Gebieten zur Pflicht erklärte. Offenbar wollte er damit den oströmischen Kaiser Nikephoros I. in Konstantinopel provozieren, der bis zum Jahr 812 zögerte, Karls kaiserlichen Titel anzuerkennen und weiterhin darauf bestand, dass er der einzige “Caesar Romanorum” wäre. Papst Leo III., der Karl einst zum Kaiser gekrönt hatte, schwieg zu dieser fränkischen Provokation mit „filioque“ – was blieb ihm auch übrig? Er war vollkommen vom Kaiser abhängig. Er widersprach dem Kaiser nicht, ließ aber zumindest für Sicherheit das Glaubensbekenntnis ohne “filioque” in die Wand der Peterskirche meißeln.

Aber der Geist war bereits aus der Flasche entkommen und begann sein eigenes Leben zu führen.

Erstmalig führte dies zu einem diplomatischen Konflikt am Ende des 9. Jahrhunderts, als sich die Wege der östlichen und westlichen Kirche zum ersten Mal trennten. Es ging wiederum hauptsächlich um die Politik. In Byzanz übernahm der junge Kaiser Michael III. die Macht. Eigentlich herrschte anstatt ihm sein Onkel und Mentor Bardas (Michal interessierte sich vor allem für Trinkgelage und das Verführen der Ehefrauen von Hofbeamten, denen er dann Hirschgeweihe als ein Hinweis schickte, damit der Beamte wusste, dass seine Frau im kaiserlichen Bett lag – so entstand historisch gesehen – das Wort „der Gehörnte“ für betrogene Ehemänner). Bardas entmachtete Michaels Mutter Theodora und ließ ihren ersten Minister Theoktistos ermorden. Aber Patriarch Ignatios stellte sich ihm in den Weg. Er war nicht sehr klug, aber hart und unnachgiebig. Mit ihm zu verhandeln war unmöglich. Bardas ließ ihn also einfach vom Posten des Patriarchen absetzen (es half ihm, dass Ignatios sich beim Amtsantritt zum Patriarchen ernennen ließ, ohne zuvor von einer Bischofssynode gewählt worden zu sein, so dass sein Amt als illegal angesehen werden konnte). Bardas brauchte dringend einen neuen Patriarchen, und wenn möglich einen klugen, gebildeten und loyalen. Seine Wahl fiel auf den größten Gelehrten dieser Zeit, Fotios, genannt „Philosoph“ oder auch „Der Große“.

Er war der berühmteste Professor an der Universität von Konstantinopel. Er war auch ein Kollege, Freund und Mentor des slawischen Apostels Konstantin – Kyrill, er war es, der die Brüder von Saloniki, Kyrill und Methodius, nach Großmähren als Missionäre schickte. Das kleine Hindernis bei seiner Ernennung zum Patriarchen war die Tatsache, dass Fotios ein Laie war und keine Priesterweihe hatte. In Byzanz wurde dieses Problemchen auf ihre spezifische Weise gelöst. Fotios erhielt in vier Tagen alle vier notwendigen Weihen und übernahm das Amt. Aber dann kam Papst Nikolaus I. ins Spiel. Er wurde gerade im Jahr von Fotios’ Inauguration gewählt und wollte Stärke zeigen. Mit Verweis auf die Schnelligkeit von Fotios’ Weihe lehnte Nikolaus Fotios als Konstantinopler Patriarchen ab. Damit erhob er offiziell Anspruch nicht nur das Oberhaupt der Kirche, sondern auch ein Schiedsrichter zu sein, der das Recht hat, die Ernennung anderer Patriarchen zu bestätigen. Also ein Privileg, das traditionell nur dem Kaiser vorbehalten war. Aber Nikolaus fühlte sich bereits über Könige und Kaiser erhoben. Nikolaus erklärte Fotios im Jahr 863 für abgesetzt und installierte erneut Ignatios, was jedoch in Konstantinopel niemanden interessierte. Nach einem Austausch von verärgerten Briefen berief Fotios in Konstantinopel ein Konzil und lud alle Patriarchen außer den Römischen ein. Wenn Nikolaus auf dem politischen Gebiet kämpfte, antwortete Fotios, wie es in Griechenland üblich war, mit Gelehrsamkeit.

Das Konzil beschuldigte den Papst der Ketzerei, genau deshalb, weil er angeblich im Glaubensbekenntnis das Wort “Filioque” verwendet und beschuldigt ihm auch, diese ketzerische Lehre in der neuen Kirchenprovinz in Bulgarien zu verbreiten. Weil dieses Glaubensbekenntnis in Rom im Gegensatz zum Frankenreich nicht verwendet wurde, war dies nicht wahr, die Wahrheit interessierte aber niemanden. Das Konzil erklärte Nikolaus für einen Ketzer und schloss ihn aus der Kirche aus. Bevor den Papst von Wut der Schlag treffen konnte, kam es in Konstantinopel zu einem politischen Umsturz. Der Liebhaber (ursprünglich ein Stallknecht) des Kaisers Michael Bazileos ermordete Bardas und nach ihm auch den Kaiser und erklärte sich selbst zum „Caesar Romanorum“. Um den Papst zu besänftigen und seine sehr fragliche Legitimität bestätigt zu bekommen, rief er Fotios aus dem Amt ab und setzte Ignatius ein. Nikolaus starb im selben Jahr mit dem Gefühl, gute Arbeit geleistet zu haben.

Aber Bazileos’ Loyalität zu Rom war nicht von Dauer. Er hatte bereits seine Titelbestätigung erhalten und so ernannte er nach Ignatius’ Tod im Jahr 877 zum Erstaunen von Papst Johannes VIII. Fotios erneut zum Patriarchen. Was Bildung und diplomatische Fähigkeiten betraf, hatte er nämlich im ganzen Reich keinen besseren Mann. Fotios berief in den Jahren 879-880 ein Konzil nach Konstantinopel, das durch versöhnliche Formulierungen den zwölf Jahre alten Streit überwand. Der Papst benötigte dringend die byzantinische Flotte zum Schutz Roms vor den Arabern und entschied sich daher, die Sache nicht eskalieren zu lassen und vorläufig nicht mehr in die Souveränität des Konstantinopeler Patriarchats einzugreifen. Fotios ließ jedoch das Glaubensbekenntnis ohne das „Filioque“ bestätigen, und alle fünf Patriarchen sowie die Gesandten von Papst Johannes stimmten dieser Formulierung zu. Der Streit wurde auf der Oberfläche gelöst, es brodelte allerdings weiter in der Tiefe. Das erste Schisma, also die Spaltung der Kirche, wurde vorerst vermieden. Aber die Spannungen zwischen Ost und West wuchsen weiter. Es ging nicht nur um den Glauben, die entgegengesetzte Richtung des Kreuzens oder den Verzehr von gesäuertem (Osten) und ungesäuertem (Westen) Brot bei der Messe. In diesem Punkt bezog sich der westliche Teil der noch einheitlichen Kirche auf Jesus, der für seine Jungen bei dem letzten Abendmal gemäß der jüdischen Tradition, natürlich ungesäuertes Brot brach. Die Griechen jedoch beriefen sich auf die Tradition des heiligen Paulus (1.Kor 5.6), der die Verwendung von gesäuertem Brot einführte, mit der Begründung, dass “Christen wie Sauerteig sind, der den Teig der Gesellschaft durchsäuert wie das Brot und es besser und schmackhafter macht.”

Im Gebiet des römischen Reiches der deutschen Nation oder im westlichen römischen Reich wurde gemäß dem Befehl seines Gründers Karl weiterhin das Glaubensbekenntnis mit dem „Filioque“ verwendet, das im Jahr 1013 vom Papst Benedikt VIII. als einzig richtig anerkannt wurde. Ihm ging es im Wesentlichen nur darum, Hilfe von den Soldaten des Kaisers Heinrich II. zu bekommen, der später zum Heiligen erklärt wurde, obwohl er den Spitznamen “der Zänker” erhielt, also ein Streithahn oder Randalierer sein musste. (Seine Heiligkeit wurde ihm wahrscheinlich durch die Phimose der Vorhaut beschert, die ihm den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau Kunigunde, die ebenso heilig wurde,  unmöglich machte.) Der Kaiser kam tatsächlich im Jahr 1014 nach Italien und ließ sich vom Papst krönen. Der Papst sah damals die Hauptbedrohung durch die Byzantiner, die den Süden der Apenninenhalbinsel kontrollierten.

Das „Filioque“ wurde also erstmals auch in Rom in das Glaubensbekenntnis aufgenommen, aber solange darüber diskret geschwiegen wurde, lief alles weiter. Es durfte nur kein Dummkopf in die Führung einer der konfliktträchtigen Parteien gelangen. Wir wissen, dass ein initiativer Trottel gefährlicher als ein Klassenfeind (oder ein Parteifreund) ist. Aber in Konstantinopel passierte im Jahr 1043 gerade das. Zum Patriarchen wurde ein bestimmter Michael Kerullarios ernannt, ein eingeschränkter Bürokrat mit unzureichender theologischer Ausbildung und nur rudimentären Kenntnissen der Kirchengeschichte.

Überraschenderweise gelang es ihm trotz seiner etwas begrenzten Intelligenz (oder gerade wegen ihr), eine große Popularität beim byzantinischen Volk zu erlangen. In Süditalien entflammten die Konflikte erneut. Vor vierzig Jahren suchten die Päpste noch in den Normannen – Einwanderern aus dem europäischen Norden – Verbündete gegen Byzanz, jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Papst Leo IX., mit dem ursprünglichen Namen Bruno von Egisheim-Dagsburg in Elsass, also einer der wenigen Deutschen auf dem Papstthron, suchte gegen den normannischen Druck eine Allianz mit Byzanz.

Leo IX

Eine solche Allianz stand jedoch im Widerspruch zum dogmatischen Patriarchen. Er beschuldigte den Papst, dass er auf dem von den Normannen eroberten Gebiet lateinische Bräuche mit ungesäuertem Brot einführte und die dortigen Menschen zum Glaubensbekenntnis mit dem „Filioque“ zwang. Er befahl sofort allen lateinischen Klöstern im Gebiet des Byzantinischen Reiches, zum griechischen Ritus überzugehen, sonst würden sie geschlossen werden. Der Papst antwortete versöhnlich (er brauchte unbedingt militärische Hilfe von Byzanz) und argumentierte, dass im Westen in griechischen Klöstern griechische Riten toleriert werden.

Der Kaiser Konstantin IX. strebte nach Versöhnung und zwang schließlich den Patriarchen, einen versöhnlichen Brief an den Papst zu schreiben. Dieser tat es widerwillig, obwohl er sich kleine Provokationen nicht verkneifen konnte, wie zum Beispiel den Papst als “Bruder” anstatt “Vater” anzusprechen, wie es das Protokoll vorschrieb.

Die Normannen waren jedoch geschickte Kämpfer. Sie verhinderten das Zusammenkommen der päpstlichen und byzantinischen Streitkräfte und besiegten am 18. Juni 1053 das päpstliche Heer bei der Stadt Civitate. Der Papst geriet sogar für mehrere Monate in ihre Gefangenschaft. Der Papst befand sich dadurch in einer emotional schwierigen Situation. Noch voller Groll schrieb er zwei Briefe, einen an Kerullarios und einen an den Kaiser, und schickte drei Gesandte mit ihnen nach Konstantinopel. Bei der Wahl der Gesandten hatte er außerordentlich unglückliche Hand. Die Leitung wurde dem Papstsekretär Humbert von Moyenmoutier anvertraut, der befangen und für seinen Hass auf alles Griechische bekannt war. An seiner Seite standen Kardinal Friedrich von Lothringen und Erzbischof Peter von Amalfi, die beide bei Civitate kämpften und überzeugt waren, dass die Byzantiner sie absichtlich in der verlorenen Schlacht im Stich gelassen hatten.

Die Delegation kam im April 1054 in Konstantinopel an und es lief von Anfang an einfach nicht gut. Kerullarios verstand die Antwort des Papstes auf seinen versöhnlichen Brief als Beleidigung. Die Legaten, die sich in Diplomatie nicht auskannten und den höflichen Empfang beim Kaiser (wie es das griechische Protokoll vorschrieb), als kaiserliches Bündnis in ihrem Feldzug gegen den Patriarchen interpretierten. Sie veröffentlichten also einen Brief, den Papst Leo in größter Aufregung geschrieben hatte und den er dann nicht zu senden wagte (aber sein Sekretär hatte seinen Text dabei). Auf diesen Brief antwortete der Mönch Niketas Stethatos im Namen von Kerullarios so scharf, dass die Legaten jede Kontrolle übere ihre Emotionen verloren haben. Humberts Gebrüll, durchsetzt mit vulgären Schimpfwörtern, beraubte die päpstlichen Gesandten jeglicher Autorität. In den Straßen von Konstantinopel demonstrierten Menschenmengen gegen die Päpstlichen, der kranke Kaiser Konstantin verlor die Kontrolle über die Entwicklung. Kerullarios jedoch vergaß in diesem sensiblen Moment nicht, “filioque” als Beweis für römische Ketzerei ins Spiel zu bringen.

Zu dieser Zeit kam die Nachricht vom Tod von Papst Leo IX. Seine Legaten verloren dadurch jegliche Befugnis und sollten sofort nach Rom zurückkehren. Der wütende Humbert jedoch berücksichtigte das nicht. Am 16. Juli 1054 marschierten während einer Messe, die der Patriarch persönlich leitete, alle drei Legaten in die Hagia Sophia und legten auf dem Altar eine Exkommunikationsbulle nieder, mit der sie den Patriarchen von Konstantinopel aus der Kirche ausschlossen. Zwei Tage später verließen sie Konstantinopel.

Wenn der Patriarch ein Gelehrter wie Photios gewesen wäre, hätte er die Sache zu seinen Gunsten gedreht. Er hätte die Inkompetenz der Legaten und die Unsinnigkeit ihrer Exkommunikationsbulle nachgewiesen und sich wahrscheinlich mit einer entsprechenden Entschuldigung aus Rom ihre Aufhebung erzwungen. Unabhängig von der Tatsache, dass die Legaten nach dem Tod des Papstes, der sie nach Konstantinopel geschickt hatte, kein Mandat hatten, war das Dokument so schlecht geschrieben und mit so vielen sachlichen und rechtlichen Fehlern versehen, dass Historiker bis heute erstaunt sind, wie ein Mensch mit Humberts Bildung so ein schlechtes Pamphlet schreiben konnte. Wahrscheinlich hat ihm seine Wut den Verstand vernebelt. Ein fähiger Anwalt hätte alle dort genannten Argumente leicht widerlegen und das Dokument als unsinnig und irrelevant erklären können. Aber der Patriarch war eben Michael Kerullarios, der nicht allzu viel Verstand hatte. In der ganzen Stadt fanden Demonstrationen zu seinem Gunsten statt und in diesem Machtrausch tat er nichts Besseres, als den römischen Papst (der zu diesem Zeitpunkt bereits im Grab ruhte und mit der Exkommunikation des Patriarchen nichts zu tun hatte) zu exkommunizieren.

Im Sommer 1054 stießen in Konstantinopel also zwei Dummköpfe aufeinander und wie wir wissen, ist eine solche Kollision mit einem Dummkopf immer gefährlich. Der bereits fragile Bau der Universalkirche überlebte diese Kollision nicht und brach auseinander. Das Schisma, also die Spaltung zwischen der westlichen und der östlichen Kirche, entstand also aus menschlicher Dummheit, wie es bei historischen Ereignissen von entscheidender Bedeutung viel zu oft der Fall ist. Ironischerweise hatten weder Humbert noch Kerullarios eine Kirchenspaltung im Sinn und die Exkommunikation hatte für sie nur eine rein persönliche Bedeutung. Wenn nach Leo IX. und Kerullarios Menschen mit Weitblick in den Ämtern gewesen wären, hätten sie alles noch in Ordnung bringen können.

Es sollte aber anders kommen. Kaiser Konstantin IX., enttäuscht von menschlicher Dummheit und schwer krank, zog sich zurück und starb am 11. Januar 1055. Da er keinen legitimen Sohn hatte, herrschte in Byzanz nach seinem Tod ein Chaos. Auf dem römischen Papstthron folgte nach Viktor II., der seiner Aufgabe absolut nicht gewachsen war, im Jahr 1057 Stephan IX, niemand anders als Friedrich von Lothringen, also einer der Legaten, die für die Kirchenspaltung im Jahr 1054 verantwortlich waren.

Also hat niemand versucht, das Problem zu lösen, es wurden keine diplomatischen Schritte unternommen. Kaiser Konstantin Dukas hatte schließlich genug von Kerullaios’ Exzessen.  Er stürzte ihn im Jahr 1058 und verbannte ihn aus Konstantinopel, der Riss im Bau der Kirche konnte aber nicht mehr geheilt werden. Das „Filioque“ wurde auf Anregung von Papst Innozenz III. offiziell auf dem 4. Laterankonzil im Jahr 1215 in das Glaubensbekenntnis aufgenommen. Danach gab es kein Zurück mehr.

Die Exkommunikation von Kerrulaios wurde erst 1965 von Papst Paul VI. aufgehoben. Über das, was danach geschah und wie der Konflikt zwischen West und Ost von Griechenland nach Russland überging, wo er bis heute andauert, werden wir das nächste Mal in dem letzten Teil dieser Erzählung sprechen.

Orthodoxie I

“Ein russischer Soldat ist heute ein Krieger des Lichts, der für die Rettung des wahren Glaubens und Russlands kämpft. Er ist buchstäblich ein Krieger der himmlischen Armee, deren Streitkräfte von Engeln unter der Führung des Erzengels Michael stehen. “

Einen ähnlichen Text (ohne Erwähnung Russlands) hätte ich vom Papst Urban erwartet, als er im Jahr 1096 den ersten Kreuzzug ins Heilige Land verkündete. Aber dieser Aufruf ist fast tausend Jahre jünger, im März 2022 rief der Moskauer Patriarch Kirill I. auf diese Weise russische Soldaten in den Kampf und bezeichnete die Kräfte, die gegen diese himmlische Armee die Ukraine verteidigten, als “außerirdische höllische Kräfte, die gegen den wahren Glauben und russische Soldaten kämpfen”.

Wenn dies wie ein schlechter Witz scheint, handelt es sich um eine falsche Schätzung. Wenn man die Aussagen des obersten geistlichen Leiters der russischen Kirche als völligen Verrat an der Botschaft des Evangeliums bewerten, hat man allerdings Recht.

Um das Unverständliche zu verstehen, müssten wir uns die Geschichte ansehen. Ich möchte meine Leser sehr weit zurück bis zu den Ursprüngen der Kirche und ihrer Spaltung führen. Da es sich um eine lange Reise handelt, wird es darüber wahrscheinlich gleich eine Artikelserie geben, daher bitte ich um Ihre Geduld. Aber das Thema könnte so interessant und heutzutage auch hochaktuell sein, dass es die Leser hoffentlich nicht langweilen würde.

Zunächst muss erklärt werden, was das Wort Orthodoxie im russischen Verständnis bedeutet. Der Ausdruck stammt aus dem Griechischen und bedeutet “der wahre Glaube”. Das bedeutet, dass jeder, der anders glaubt, “Heterodoxie” begeht, was dasselbe wie Häresie oder Ketzerei ist. In diesem Sinne ist Papst Franziskus für orthodoxe Gläubige ein Ketzer, ganz zu schweigen von Protestanten.

Die christliche Kirche entstand im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung als ungleichartige Mischung von Gemeinden in den Städten des Römischen Reiches. An der Spitze der Gemeinden standen gewählte Bischöfe, die zunächst tatsächlich nur die Aufgabe hatten, die Heilige Schrift zu predigen und sich um die Mitglieder der Gemeinschaft zu kümmern. Aber schon im dritten Jahrhundert begannen sich Unterschiede zwischen Westen und Osten des Römischen Reiches zu zeigen. Während der Osten relativ stabil blieb und eine funktionierende Infrastruktur und Verwaltung hatte, zerfiel im Westen die Infrastruktur in Folge des Drucks der Germanen und Hunnen Ab dem vierten Jahrhundert wurden die Bischöfe gezwungen, auch organisatorische Aufgaben zu übernehmen und im Grunde genommen die Funktion der römischen Verwaltung zu ersetzen – das bekannteste Beispiel war der Mailänder Bischof Ambrosius.

Seit dem Jahr 313, als Kaiser Konstantin das Christentum mit der traditionellen römischen Religion gleichgestellt hat, konnten Christen aus der Illegalität herauskommen und ihre Rituale frei ausüben. Im Jahr 325 fand unter der Leitung eines heidnischen Kaisers (Konstatins I.) das erste Konzil von Nicäa statt, das unter anderem das Glaubensbekenntnis festlegte, das wir bis heute beten – mit einem kleinen Unterschied über den noch gesprochen werden wird. Die offizielle Kirche brauchte eine feste Struktur. Das Konzil von Konstantinopel im Jahr 381 und das Konzil von Chalcedon im Jahr 451 bestimmten die Hauptverwaltungseinheiten der Kirche, und Kaiser Justinian legte diese Aufteilung in fünf Patriarchate in der Mitte des sechsten Jahrhunderts per Gesetz fest.

Es handelte sich um:

  • Das westliche Patriarchat, gegründet von den Aposteln Petrus und Paulus mit Sitz in Rom
  • Das Patriarchat von Konstantinopel, gegründet vom Apostel Andreas
  • Das Patriarchat von Alexandria, gegründet vom Evangelisten Markus
  • Das Patriarchat von Antiochien, gegründet vom heiligen Petrus
  • Das Patriarchat von Jerusalem, gegründet von allen Aposteln.

Entsprechend der Entscheidung des Kaisers sollte kein Patriarch einem anderen untergeordnet sein. Der römische Patriarch hatte nur das Recht, als erster auf der Liste zu stehen. Aber der römische Bischof hatte gleich eine Reihe von Vorteilen. Einerseits hatte er seinen Sitz in der traditionellen Hauptstadt des Reiches, andererseits konnte er sich auf direkte Nachfolge des heiligen Petrus berufen, der laut Tradition der erste römische Bischof war und von Christus persönlich mit der Leitung der Kirche beauftragt wurde. Zukünftige Päpste werden diese Karte sehr geschickt ausspielen und politisches Kapital daraus schlagen. Formal waren also alle diese Patriarchate gleich, aber in Wirklichkeit hatten die ersten beiden eine entscheidende Position. Nach der Teilung des Römischen Reiches in das Oströmische und das Weströmische Reich waren Patriarchen von Rom und Konstantinopel im Vorteil, weil sie den regierenden Kaisern nahestanden. Der Patriarch von Alexandria konnte ihnen noch in gewissem Maße Konkurrenz machen, da Alexandria ein Zentrum der Bildung war, sowohl der ehemaligen heidnischen als auch der späteren christlichen. Aber der Kaiser war der Kaiser und die Bischöfe waren seine Diener, einschließlich der höchsten Bischöfe, also der Patriarchen. Drei dieser fünf Patriarchate, Alexandria, Antiochia und Jerusalem, verloren in der ersten Hälfte des siebten Jahrhunderts ihre Bedeutung, als diese Gebiete von Arabern erobert wurden und der Islam hier das Christentum ablöste. Es blieben lediglich zwei Machzentren, und das ist nie gut. Zu zweit können keine Koalitionen gebildet werden, es kann nur ein Kampf auf Leben und Tod geben – oder ein Zusammenleben in Frieden und Harmonie. Leider entspricht die menschliche Natur eher der ersten Variante.

Es blieben also Rom und Konstantinopel. Diese beiden Patriarchen lebten jedoch unter unterschiedlichen Bedingungen und hatten daher unterschiedliche Aufgaben. Im Osten blieb der Kaiser in Konstantinopel und der dortige Patriarch hatte die Rolle seines Hofkaplans. Der Kaiser schätzte vor allem Loyalität. Das Kirchenoberhaupt war zu dieser Zeit nur der Herrscher, also der Kaiser, der Patriarch war sein engster Diener, den der Kaiser nach Belieben absetzen konnte – wie es zum Beispiel dem Patriarchen Fotios dem Großen im neunten Jahrhundert gleich mehrmals passierte. Der Patriarch von Konstantinopel war also von der Gnade seines Herrschers abhängig.

 In Rom war es anders. Schon Kaiser Diokletian hatte 286 neben Rom Mailand als weiteren Regierungssitz festgelegt und die Kaiser zogen tatsächlich dorthin. 402 änderte Kaiser Honorius wieder einmal seine Hauptstadt und zog nach Ravenna, die im Gegensatz zu Rom oder Mailand als uneinnehmbar galt. Der Papst blieb jedoch weiterhin in Rom (durch einen Umzug außerhalb der Stadt, wo der heilige Petrus seine Mission gegründet hatte, hätte er seine Legitimität verloren) und musste sich daher zunehmend in der weltlichen Politik engagieren. Einfach gesagt, er musste die Hausaufgaben für den abwesenden Kaiser machen.

Historiker sind sich nicht einig, welchen der römischen Bischöfe man als ersten Papst, also weltlichen Herrscher, betrachten soll. Sie zögern zwischen Innozenz I. (401-417) und Leo I. dem Großen (440-461). Beide haben jedoch eine Gemeinsamkeit. Beide erlebten die Eroberung und Plünderung Roms (Innozenz im Jahr 410 durch den Einfall der Westgoten, Leo im Jahr 455 durch die Verwüstungen der Stadt durch die Vandalen) und mussten sich um das leidende Volk kümmern, während der Kaiser in Ravenna verschanzt war. Dies verlieh ihnen Legitimität als weltliche Herrscher der Stadt, aber auch Ansehen außerhalb der Stadtgrenzen. Als Leo I. im Jahr 451 seinen Hirtenbrief an das Konzil von Chalcedon schickte, erschien in der Resolution des Konzils der Satz: “Petrus sprach durch den Mund von Leo.” Dies wurde im Westen als Anerkennung der führenden Rolle des römischen Bischofs in der christlichen Kirche interpretiert.

Leo I der Große

Während die Päpste Schritt für Schritt ihre Machtposition aufbauten, versank der Osten in Glaubensstreitigkeiten. Dies war durch kulturelle Unterschiede vorherbestimmt. Während die Griechen lange Diskussionen liebten, in denen sie Rhetorik schärften, neue Ausdrücke für ihre Sprache erfanden und es mehr um ihre Verherrlichung als um das Ergebnis des Streits ging, hasste man im Westen lange Diskussionen. Sie hielten vom praktischen Leben ab und Latein war dafür übrigens nicht wirklich geeignet. Es war immer die Sprache der Beamten und nicht der Philosophen. Darüber hinaus verfiel die Kenntnis des Lateinischen nach dem Fall des Römischen Reiches. Das mittelalterliche Latein ähnelte Ciceros Sprache nur wenig und war viel primitiver. Philosophen wie Boethius waren in Italien eine absolute Ausnahme, während sie in Griechenland das kulturelle Bild bestimmten.

Im Wesentlichen stammten mit Ausnahme von Papst Gregor dem Großen (590-604) alle Kirchenlehrer aus dem Osten. Hier hatten sie in einer relativen Ruhe die Zeit, sich mit Glaubensfragen zu beschäftigen, während der Westen um das nackte Überleben kämpfte. In die Kirchengeschichte haben sich vor allem Gregor von Nazianz (329-389), Basilius der Große (330-379) und Johannes Chrysostomus (347-407) eingeschrieben, wobei letzterer nicht einmal von seiner Gelehrsamkeit oder Beredsamkeit politisch profitieren konnte. Er geriet in Ungnade des Kaisers und starb im Exil. Aber im Osten wirkten nicht nur Kirchenlehrer, sondern auch Verfechter von Strömungen, die in weiterer Folge für ketzerisch erklärt wurden. Die bekannteste von ihnen war wohl die Lehre von Arius von Alexandria (260-327). Der gebildete Philosoph bemühte sich, Glauben und Vernunft zu vereinen und den grundlegenden Widerspruch des christlichen Glaubens – die Dreieinigkeit Gottes – logisch zu erklären. Seine Lehre zog besonders die gebildeten Schichten an, aber erstaunlicherweise auch die Häuptlinge der germanischen Stämme. Zum einen wuchsen germanische Fürsten meist als Geiseln am kaiserlichen Hof in Konstantinopel auf, zum anderen wirkte unter den Germanen der Mönch Wulfila, der zu ihren Völkern das Christentum in der arianischen Form brachte. Und Arius’ Lehre festigte die Stellung des Herrschers, was für die Häuptlinge praktisch war. Aber dazu später mehr. Mit Ausnahme der Franken wurden alle Germanen Arianer. Für das einfache byzantinische Volk war Arius’ Lehre jedoch zu kompliziert. Zuerst geriet er mit dem alexandrinischen Patriarchen Alexander in Streit, dann auch mit dem Patriarchen von Konstantinopel, Athanasios (295-373). Arius’ Lehre wurde auf dem Konzil von Nicäa im Jahr 325 verurteilt, er selbst überlebte seine Verurteilung nur um zwei Jahre.

Als Papst Leo I. der Große seine Anerkennung als erster unter den Bischöfen erlangte, befand sich der Osten in einem weiteren Konflikt. Es handelte sich um den von dem Mönch Eutyches verkündeten Monophysitismus. Diese Lehre leugnete die menschliche Natur von Jesus Christus und schrieb ihm nur eine, nämlich die göttliche Natur zu. Patriarch Flavianus bemühte sich vergeblich, diese Lehre zu unterdrücken, er tat sich schon deshalb schwer, weil die Lehre Kaiser Theodosius II. gefiel. Auf der Synode von Ephesus im Jahr 449 wurde der Patriarch sogar brutal verprügelt und seines Amtes enthoben. Erst das Konzil von Chalcedon im Jahr 451 brachte Ordnung und hier engagierte sich – auf der Seite des Patriarchen – auch der römische Bischof. Er übernahm also erstmals das Recht, über Glaubensfragen zu entscheiden, über die bisher immer nur Konzile unter dem Vorsitz des Kaisers entschieden hatten. Das Papsttum begann den Weg der Emanzipation, von der der Patriarch von Konstantinopel nur träumen konnte. (Auf der anderen Seite wurde seine Stadt nicht von den wilden Vandalen geplündert). Es gab jedoch zur Unabhängigkeit der Päpste noch einen langen Weg. Papst Johannes I. (523-526) sollte darüber belehrt werden. Der oströmische Kaiser Justinian verbot das Arianertum und befahl die Verfolgung der Anhänger dieser Lehre. Das gefiel dem ostgotischen König Theoderich, der selbst Arianer war, gar nicht. Er schickte Johannes nach Konstantinopel, um beim Kaiser die Aufhebung des Edikts zu erreichen. Johannes wurde in Konstantinopel als eigentlicher Kirchenführer begrüßt (er war der einzige römische Papst in der Geschichte, der nach Konstantinopel reiste). Er wagte es jedoch nicht, das Problem des Arianismus nur anzusprechen, und nach seiner Rückkehr nach Ravenna ließ ihn der wütende König Theoderich ins Gefängnis werfen, wo der Kopf des westlichen Christentums 526 starb.

Das achte Jahrhundert war für beide Teile der Kirche bestimmend. Im Osten ging es wieder um Glaubensfragen, im Westen um den Aufbau des päpstlichen Reiches. Kaiser Leo III. (717-741) erließ im Jahr 730 ein Edikt zur Zerstörung der Bilder von Jesus-, Maria- und Heiligen. Das Zeitalter des sogenannten Bildersturms begann. Leo ließ sich offensichtlich vom Islam inspirieren, mit dem er sonst permanent Kriege führte. Es ging ihm aber vor allem um die Schwächung der Macht von Klöstern, Kirche und damit auch des Patriarchen. Der Kaiser stützte sich auf den Text des Alten Testaments. Im zweiten Buch Mose, Exodus, heißt es: “Du sollst dir kein Bild von Gott machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist. Du sollst dich vor nichts Derartigem niederwerfen oder ihnen dienen.” Derselbe Text wird dann im fünften Buch Mose (Deuteronomium) wiederholt. Übrigens ließen sich die Muslime bei ihrem Verbot der Darstellung lebender Kreaturen genau von diesem Text inspirieren – der Koran ist nämlich zum großen Teil eine Neuinterpretation des Alten Testaments.

Verehrer von Heiligenbildern stützten sich auf den Text von Johannes von Damaskus, der schrieb: “Da Gott in Jesus Christus Fleisch geworden ist und eine konkrete menschliche Gestalt angenommen hat, ist seine körperliche Darstellung möglich. Heilige verkörpern auf eine bestimmte Weise den Heiligen Geist.” Der Kampf um die Anbetung von Heiligenbildern dauerte bis 843. In der ersten Phase vertraten Kaiser Leo III., sein Sohn Konstantin V. und sein Nachfolger Leo IV. eine harte Linie gegen die Bilder und damit auch gegen die Kirche. Aber Leo IV. starb zu früh, und seine Frau Irene, die die Anbetung von Bildern begünstigte, übernahm die Regentschaft für seinen kleinen Sohn Konstantin VI. Die zweite Phase begann mit Kaiser Leo V. (813-820) und setzte sich sowohl bei seinem Sohn Michael II. als auch bei seinem Nachfolger Theophilos fort. Aber die Geschichte wiederholte sich. Theophilos starb, als sein Sohn Michael drei Jahre alt war, die Kaiserin Theodora übernahm die Regentschaft. Sie rief 843 eine Kirchensynode in Konstantinopel ein und beendete endgültig die Zeiten des Bildersturms. Orthodoxe Gläubige lassen sich deshalb ihre Liebe zu Heiligenbildern nicht nehmen. Das Küssen von Heiligenbildern ist ein Teil des Kirchenbesuchs in Russland, Griechenland oder Serbien, obwohl dieser Brauch die Hygieniker ekelt. Wir sahen dasselbe in Griechenland auf dem Lykabettus in Athen wie in St. Petersburg. Dort stand zumindest vor dem Bild der von Bolschewiki ermordeten kaiserlichen Familie Nikolaus II., die zu heiligen Märtyrer erklärt wurde, eine Dame in Arbeitskleidung und mit einer Flasche Alkohol in der Hand und wusch nach jedem Kuss das Bild, damit ein nächster Interessent, die in einer langen Schlange warteten, es küssen konnte.

Die Anbetung von Bildern wurde zu einem integralen Bestandteil der orthodoxen Glaubenspraxis, gerade weil die Gläubigen sie in einem hundertjährigen blutigen Kampf erkämpft haben, der viele Märtyrer forderte. Zur gleichen Zeit hatte Papst Stephan II. in Rom völlig andere Sorgen. Rom litt unter ständigen Angriffen der Langobarden, die unter dem Vorwand einer besseren Religion (sie waren Arianer) seit Jahrhunderten immer wieder die katholischen Römer angriffen. Papst Stephan suchte Hilfe beim fränkischen  – katholischen – König „Pipin dem Kurzen“ und er fand sie. Als Dank dafür, dass ihn der Papst zum König krönte und damit die Herrschaft der Merowinger in dem Frankenreich beendete, fiel Pipin in Italien ein und zwang die Langobarden, dem Papst umfangreiche Gebiete des ehemaligen byzantinischen Exarchats von Ravenna zu überlassen. Dieses “Pipinische Schenkung” vom Jahr 756 machte den Papst endgültig zum weltlichen Herrscher. Dabei stützte sich dieses “Recht auf das Eigentum des heiligen Petrus” auf eine unverschämte Fälschung namens “Constitutum Constantini”, die Stephan offenbar genau zu diesem Anlass herstellen ließ. In diesem Dokument, das Nikolaus von Kues im 15. Jahrhundert als Fälschung entlarvte, handelte es sich um eine Schenkungsurkunde des Kaisers Konstantin des Großen, der den Nachfolgern des heiligen Petrus umfangreiche Gebiete in Zentralitalien schenken sollte. Während also die Christen im Osten darüber stritten, ob man sich vor den Bildern der Heiligen verbeugen und sie küssen sollte, baute der Papst im Westen eine vielversprechende Machtposition auf, die er dann weiter ausbauen konnte, als Leo III. am 25. Dezember 800 überraschenderweise Karl dem Großen, dem Sohn von Pipin, die Kaiserkrone auf den Kopf setzte und damit das Weströmische Reich wiederherstellte. Der neue Kaiser nahm – vielleicht ungewollt und unerwartet – seine Krone aus den Händen des Papstes entgegen, und die Päpste rechtfertigten damit in Zukunft ihr Alleinrecht, die Kaiser krönen zu dürfen und damit über ihre Berechtigung dieses Amt zu bekleiden zu entscheiden. Während also im Osten der Kaiser darüber entschied, wer Patriarch werden würde, war es im Westen der Patriarch, der darüber entscheiden wollte, wer das Recht hatte, Kaiser zu werden. Während die östliche Kirche sich auf die Verteidigung der Reinheit des Glaubens konzentrierte, baute das Oberhaupt der Kirche im Westen zielstrebig seine Machtposition aus.

Die Konfrontation dieser beiden Konzepte war unvermeidlich und würde bald eintreten. Aber darüber das nächste Mal.

Bremen II

Die legendäre Bötchergasse betritt man unter einem goldenen Relief des „Lichtbringers“.

Diese enge Gasse, wo einmal Fässer für den Transport des gesalzenen Fisches erzeugt wurden und nach der Verlegung des Hafens zu verfallen drohte, hat ein bestimmter Ludwig Roselius gerettet. Er kaufte ein Haus nach dem anderen, er ließ sie restaurieren und schmücken. Die größte Kuriosität, die Touristen hierher lockt, ist das Glockenspiel mit dreißig Meißener Porzelanglocken am Haus, das nach ihm seinen Namen trägt.

Es gibt hier aber auch zum Beispiel das „Haus der Sieben Faulen“. Diese sieben Brüder bewiesen, dass die Faulheit der Antrieb des Fortschritts der Menschheit ist, weil sie einen Brunnen bohrten, um nicht das Wasser durch Schlamm aus der Weser nach Hause zu tragen oder Bäume im Garten pflanzten, um nicht aus dem Wald das Holz schleppen zu müssen. Die Häuser in der Gasse sind alle schön, wie St. Petri Haus, das nach dem Patron der Fischer benannt wurde, das Paula Modersohn-Becker Museum, ein Meisterwerk des Expressionismus oder letztendlich das Roseliushaus, genannt nach dem Mäzen, in dem man auch seine Sammlungen besichtigen könnte.

               Entlang des Flusses gibt es eine schöne Promenade „Große Schlachte“, wo wir geräucherte Makrelen aßen und über eine Brücke die Insel Teerhof besuchen konnten.

Die Insel schaut bereits vom Ufer schön aus. Die Häuser auf der Insel wurden im zweiten Weltkrieg vollständig zerbombt, die Bremer bauten hier nach dem Krieg Häuser mit Luxuswohnungen in einem einheitlichen Stil der mittelalterlichen Schiffkontoren. Dann gingen wir in den romantischen Teil der Altstadt, genannt Schnoor. Der Name stammt aus dem Wort „Schnur“, weil sich die Häuser hintereinander, wie die Perlen auf einer Schnur, reihen. Es gibt hier viele Geschäfte, Souvenirs Shops, kleine Werkstätte und kleine Restaurants. Es gibt hier auch das kleinste Hotel der Welt. Dieses Hochzeithotel hat nur einen Raum für die Neuvermählten. Es gibt hier auch eine kleine Küche, damit sich die Braut nach der Hochzeitsnacht gleich als Köchin und Hausfrau bewähren könnte.

               Hinter dem Wall, mit dem die Altstadt umgeben ist, beginnt das so genannte „Viertel“, wo sich das Kulturleben der Stadt konzentriert. Neben der Kunsthalle und dem Theater auf dem Goetheplatz gibt es hier Geschäfte, Restaurants, Bars und alles, was zum Kulturleben gehört.

Das so genanntes „Universum“, ein Gebäude, das an einen großen silbernen Wal erinnert, befindet sich in der Nähe der Universität. Wahrscheinlich deshalb gibt es hier Ausstellungen und Programme mit Bildungsambitionen. Für Kinder ist das sicher faszinierend, aber um die Wahrheit zu sagen, es gab auch für uns einiges Neues, was wir dort erfahren konnten.

               Allerdings – man hat Bremen nicht besucht, solange man nicht im Botanischen Garten, also in einem Rhododendronpark war. Er ist 46 Hektar groß, also wenn man ihn wirklich erkunden möchte, braucht man eine gute Kondition und feste Schuhe. Aber es zahlt sich aus. Die Rhododendrone sind das Symbol der Stadt, man findet sie fast in jedem Garten und wenn sie im Mai und Juni in Blüte stehen, ist das ein wirklich wunderschöner Blick. Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Arten mit unterschiedlichsten Farben und Größe gibt, im Park kann man sogar die Zuchtstation sehen, wo durch Kreuzen neue Arten entwickelt werden.

In der Mitte des Parks gibt es „Botanica“, wo man die Natur verschiedener exotischen Ländern besichtigen konnte.

               Alles also o.k. in Bremen?

               Es konnte sein, hätte ich nicht am Ende unseres Besuches im berühmten Restaurant Ratskeller nach örtlicher Spezialität zum Abendessen verlangt. Das Restaurant befindet sich unter dem Rathaus, das Ambiente ist schön, es gibt verschiedene Separee Räume, wo man bei Date den Abend in einer diskreten Zweisamkeit verbringen könnte. Im Reiseführer wird geschrieben, dass hier im Keller 120 000 Flaschen Wein aufbewahrt werden, die älteste soll aus dem Jahr 1653 stammen. Die wollte ich nicht unbedingt kosten, dafür aber eine örtliche Spezialität. Gerade Bremen waren dann der Anlass, warum ich begonnen habe zu forschen, warum an bestimmten Orten das Essen ungenießbar ist und so den Zusammenhang der Küche mit der Religion entdeckte. So habe ich erfahren, dass diese Stadt bereits im Jahr 1522 zum Protestantismus übertreten war. Das wäre allein keine Tragödie, aber die Bürger von Bremen haben sich für die Lehre Calvins entschieden. Die von meinen Lesern, die meinen Artikel „Calvin ist an allem Schuld“ gelesen haben, wissen schon, wohin ich will.

               Ich bat den Kellner um eine Speise, die typisch für Bremen war. Er meinte, dass die beste Möglichkeit, die originelle Bremer Küche ausprobieren zu können, ein „Seemanlabkaus“ war. Ich ahnte nichts Böses und habe das Wunder der örtlichen Küche bestellt, Ich kam aus dem Erstaunen nicht heraus. Es wurde mir ein suspekter Brei unbestimmter Farbe serviert, zusammengesetzt aus dem geselchten Fleisch und Kartoffelbrei – beides zusammengemixt. Es hatte kein Geschmack, es enthielt offensichtlich keine Gewürze, das einzige essbare war das Spiegelei auf der Kuppe dieses Haufens. Als Beilage wurde ein saurer Hering serviert. Nein, ich habe es nicht geschafft. Meine Familie amüsierte sich köstlich, ich gab in der Hälfte der Portion auf. Das Ei habe ich aufgegessen, vom Hering probierte ich nur einen kleinen Biss.

               Meine Hypothese, wie dieses Essen entstanden ist, ist die Folgende. Die Bremer Matrosen stachen in den See und zum Mittagessen hatten sie geselchtes Fleisch mit Kartoffeln. Dann kam ein starker Sturm und so konnten sie die Portionen, die sie bereits zum Mittag verzehrt haben, zum Abend noch einmal essen. Beim Zahlen schlug ich dem Kellner vor, dass ich bereit bin, die Hälfte des Preises zu zahlen. Die andere Hälfte sollte der Mensch zahlen, der das Essen bereits vor mir im Magen hatte.

               Er lächelte nicht.

               Bremen ist sicherlich schön, die Leute dort lieb, aber einen Sinn für Humor habe ich vermisst.

               „Moin“

Bremen I

               Bremen ist weit weg. Bremen ist das kleinste deutsche Bundesland. Bremen ist eine alte Hansa-Stadt. Bremen ist eine Rhododendron-Stadt. In Bremen hat unser Sohn Lubomir ein halbes Jahr gearbeitet, und so entschieden wir uns, ihn zu besuchen. Es ist zwar bereits zehn Jahre her, die Erinnerungen blieben aber bis heute lebhaft. Bremen ist nämlich sehr schön, obwohl sich die Einwohner irgendwann um das Jahr 1522 in der Sache der Religion für die Lehre Calvins entschieden haben. Es hat sie nicht daran gehindert, ihre Häuser schön zu schmücken. Nur bitte, keine lokalen Spezialitäten ausprobieren, man kann hier auch anders gut essen. Aber dazu später.

               Die Bremer grüßen sich mit dem Wort „Moin“. Das bedeutet in ihrem Dialekt, also in Plattdeutsch „Guten Morgen“. Im kalten Nordwind, der vom Nordsee bläst, erstarrte wahrscheinlich den Einheimischen der Mund und deshalb schaffen sie längere Worte nicht. Möglicherweise aus dem gleichen Grund sprechen auch die nicht weit entfernten Dänen nur die erste Hälfte ihrer Worte aus, was nicht gerade kleine Probleme mit der Verständigung zur Folge hat. Aber die Natur lässt offensichtlich nichts anderes zu. Mein Sohn grüßte brav auf die österreichische Art „Grüß Gott“ und verursachte damit unter den Angestellten der Firma eine bestimmte Panik. Am dritten Tag stellte ihn sein Chef in die Mitte der Halle und sagte nachdrücklich „Der Kollege kommt aus Österreich“. Trotzdem hat er schnell gelernt mit „Moin“ zu grüßen, um nicht auffällig zu sein. Wenn sie in Bremen gefragt werden, wie es Ihnen geht, handelt sich nur um eine Höflichkeitsfrage. Man muss also seinen Zustand nicht lange schildern, es reicht mit einem „Muscha“ zu antworten. Das bedeutet „Es muss gehen“. Mehr Optimismus wird in Bremen nicht verlangt.

               Bremen lebt – neben Anderem – von Schiffbau. Es gibt hier gleich einige große Firmen, die Luxusyachten produzieren. Die größte von ihnen ist die Firma Lürssen, die bereits im Jahr 1904 gegründet wurde und bei der russische Oligarchen ihre Yachten bauen ließen.

Es wird erzählt, dass Lürssen nicht einmal von den absurdesten Wünschen dieser meistens kriminellen Neureichen zurückgeschreckt ist. Als einmal ein Oligarch erfuhr, dass sich ein anderer eine Yacht bei der Konkurrenz bauen ließ und diese um fünf Meter länger als die seine sein sollte, ließ er seine Yacht, die bereits fertig war, in der Mitte durchschneiden und einen zehn Meter langen Teil hineinbauen. Die Deutschen wunderten sich zwar, sie schmunzelten sogar, aber der Kunde ist der Herr, also sie schnitten, klebten und die Yacht war fertig nach den Wünschen des Herren Oligarchen. Das heißt, zu diesem Zeitpunkt die größte auf der Welt.

               Unser Sohn arbeitete bei der Konkurenzfirma Abeking und Rasmussen, die in Bremen seit 1907 tätig ist. Diese Firma spezialisierte sich auf zwar kleinere, dafür aber spezielle und durchgedachte Schiffe. Zum Beispiel, als sie für einen Millionär, dessen Gattin an Seekrankheit litt,  eine Yacht bauten, die das Schwanken der Wellen am breiten See so kompensieren konnte, dass der stolze Besitzer auch mit seiner lieben Frau Ausflüge am Meer machen konnte. Die Größe der Yacht war für ihn im Gegensatz zu den Russen nebensächlich. Die Preise solcher Produkte entsprechen natürlicherweise der Bonität der Kunden. Wenn es gelang, zwei Aufträge in einem Jahr für solche Yachten zu bekommen, war die Firma Abeking und Rasmussen sorgenfrei, bei vier Yachten badete sie im Geld und wies große Gewinne auf.

               Wegen dieser großen Schiffbauer, wo man über die Größe ihrer Produkte in voraus nichts weiß, darf der Fluss Weser, an dem Bremen liegt, ab einem bestimmten Punkt mit keinen Brücken überquert werden, die dann das Ausfahren der fertigen Yachten ans Meer hindern könnten – der Sohn fuhr also täglich zur Arbeit mit der Fähre. Die letzte Brücke ist die Stephanibrücke am nördlichen Ende der historischen Stadt, danach ist Schluss.

               Der Fluss Weser ist die Ader der Stadt. Auf dem Fluss wurde die Ware transportiert, dank ihm wurde Bremen zu einer der wichtigsten Städte der Hansa. Aber mit der Zeit versandete der Fluss und war für Schiffe mit größerem Tiefgang nicht schiffbar. Zuerst versuchten die Bremer das Problem mit einem künstlichen Hafen im Vorort Vegesack zu lösen (wo heutzutage die Schiffswerften tätig sind), später bauten sie einen Hafen an der Flussmündung, der später zu einer selbständigen Stadt Bremerhaven wurde.

Bremerhaven

Sie blieb es bis heute, ist aber weiterhin ein Teil des Bundeslandes Bremen. Übrigens gerade von diesem Hafen aus verließen die meisten Deutschen im neunzehnten Jahrhundert ihre Heimat in Richtung Amerika. Darüber erzählt ein Museum im Bremerhaven. Man kann dort die Identität eines Emigranten einnehmen und dann mit ihm seine Reise nach Amerika, die Ankunft im Hafen von New York, die Dokumentenkontrolle sowie auch das weitere Leben in der Neuen Welt erleben. Der Bremerhaven war so wichtig, dass die Amerikaner nach dem zweiten Weltkrieg erzwangen, dass Bremen mit Bremerhaven, liegend inmitten der britischen Besetzungszone, unter die amerikanische Verwaltung gestellt wurde. Bremen bildete also eine kleine amerikanische Insel, wo die Einwohner wahrscheinlich mehr Kaugummi, Chocolade und Jazz als Leute aus der Umgebung erleben durften.

               Bremen wurde dank seiner Mitgliedschaft in der Hansa eine reiche Stadt. Die Unabhängigkeit der Stadt stellt die Statue von Roland unter Beweis, die vor dem reichlich geschmückten Rathaus steht.

Roland

An der Fassade des Rathauses gibt es die Legende über die Gründung der Stadt oder auch Kaiser Karl der Große mit Kurfürsten. Bremen wurde zum Mitglied der Hansa im Jahr 1358 in der Zeit der Herrschaft von Karl IV. Karl IV. unterstützte die Unabhängigkeit der Reichsstädte von den lokalen Herrschern. In seiner Goldenen Bulle aus dem Jahr 1356 trat er viele Kompetenzen des Kaisers an die Kurfürsten ab, unterstützte dafür aber die Selbstbestimmung der Städte. Roland als Palatin des Kaisers Karl und damit sein Vertreter wurde in dieser Zeit zum Symbol der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung. In Bremen wurde diese Statue allerdings zugleich mit der Fertigstellung des Rathauses im Jahr 1404 enthüllt, also in der kurzen Unterbrechung der Herrschaft der Luxemburger Dynastie im Reich durch Ruprecht von Pfalz. Aber es hat halt einige Zeit benötigt, bis Bremen für so ein prächtiges Gebäude genug Geld verdient hatte. Die Legende sagt, dass die Stadt so lange bestehen bleibe, solange Roland auf seinem Platz stehen würde. Deshalb blieb Roland sogar in der Zeit des zweiten Weltkrieges, als Bremen wegen seiner Lage und Bedeutung ein Ziel häufiger Luftangriffe der Alliierten wurde (es wurde 62% der Gebäude in der Stadt vollständig zerstört), auf seinem Platz. Er wurde mit Sandsäcken umhüllt und dann in eine Schutzwand eingemauert. Roland hat den Krieg überlebt und mit ihm auch die Stadt. Jetzt steht er vor dem Rathaus mit dem Schwert in der rechten Hand, geschützt mit einem Schild in der linken, auf dem der zweiköpfige kaiserliche Adler ist, als ein Zeichen der direkten Untergebenheit der freien Stadt ausschließlich dem Kaiser.

               Zu einer freien Reichsstadt wurde Bremen offiziell lediglich im Jahr 1646, lange konnte es sich aber an seinen Status nicht freuen. Der Westfälische Frieden, der den Dreißigjährigen Krieg beendet hat, hat die Stadt nämlich Schweden zugesprochen. Im Jahr 1712 übernahmen Dänen die Stadt von den Schweden, die nach der vernichtenden Niederlage bei Poltava gegen Russland nicht mehr im Stande waren, ihre Besitzungen gegen die Koalition von Russland, Dänemark und Polen/Sachsen zu schützen und zu behalten. Die Dänen haben dann die Stadt gleich drei Jahre später an den Kurfürsten von Hannover verkauft. Im Jahr 1810 kamen Franzosen hierher, um hier drei Jahre lang zu herrschen, der Wiener Kongress erteilte Bremen den Status einer freien Stadt, den sie auch nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 behalten konnte. Als ein Bundesland mit einer Selbstverwaltung funktioniert Bremen also bis heute.

               Die zweite Skulptur in Bremen mit einer symbolischen Bedeutung sind die „Bremer Stadtmusikanten“.

Dieses Märchen der Gebrüder Grimm von vier alternden Tieren (Esel, Hund, Katze und Hahn), die tapfer Räuber in die Flucht geschlagen und ihre Beute sich angeeignet haben, gilt im deutschen Sprachraum zu den populärsten. In Bremen sind diese vier Helden in einer Skulptur verewigt, die an der Seitenwand des Rathauses steht. Bei Berührung der Statue aus Bronze werden angeblich Wünsche wahr, die man in diesem Moment hat. Ich wünschte mir etwas, es erfüllte sich nichts davon. Man kann nichts machen. Eine Kopie dieser Bremer Skulptur findet man auch im lettischen Riga. Es war ein Geschenk der Stadt Bremen an die Partnerstadt, die ebenso zur Hansa gehörte, nach der Selbständigkeitserklärung von Lettland im Jahr 1991.

               Die Altstadt von Bremen bildet eine Ellipse an dem rechten Flussufer, sie ist von einem Erdwall mit Wassergraben und Parkanlagen umgeben. Alles ist dort nah, alles kann man zu Fuß erkunden. Wir passierten eine lange Einkaufpassage Loyd,

dann kam man durch den Blumenmarkt zur Frauenkirche und dann zum Rathaus und zum Roland. Vor der Kirche „Unserer Lieben Frau“ steht eine Reiterstatue des Kanzlers Bismarck. Wie er sich um Bremen wirklich verdient gemacht hätte, habe ich nicht erfahren, vielleicht war das Dank dafür, dass in seinem politischen Gebilde, also im neuen Deutschen Kaiserreich, Bremen seine Autonomie bewahren durfte, da sonst das Verhältnis des Kanzlers zu Bremen wegen unterschiedlichen Ansichten auf die Kolonial- und Handelszollfragen nicht ungetrübt war.  Meine Hypothese, dass die Bremer sich bei dem mächtigen Mann einfach nur einschleimen wollten, hinkt durch die Tatsache, dass die Staue im Jahr 1910, also 12 Jahre nach Bismarcks Tod eingeweiht wurde. Wahrscheinlich als Symbol der deutschen Vereinigung, also etwas ähnliches wie Giuseppe Garibaldi in italienischen Städten. Dort fragt auch keiner, warum dort seine Statuen in beinahe jeder Stadt stehen, obwohl ihn manche von ihnen nicht ausstehen konnten.

               Einen Platz weiter gibt es den Dom, der dem heiligen Petrus geweiht ist. Auf den Turm des Doms kann man steigen. Natürlich kann man, wenn man die Sicht auf die Stadt von oben genießen möchte, dieser Versuchung nicht widerstehen, man muss aber über eine so enge Stiege nach oben gehen, dass eine Ampelregelung nicht ganz abartig wäre. Den entgegenkommenden Menschen auszuweichen, besonders wenn sie nicht gerade schlank sind, ist eine echte Herausforderung und ein enger Körperkontakt ist unvermeidlich. Vor dem Dom wurden wir Zeugen einer alten Tradition. Ein Mann, der mit Dreißig noch immer ledig ist, ist verpflichtet, am Tag seines dreißiger Geburtstags die Treppen vor dem Dom zu fegen oder den vorbeigehenden Menschen Schuhe zu putzen, um für seine Hochzeit das Geld endlich zu verdienen. Ich war ein vorbeigehender Mensch und meine Schuhe haben sich ein ordentliches Putzen seit langem dringend verdient, ein Widerstand war also zwecklos. Ob sich der junge Mann für die Hochzeit das Geld tatsächlich verdient hat, darf ich aber anzweifeln. Ich habe ihn kurz danach gesehen, wie er mit seinen Freunden, die seine Tätigkeit streng kontrolliert haben, den Verdienst in einer der vielen Bars verzechte. Die Tradition, die das weibliche Geschlecht betrifft, haben wir leider nicht erlebt. Eine dreißigjährige Jungfrau (die Jungfräulichkeit wird nicht dringend nötig, es reicht, wenn sie nicht verheiratet ist) muss so lange die Klinke an der Tür der Kirche putzen, bis sie von einem jungen Mann mit einem Schmatzer befreit wird. Ich fürchte, dass diese Tradition in Folge der „politic corectness“ bald stirbt (wenn nicht bereits gestorben ist). Schade darum.

Fortsetzung folgt.

Fuerteventura II

Der Strand, auf dem Bethencourt ans Land ging, ist ein der meistens besuchten Orte auf der Insel. Es ist das Gebiet von Ajuy, man erreicht es auf einer sehr guten Straße vom Ort Pájara oder zu Fuß auf einem historischen Pfad von Betancuria. In Pájara gibt es eine schöne Kirche „Iglésia der Nuestra Seňora de Regia“ mit einer Fassade mit aztekischen Motiven und mit einem vergoldeten Altar in ihrem Inneren. Die Kirche ist aber nicht immer offen. Das Städtchen ist gepflegt und die Straßenbeleuchtung leuchtet tags und nachts. Bereits anfangs November wurde die Weihnachtsdekoration installiert, die Bewohner wollten offensichtlich nichts einem Zufall überlassen. Was wäre, wenn das Weihnachten heuer früher kommen würde.

               In Ajuy gibt es den winzig kleinen bereits erwähnten Hafen „Puorto de la Peňa“ mit vielen Restaurants und dem Menu in beinahe allen Sprachen der Welt, zu meiner Überraschung wurden hier nicht die für Spanien so typischen Tapas angeboten. Der Ort ist durch seinen schwarzen, mit Vulkansand bedeckten, Strand berühmt. Er heißt „Playa de los Muertos“, also „Der Strand der Toten“.

Möglicherweise deshalb, weil von hier der Tod kam. Ob bereits mit Bethencourt oder doch später mit den berberischen Piraten, ist Sache der Auslegung. „Puorto de la Peňa“ war der Hafen der Hauptstadt Betancuria, auch heute noch kann man auf einem Pfad in einem Bergtal von der Stadt zum Hafen absteigen. Der Hafen lebte (oder besser gesagt vegetierte) ganze Jahrhunderte von Kalkerzeugung. Von den Kalkfelsen, die über den schwarzen Strand emporragen, wurde außerordentlich reiner Kalk gewonnen, hier gebrannt und anschließend auf die anderen Kanarischen Insel exportiert. Die Öfen zum Kalkbrennen sind auch heute noch sichtbar, sind aber natürlich seit langer Zeit bereits außer Betrieb. Am Ende eines halbkilometerlangen Spazierganges auf einem zerklüfteten Riff gibt es zwei Höhlen „Cuevas de Ajuy“.

Sie befinden sich auf der Seehöhe, also muss man zu ihnen auf steilen Treppen absteigen und beim Übergang von einer zu der zweiten Hölle muss man auch ein bisschen klettern. Also feste Schuhe sind gegen Sandalen oder Strandschlapfen im Vorteil. Vom Riff gibt es atemberaubende Blicke auf den Strand und das Meer, es zahlt sich also aus, hier einen Spaziergang zu machen. Deshalb machen das auch beinahe alle Inselbesucher.

               Die Straßen auf der Insel sind übrigens in einem sehr guten Zustand, sie sind offensichtlich noch relativ neu mit einer kompakten asphaltierten Fahrbahn. Mit bestimmten Ausnahmen, wie zum Beispiel die Straße zwischen Betancuria und Pájara, sind sie auch breit genug, dass zwei entgegenfahrende Fahrzeuge problemlos ausweichen können. Zwischen Corralejo und „Puerto del Rosario“ wird sogar eine Autobahn gebaut. Im Betrieb sind derzeit zwar nur sechs Kilometer, aber alle Städtchen und Dörfer auf der Insel sind mit einem gut befahrbaren Straßennetz mit Asphaltbelag verbunden.

               Betancuria war die Inselhauptstadt bis 1834, dann übergab es das Primat an das Städtchen Antigua, das aber Hauptstadt nur ein Jahr lang geblieben ist. In Folge der schwierigen Naturbedingungen, infolge deren die Bevölkerung ständig auf der Kippe zur Hungernot balancierte, hat der letzte Landesherr im Jahr 1800 das Handtuch geworfen und ist nach Tenerife übersiedelt. Die Inselverwaltung übernahm das Militär, zum Herrn der Insel wurde der örtliche Oberst, der seinen Sitz im Städtchen La Oliva hatte. So wurde La Oliva im Jahr 1835 zur weiteren Inselhauptstadt, bis es im Jahr 1956 die Stafette an Puerto del Rosario abgab. Zu dieser Zeit waren die ökonomischen Voraussetzungen bereits entscheidend und ein Hafen eignete sich am bestens, zum ökonomischen Schwerpunkt der Insel zu werden. Die Angst vor den Piraten ist bereits verschwunden und im Jahr 1879 musste das Heer auf die Verwaltung der Insel verzichten. In La Oliva gibt es eine schöne Kirche und die Villa der Oberste „Casa de los Coroneles“, von der sie über die Insel siebzig Jahre lang herrschten. Der kleine Palast wurde in der Zeit unseres Besuches gerade rekonstruiert und damit nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Also konnten wir nicht erfahren, wie die militärischen Diktatoren auf der von Armut und Hunger geplagten Insel lebten. Im neunzehnten Jahrhundert flüchtete die Hälfte der Bevölkerung auf das Festland nach Spanien. Dann kam aber in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts der Fremdverkehr und brachte allmählich den Wohlstand mit sich auf die Insel.

               Fuerteventura sind Vulkankrater, Vulkankrater und manchmal zur Abwechslung noch einmal Vulkankrater.

Die jüngsten von ihnen sind 50 000 Jahre alt und befinden sich im Norden der Insel beim Städtchen Corralejo. Im Unterschied zur Nachbarinsel Lanzarote, wo die Vulkane noch im achtzehnten Jahrhundert wüteten, ist Fuerteventura also ziemlich ruhig.  Trotzdem ist die Erde praktisch nur aus Lavagestein gebildet, wenn wir die sandigen Strände an der Küste nicht in Betracht ziehen – besonders dann das ausgedehnte Gebiet der Sanddünen im Nordosten der Insel bei Corralejo. Diese Dünen sind ein beliebtes Ausflugsziel für die Touristen sowie auch für die Einheimischen – auf der Insel leben insgesamt 140 000 Einwohner und Fuerteventura, von der Größe her die zweitgrößte der Kanarieninseln, ist damit die am dünnsten besiedelte. Weil wir in Corralejo wohnten, konnten wir die Dünen zu Fuß erreichen – mit einem etwas schnelleren Gang dauerte der Spaziergang hin ein bisschen mehr als eine halbe Stunde.

Die Schönheit der mit spärlicher Vegetation bewachsenen Dünen störten nur die Körper außerordentlich hässlicher Nudisten. Oben ohne bei Frauen wird toleriert, ein großer Gewinn war es aber – ehrlich gesagt – mit spärlichen Ausnahmen nicht.

               Die Stadtstrände in Corralejo sind nicht wirklich schön, besonders dann vormittags bei Ebbe, wenn sich das Meer hunderte Meter zurückzieht und seinen felsigen Grund entblößt. Es ist in erster Linie ein Paradis für die Surfer, es gibt hier gleich mehrere Surfschulen. Nachmittag bei der Flut kommt das Wasser zurück und das Baden ist sehr gut möglich, auf den Stadtstrand wird aber eine Unmenge von Meeresalgen angespült, was zum Baden nicht gerade einladend ist.

Aber nur ein paar Minuten weiter der Küste entlang gibt es kleine schöne Strände mit weißen, an Popcorn erinnernden, Steinen und dort kann man sehr wohl baden. Die schönsten Strände sollte es im Süden der Insel um „Morro Jable“ geben, das ist aber vom Norden der Insel doch ziemlich weit. Vielleicht also das nächste Mal.

               Auf manche der Vulkane führen markierte touristische Wege. Es ist zum Beispiel die „Montagna de Tindaya“ bei La Oliva und direkt über Corralejo ragt bedrohlich der Vulkankrater „Volcano Bayoyu“ empor.

Er gebärdet sich bedrohlich, ist es aber nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass er das letzte Mal Lava vor 50 000 Jahren gespuckt hat, kann man ihn ganz einfach besteigen. Aus der Stadt ist es nur vier Kilometer und der Höhenunterschied beträgt 290 Meter. Die Fauleren dürfen mit dem Auto bis zum Fuß des Berges in den Nationalpark „Malpaís del Bayuyo y Mascona“ fahren und damit sich den Weg wesentlich verkürzen. Ich machte mich bereits nach dem Frühstück auf den Weg und so konnte ich die atemberaubenden Aussichten vom Vulkangipfel in den Krater sowie auch auf Corralejo, die mit zahlreichen Kratern geschmückte Landschaft, die Insel Lobos und Lanzarote beinahe eine halbe Stunde allein genießen. Danach stürmten gegen Mittag plötzlich Touristen den Gipfel von allen Richtungen und ich trat den taktischen Rückzug an. Der Rückzug führte auf einer Schuttböschung hinunter, feste Schuhe schadeten also sicher nicht – obwohl manche deutschen Touristinnen in den Sandalen unterwegs waren – ich habe lieber niemandem verraten, dass ich ein Arzt bin.

               Die Vulkankrater bilden eine kontinuierliche Reihe, was imposant wirkt, der letzte der Krater ragt aus dem Meer empor und heißt „Isla de Lobos“. Auf diese Vulkaninsel nahe Fuerteventura kann man mit einem Wassertaxi fahren und wenn man sich langweilt, auch den Krater besteigen.

               Vom Hafen in Corralejo bieten gleich drei Gesellschaften einen Transfer zur Nachbarinsel Lanzarote an – der Weg dauert dreißig Minuten und auf der anderen Seite wartet ein bezaubernder Hafen „Playa Blanca“ mit einer langen Promenade, einem zauberhaften Stadtzentrum und unglaublich sauberem fischreichen Wasser auf dem Stadtstrand. Das ist aber schon eine andere Insel, übrigens der Hauptlieferant von Wein, der auf Fuerteventura nicht angebaut wird. Der Wein aus Lanzarote ist gut, das Klima dort muss also günstiger sein, wir sahen, wie eine Fähre ein Auto voll mit Ziegen hinübergeführt hat – sie freuten sich offensichtlich auf eine bessere Weide beim Nachbarn.  Zwischen den Fähren der Gesellschaften Fred Olsen, Armas und Fast Ferry gibt es keine wesentlichen Unterschiede, lediglich Fast Ferry transportiert keine Fahrzeuge. Aber bitte, den Personalausweis nicht vergessen, ohne einen Reisepass oder andere „Identity card“ verkauft euch niemand ein Ticket für die Fähre – obwohl beide Insel zum demselben Land und in weiterer Folge zu EU gehören. Das Taxi zum Hotel und zurück kostete allerdings bloß acht Euro, also war es keine Tragödie und die Fähren fahren in Halbstundentakt.

               Fuerteventura ist ein Ort zum Abschalten. Es herrscht hier Ruhe, die Insulaner leben langsam (obwohl sie sich bei der Bedienung der Gäste ziemlich schnell bewegen) und lassen sich nicht stressen. Wenn sie nach der Rechnung in einer Bar verlangt haben, dann bitte, schön gelassen auf die Rechnung warten! Jeder Versuch, den Prozess zu beschleunigen, ist sinnlos und wird als unanständig gewertet. Die Folge ist nur eine beruhigende Geste des Kellners, die Zahlung wird aber dadurch nicht schneller abgewickelt. Im Vergleich mit dem übervölkerten Teneriffa und dem ein bisschen hektischen Gran Canaria ist Fuerteventura trotz des wachsenden Tourismus immer noch eine Oase der Ruhe. Wenn die Ruhe nicht durch vom Ocean wehende Winde gestört wird. Die könnten nämlich ordentlich stark sein – deshalb gibt es hier auch so viele Surfer. Der Reiseführer wird ihnen einreden wollen, dass diese Winde es in 50 000 Jahren geschafft haben, die Berge, die ursprünglich 3500 Meter hoch sein sollten, auf die heutigen 800 Meter Seehöhe abzuschleifen.

               Ich bin mir nicht sicher, ob es stimmen kann, so viel hat es doch nicht geblasen. Wir hatten Glück. Unsere Ruhe wurde von nichts gestört.

Fuerteventura I

Ich beginne diesen Artikel mit einer Entschuldigung für die zweitägige Verspätung in seiner Veröffentlichung. Ich habe nämlich nach Tschechien gereist und den Computer zu Hause vergessen.

Also:

Was tut ein Historiker, wenn er an einen Ort fährt, wo es keine Geschichte gibt? Natürlich – er sucht und findet schlussendlich doch etwas. Wer viel sucht…

So war es mit mir, als wir mit meiner Frau entschieden haben (das Plural verwende ich ein bisschen euphämisch, es handelt sich eher bei dem „wir“ um den „imperiale Plural“ meiner Gattin – meine Zustimmung habe ich aber gegeben, also nicht jammern!) für den Novemberurlaub auf die Insel Fuerteventura zu fahren. Und so haben wir gepackt und sind geflogen.

               Wenn man schon das Glück hat, dass es in jedem seinen Urlaub regnet, ist die beste Lösung irgendwohin zu fahren, wo es gar nicht regnet. Also kommt die Sahara oder Fuerteventura in Frage. Die zweite Alternative ist viel verlockender. Besonders anfangs November, wenn der Ocean seine höchste Wassertemperatur bis zu dreiundzwanzig Grad Celsius hat.

               Fuerteventura ist die älteste der Kanarischen Inseln und liegt der Afrikaküste am nächsten. Möglicherweise deshalb kommt so wenig Feuchtigkeit her. Von Westen fangen den Regen die Insel Gran Canaria und Tenerife ab und von Afrika (der Insel gegenüber liegt die Westsahara) kann man viel Nässe nicht erwarten. Für die Touristen ist aber dieser Zustand absolut ideal. Während des gesamten Aufenthaltes regnete es nicht und obwohl schon November war, bewegten sich die Tagestemperaturen zwischen 21 und 25 Grad im Schatten und Wolken gab es nur in der Früh und das lediglich über dem östlichen Horizont und nur, wenn ich zur Beobachtung des Sonnenaufgangs aufgebrochen bin. Es war zwar frustrierend, aber meine Laune konnte es nicht kaputt machen. Es war nämlich nicht notwendig viel zu früh aufzustehen, die Sonne ging um 7:15 Uhr Ortszeit auf (obwohl schon Winterzeit galt), das heißt um viertel neun der mitteleuropäischen Zeit, also in der Zeit, wenn man bereits ausgeschlafen ist, und ein morgendlicher Spaziergang an der Küste von einem Strand zum anderen ist sicherlich eine gesunde Sache. Für den Körper sowie auch für die Seele. Obwohl man die aufgehende Sonne letztendlich nicht sieht. Um so schöner war der Vollmond.

               Die Insel Fuerteventura bekommt wirklich nur sehr wenig Feuchtigkeit und dementsprechend karg ist die dortige Vegetation. In den Hotels gibt es aber genug Wasser, die Insulaner haben, ähnlich wie die Malteser, gelernt, das Meerwasser zu entsalzen. Sie machen es offensichtlich konsequenter als die Malteser. Im Gegenteil zu Malta habe ich nämlich im Wasser keinen salzigen Geschmack gespürt – für einen Hypertoniker eine beruhigende Tatsache. Dem Wassermangel und dem Mangel an Grün passte sich auch die örtliche Landwirtschaft an. Vor allem durch Ziegenzucht – eine Ziege frisst nämlich absolut alles. Dementsprechend ist die Spezialität der Insel Ziegenkäse „queso majorero“.

Den Käse kann man überall kaufen, er wird auch in jedem Restaurant und in jedem Hotel angeboten. Er ist eine klassische ortspezifische Vorspeise (sowie auch Nachspeise). Zur Zubereitung wird noch immer sehr viel Handarbeit verwendet und er wird nach der Reifungszeit in drei Arten angeboten – als weich (tierno), halb hart (semicurado) und hart (curado). Meiner Meinung nach ist er in allen drei Formen absolut essbar. Sogar meine liebe Gattin, die gedroht hat, dass ich keinen Kuss von ihr mehr erwarten könnte, wenn ich den Käse gegessen hätte, änderte ihre Meinung und gab zu, dass der Käse keinen unangenehmen Geruch hatte und gut schmeckte. Und er macht satt.

               Wenn man auf Fuerteventura einen Ausflug mit einem Reisebüro buchen würde, muss man damit rechnen, dass er eine Ziegenfarm besuchen würde, wo eine Käseverkostung inkludiert ist. Es ist so etwas wie in der Türkei der Besuch einer Teppichfabrik. Wir kauften keinen Ausflug, eine Farm haben wir also nicht besucht, dafür aber das Käsemuseum in der Nähe des Städtchens Antigua. Es ist das „Museo del Queso Majorero“ und neben der Ausstellung zur Käseherrstellung gibt es hier auch einen wunderschönen Kakteenpark.

Ich hatte keine Ahnung, dass es mehr als dreißig Arten von Ziegen gibt. Jetzt weiß ich es, einzeln nennen könnte ich sie trotzdem noch immer nicht. Das Museum erzählt nicht nur über Ziegen und Käse, es gibt hier auch eine multimediale Projektion mit Darstellung der Theorien über die Entstehung der Kanarischen Inseln und mit Bekanntmachung mit der Flora und der Fauna der Insel. Besonders was die Fauna betrifft, hat die Insel aber nicht viel zu bieten – wenn wir die Ziegen nicht dazu zählen.

               Die Inselgeschichte begann für die Europäer im Jahr 1402, als in der Bucht, wo sich heute ein Minihafen „Puorto de la Peňa“ befindet, der Kapitän Jean de Bethencourt mit seinen 53 Männern landete. In Laufe der nächsten zwei Jahre eroberte er die ganze Insel. Die Inselbewohner so genannte „Mojo“, die hier in der Ruhe gelebt hatten, geteilt in zwei Königsreiche, hatten mit ihren Stöcken zum Ziegenantrieb gegen die europäischen Waffen keine Chance. So ließen sich beide Könige Ayoze und Guize lieber taufen und nahmen die Namen Luis und Christian an, in der Hoffnung, dass sie dadurch von der Eindringlingen Ruhe haben würden. Hatten sie nicht. Ihre Statuen stehen auf einer Aussichtsplatform an dem Straßenrand zwischen La Oliva und Betancuria.

Wie weit ihre Darstellung der Realität entspricht, weiß nur der liebe Gott. Einen Einblick in das Leben der Ureinwohner bietet ein Freilichtmuseum La Atalyita bei Pozo Negro an der Ostküste der Insel. Man kann von dem Städtchen Caleta de Fuste (wo sich die größten Salinen zu Gewinnung des Meersalzes befinden – auch mit entsprechendem Museum) oder aus dem Innenland vom Städtchen Antigua hinfahren.

               Gleich neben dem Rastplatz mit den Statuen von Ayoze und Guize oder – wenn Sie möchten – Luiz und Christian – gibt es eine Abzweigung zum Aussichtspunkt „Mirrador morro Vella“. Das Gebäude dort, das seine Entstehung dem berühmten örtlichen Künstler Césare Manrique verdankt, wurde entweder gerade restauriert oder befand sich in einem natürlichen Zerfall. Was von diesen zwei Alternativen zutrifft, konnte ich nicht erfahren, in jedem Fall war es geschlossen. Trotzdem gab es von diesem Aussichtsberg in der Höhe 700 Meter über den Meeresspiegel fantastische Ausblicke über die Berge und bis zum Meer.

               Bethencout gründete in den Bergen oberhalb des Hafens, wo er ans Land ging, die erste Stadt auf der Insel und ernannte sie als ein richtiger Katholik in den Diensten einer katholischen Majestät „Santa Maria de Bethencourt“. Heute heißt diese erste Inselhauptstadt Betancuria und sie ist ein liebes und schönes Nest.

Im Jahr 1403 bestätigte der Papst Benedikt XIII. die Gründung der ersten Pfarre auf der Insel. Benedikt war allerdings ein Gegenpapst, der im Jahr 1415 vom Konstanzer Konzil abgesetzt wurde (was er bis Ende seines Lebens nie anerkannte). Also musste die Dinge der kirchlichen Organisation im Jahr 1424 Papst Martin V., der in Konstanz gewählt wurde und über dessen Legitimität keine Zweifel bestehen, in Ordnung bringen. Aus der Zeit der ersten Eroberer findet man keine Relikte. Im Jahr 1593 wurde die Stadt nämlich trotz ihre in den Bergen versteckte Lage von den berberischen Piraten entdeckt. Sie plünderten die Stadt aus und was sie nicht mitnehmen konnten, zündeten sie an. Die Stadt wurde dadurch vollständig zerstört. Also alle Gebäude im Städtchen inklusiv der Kirche „Iglésia de Santa Maria Imaculata“, also „Die Kirche des unbefleckten Empfängnis der Jungfrau Maria“ sind aus der späteren Zeit, trotzdem sind die Bauten Mitte in Parkanlagen mit Palmen und Kakteen lieb. Sie sind aus dem Vulkanstein mit weißem Mörtel gebaut, ästhetisch kann man nichts einwenden. Und es gibt sogar eine Fontäne, wahrscheinlich gibt es hier doch ein bisschen mehr Wasser als sonst auf der Insel – möglicherweise war es der Grund der Stadtgründung an diesem Ort.

               Bethencourt stammte zwar aus der Normandie und war also ein Franzose, Frankreich war aber nicht imstande ihm bei der Versorgung der Siedler mit Nahrungsmitteln auf der öden Insel zu helfen. Bethencourt fand letztendlich die Unterstützung bei König Heinrich III. von Kastilien, der ihn zum „Herrn der Kanarischen Inseln“ ernannte und die Kolonisierung der Insel förderte. Kastilien war zu dieser Zeit noch lange keine Seemacht (im Gegenteil zu Portugal oder Aragon) und deshalb war für König Heinrich sogar die unfruchtbare Insel verlockend. Nachdem Frankreich im Jahr 1415 die Schlacht bei Azincourt gegen die Engländer verloren hatte, kamen die Besitzungen von Bethencourt in der Normandie unter die englische Herrschaft und er musste dem englischen König seine Treue schwören. Das machte ihn in Kastilien zu „Persona non grata“. Kastilien gab aber seine Ansprüche auf die Kanarischen Inseln nicht mehr auf und nach der Entstehung von Spanien durch Vereinigung von Kastilien und Aragon im Jahr 1515 wurden die Inseln ein Teil des Spanischen Königreiches und blieben es bis heute. Weil die Inseln nördlich des Caps Bojador an der Höhe der Küste der Westsahara liegen, durch die die Grenze der Interessengebiete der Länder der Iberischen Halbinsel führte, mussten die Spanier um diese Insel nicht mit Portugiesen streiten.

Prekmurje

Als ich das erste Mal erfuhr, dass wir nach Moravske Toplice  in die Therme fahren sollten, habe ich auf der Karte gesucht, wo sich dieser Ort befindet. Ich machte das natürlich auf die altmodische Art – mein Sohn würde einen Lachkrampf bekommen – auf der Autokarte von Jugoslawien aus dem Jahr 1994. Und ich habe auf dieser Karte diesen Ort gar nicht gefunden. Obwohl ich ungefähr wusste, wo ich suchen sollte. Nämlich in der Nähe von Murska Sobota auf dem linken Murufer. Aber dort war einfach solches nicht zu finden.

               O.k. ich habe mich also modernisiert und das Internet eröffnet und dort das Dorf gefunden. Es hat ganze 719 Bewohner mit den anderen insgesamt achtundzwanzig angeschlossenen Ortschaften kommt es sogar auf ganze 6200 Menschen.

               Wenn man aber Moravske Toplice besucht, sieht man gleich, dass der dortige Wohlstand jung ist. Im Jahr 1960 entschied das sozialistische Jugoslawien, damals unter der Tito-Herrschaft – nach Erdöl zu suchen. Keine Ahnung, warum man sich entschieden hat, gerade in diesem Ort zu bohren, allerdings wurde in der Tiefe von 1400 Meter anstatt Öl heißes Wasser gefunden.  Die Einheimischen haben sofort ihre Chance begriffen und schon im Jahr 1962 gab es dort ein erstes Schwimmbecken mit warmem Thermenwasser. Die Slowenen waren immer sehr unternehmungsfreundlich, unvergleichbar mehr als alle anderen sieben Subjekten des damaligen Jugoslawiens (es gab sechs föderative Republiken und zwei autonome Regionen und das ganze Konglomerat wurde manchmal „Die Schneewittchen und sieben Zwerge“ genannt, wobei Slowenien die Rolle von Schneewittchen übernommen hat).

               Heute gibt es in der Ortschaft mehrere Vier- und Fünfsternenhotels und eine große Therme T 3000 mit einer riesigen Rutsche – die Einheimischen behaupten, dass es sich um die größte Rutsche in Mitteleuropa (eventuell in ganz Europa) handeln sollte. Es ist gut möglich, ich habe sie nur von Ferne gesehen und es ist mir kalt über den Rücken gelaufen. So ein Monstrum habe ich noch nicht gesehen – allerdings war ich natürlich nicht überall. Gott sei Dank bin ich alt genug, um eine glaubwürdige Ausrede zu haben, sie nicht benutzen zu müssen.

               Die Hotels Termal (wahrscheinlich das älteste gleich neben der Therme) Livada (das größte) Ajda und Vivat (ein bisschen entfernt aber um so ruhiger) bieten die Unterkunft für Hunderte von Gästen – der Aufenthalt ist deutlich billiger als im 20 Kilometer entfernten Bad Radkersburg. Neben den Hotels gibt es hier auch ein großes Apartmentdorf „Prekmurska Vas“ und es darf natürlich auch ein achtzehn Löcher Golfplatz nicht fehlen – er ist in unmittelbarer Nähe zu den Thermen. Es wird einfach auf Luxus gesetzt, und die Wette geht auf.

               Wir wohnten im Hotel Vivat (die Wahl wurde dadurch vereinfacht, dass eine Mitarbeiterin meiner Frau, die liebe Sarah, gerade aus Moravske Toplice stammt). Die Unterkunft in einem Zimmer mit Balkon war sehr gut, dass Essen tadellos und das Baden im „Weißen Wasser“ – das ist eine Quelle, die in der Tiefe von 900 Meter angebohrt wurde und 24 Liter Wasser mit einer Temperatur von 55 Grad pro Sekunde liefert, oder im „Schwarzen Wasser“ aus der Tiefe von 1257 Meter mit einer Temperatur von 66 Grad – diese Quelle ist weniger ausgiebig und liefert lediglich 2 Liter Wasser pro Sekunde. Natürlich werden beide Quellen abgekühlt auf eine sehr angenehme Temperatur von 32 Grad in einem großen Schwimmbecken oder auf 39 Grad in einem kleinen. Das war das „Schwarze Wasser“, das allerdings gar nicht schwarz war, wahrscheinlich wurde es entfärbt.

               Natürlich konnte ich es nicht auslassen, einen Spaziergang durch das Dorf zu machen und ich habe mit Erstaunen festgestellt, dass der Ort calvinistisch ist. Die Kirche „Des guten Hirten Jesus“ ist einfach, besonders in ihrem Inneren wie es die calvinistische Konfessionirten JesusH

 vorschreibt. In einem anderen Ortsteil Bogojina baute sogar der berühmteste slowenische Architekt Jože Plečnik eine Kirche. Offiziell heißt sie „Christi-Himmelfahrt Kirche“, bekannt ist aber als „Die weiße Taube“.

               Die calvinische Gegenwart des Ortes brachte mich dazu, in der Geschichte der Region zu recherchieren. Ich entdeckte dabei, was ich noch nicht wusste. Slowenien gab es offiziell bis zum Jahr 1918 nicht. Als im Jahr 1918 „Das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ entstand, wurde der slowenische Teil dieses Neugebildes aus der Windischen Mark um Ljubljana, aus der Grafschaft Celje und aus der Südsteiermark gebildet. Die Städte am Meer von Koper bis zu Piran erhielten die Slowenen nach dem zweiten Weltkrieg, als Istrien von Italien zu Jugoslawien kam und Papa Josip Bros Tito die Beute zwischen seine Kinder Kroatien und Slowenien teilte (ohne den Slowenen einen Korridor in das freie Gewässer zu schenken). Alle diese Ländereien waren einmal ein Teil von österreichischen Kronländern und damit überwiegend katholisch. Nur mit einer Ausnahme und das war eben Prekmurje

. Dieses kleines Stück Landes auf dem linken Murufer, also „Übermurgebiet“. Ungarisch Muravidék gehörte nämlich zum Ungarischen Königreich. Deshalb haben hier die Ortschaften nicht nur slowenische, sondern auch ungarische Namen. Moravske Toplice heißen auf Ungarisch Alsómarác oder auch Toplitz, die Hauptstadt der Region Murska Sobota hieß einmal Muraszombat.

               Das ganze winzig kleine Gebiet hat nur 950 Quadratkilometer und es leben hier 76 000 Einwohner. Wie ich schon schrieb, das Zentrum der Region befindet sich in Murska Sobota, wo es die Bezirkshauptmannschaft, das Krankenhaus und ein Schloss gibt, der nördliche Teil der Region in Richtung zur ungarischen Grenze heißt Goričko, ist hügelig und er wurde zu einem nationalen Naturpark erklärt. Der höchste Berg ist zwar lediglich 417 Meter hoch, es gibt hier aber viele Radfahrerwege, um die dortige Natur auf einem Fahrrad genießen zu können. Das Zentrum von Goričko ist ein Städtchen mit einem einfachen Namen „Grad“ also „Burg“ – die Burg gibt es dort tatsächlich und sie dominiert die ganze Landschaft.

               Im Jahr 1918 kam es zum Zerfall der Österreichisch-ungarischen Monarchie. Im ungarischen Teil ergriff im März 1919 der Kommunist Béla Kun die Macht. Im Land herrschte „der rote Terror“, viele besser situierten Ungaren und ungarische Intellektuellen wählten die Flucht aus dem Land. Sie waren bereit, alles Mögliche gegen die kommunistische Macht zu unternehmen, sogar die separatistischen Tendenzen der auf dem ungarischen Gebiet lebenden nationalen Minderheiten zu unterstützen. Im April 1919 gründeten sie in Wien unter der Führung von Graf Bethlén ein „Antikommunistisches Komitee“.

               Am 29. Mai 1919 wurde auf dem Balkon des Hotels Dobray in Murska Sobota (heutiges Hotel Zvezda) eine unabhängige Murrepublik ausgerufen.

Der Initiator war Vilmos Tkalecz, ein slowenischer Offizier der österreichischen Armee. Die Deklaration enthielt auch einen Appell an die ungarische Regierung, das Recht auf Selbstbestimmung der Nationen zu respektieren. In diesem Fall waren es die Slowenen, die in dieser Region eine Mehrheit darstellten. Letztendlich war dieses Recht einer der wichtigsten Punkte des Programms von Lenin und er war wieder das Vorbild für Kun. Béla Kun hat aber in diesem Fall sein großes Vorbild in Sankt Petersburg und seine Lehre in diesem Punkt ignoriert und schickte nach Prekmurje die Armee. Tkálecz hatte lediglich 600 bewaffnete Männer. In sechs Tagen wurden sie nach Österreich verdrängt und dort in Feldbach in einem Gefangenlager entwaffnet und interniert. Dieses eintagsfliegelanges Leben der Murrepublik war aber doch ein Anlass, dass in Trianon im Jahr 1920 entschieden wurde, dass diese Region von Ungarn getrennt sein sollte. Sie wurde zwar nicht selbständig, sondern wurde in den slowenischen Teil des neu gegründeten Königreiches aufgenommen, das später zum Jugoslawien wurde.

               Die Ungaren vergaßen diese Willkür der Siegesmächte nicht. Gleich danach, als die deutschen Truppen Jugoslawien im Jahr 1941 überfielen und die jugoslawischen Armee nach bloß elf Tagen der Kämpfe kapitulierte, besetzte Ungarn als der Verbündete Hitlers das Prekmurje und gliederte es wieder in den ungarischen Staat ein. Den Rest von Slowenien teilten sich Deutschland (Südsteiermark und die Region um Kranjska Gora) und Italien (Socatal und Ljubljana).

               Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kam Prekmurje zurück nach Jugoslawien und nach der Unabhängigkeitserklärung des neuen Slowenischen Staates im Jahr 1991 blieb es dort als ein der fünf Regionen Sloweniens.

               Von der ungarischen Geschichte blieb hier der örtliche Dialekt, in dem es viele ungarische Elemente gibt, zum Beispiel ungarische Nachnahmen – gleich nach der Grenze zu Österreich begrüßte uns „Gostelnica Vörös“ – die calvinistische Religion und einige Einflüsse in der örtlichen Küche.

               Vor allem das „Bograč“, das dem ungarischen Gulasch zu verdächtig ähnelt. Nicht also dem, was wir für ungarisches Gulasch halten und mit Knödel essen. Das echte ungarische Gulasch wird aus Rindfleisch mit Kartoffeln, Zwiebel, Knoblauch und Paprika gekocht, ob dazu auch Kümmel, Lorbeerblätter, Majoran und Tomatenmark gehören, weiß ich nicht, im Borač sind sie aber auf jeden Fall erhalten.

               Eine andere örtliche Spezialität ist „Bujta Repa“ und die ist aus meiner Sicht wieder dem russischen Borschtsch ähnlich. Es wird angeblich am ersten Tag der Schweinschlatung zu Mittag gegessen, neben den sauren Rübe und den Schweinsripperln gehört hierher die Hirse, der Zwiebel, der Knoblauch, das Butterschmalz, das Mehl, weiters geriebener Paprika, Pfeffer, Lorbeerblätter und Majoran.

               Die ECHTE SPEZIALITÄT aus der Region ist allerdings die „Gibanica“ und da sind wir schon wieder bei typischer slawischer Küche. Dieser ordentlich süße Kuchen hat acht Schichten. Eine davon ist aus Topfen, die zweite aus Nüssen, die dritte aus geriebenen Äpfeln mit Zimt und die vierte aus Mohn. In die letzte wird neben der Sahne auch der Weißwein beigemischt und das nicht wenig. Diese Schichten werden mit Blätterteig getrennt, nur die unterste Schicht wird aus Mürbteig gemacht.

               Also wenn Sie Perkmurje besuchen – und das ist wirklich keine schlechte Idee, kann man Bograč oder Bujta Repa vielleicht meiden, aber wenn man keine Gibanica gegessen hat, war man  einfach nicht hier. Der Besuch gilt nicht. Obwohl diese Mahlzeit ordentlich süß ist und satt macht – die Sahne entfaltet ihre Wirkung.

               Übrigens, wenn Sie sich entscheiden sollten, auf diesem Weg gewonnene Kalorien wieder auszugeben, in jedem Hotel kann man Fahrräder mieten. Der Nationalpark Goričko lockt mit seiner Natur und heißt willkommen. Die Fahrradwege an den Straßen entlang sind entweder fertig oder werden gebaut. Die Slowenen bemühen sich wirklich, die Gäste anzulocken.

Ein Seniorenmassensterben – die Grippeepidemie 2022/2023

  

Ich muss wieder einmal einen meinen Irrtum gestehen. Weil ich zwei Jahre lang keinen einzigen Grippefall behandeln musste, habe ich das Grippe-Virus als eine ausgestorbene biologische Art abgeschrieben. Ich habe einfach das Aussterben dieser Virenart – die wahrscheinlich niemand, vielleicht die Wissenschaftler ausgenommen, nachweinen würde – für einen Kollateralschaden der Covid-Pandemie und der Maßnahmen gegen Covid 19 Virus gehalten.

               Wo sollte das arme Virus überleben? Sicher nicht auf einem Baum oder in einem Ameisenhaufen, nicht einmal unter der Erde kann es das schaffen, es braucht zu seinem Leben und Vermehrung die menschliche Schleimhaut – die wurde zwei Jahre lang durch Masken geschützt und diesen Schutz konnte das arme Virus nicht überwinden. Ich habe ihm bereits ein Grab geschaufelt und wollte eine Kerze auf seinem Grab anzünden – und da erschien die Bestie plötzlich aus dem nichts und wie! Wütend, aggressiv und tödlich.

               Wir wissen im Krankenhaus nicht, was wir tun sollten. So viele Grippefälle haben wir noch nie gehabt und unsere Alten sterben wie Fliegen am Winteranfang. Es sterben mehr alten Menschen als an Covid, was damit zusammenhängt, dass sie derzeit überhaupt nicht geschützt werden.  In Covidzeiten gab es „lock down“, es gab keine Besuche in den Altersheimen, also gab es nur eine sehr minimale Übertragungsmöglichkeiten des tödlichen Virus. Covid schaffte es sogar diese Verteidigungsmaßnahmen durchzubrechen, die arme Grippe war dagegen machtlos. Dann aber stiegen in die Sache die Soziologen und Psychologen ein. Manche wollten habilitieren, manche sehnten sich nach einer Präsentation in den Medien. Sie publizierten Studien, in denen sie sehr beeindruckend das extreme Leiden der armen Pensionisten feststellten, die keine Besuche von Kindern und Enkelkindern empfangen durften und sie beschrieben, in welche Depressionen sie dadurch verfallen sind. Demzufolge fällt niemandem ein, in einem Altersheim oder in einem Krankenhaus Besuche zu verbieten. Und wenn es ihm auch einfallen sollte, versucht er so schnell wie möglich diese Idee zu vergessen. Niemand will auf den Titelseiten der Zeitungen wie ein blutrüstiger Sadist, der seinen Schützlingen Besuche von den mit Grippe angesteckten Kindern und Enkelkindern verwehren wollte, dargestellt werden. Demzufolge sind die Bewohner der Seniorenheime nicht mehr depressiv, anstatt dessen sind sie tot. Dazu kommt, dass der Patientenansturm auf ein von der Pandemie sehr beschädigtes und geschwächtes Gesundheitssystem trifft. Viele Pfleger und Schwester sind gegangen, viele Ärzte folgten ihnen, es gibt gesperrte Betten und ganze Abteilungen. Die Verteidigungslinie ist ausgedünnt.

               So viele Tote haben wir auf unserer Abteilung noch nie gehabt, während eines Weekends starben acht Patienten, sechs davon mit dem Grippevirus im Körper. Im Kühlraum haben wir lediglich vier Plätze, ich habe keine Ahnung, wo die anderen auf ihr Begräbnis gewartet haben.

               Natürlich waren das alles Leute, die bereits vorher schwer krank waren. Chronische obstruktive Bronchitiden, Asthma, Herzschwäche, Demenz. Diese Leute hatte aber Covid ebenso im Visier – trotzdem hat es nicht geschafft, so viele und so schnell umzubringen. Die Krankheitsverläufe sind für uns bisher unbekannt und sehr dramatisch. Das erste Symptom ist häufig – und nicht nur bei alten Menschen – Bewusstlosigkeit, also eine Synkope, häufig noch vor dem ersten Fieberschub. Nach so einem Ereignis eilen die Familienangehörigen mit dem Betroffenen ins Krankenhaus, wo er im Warteraum die dort sitzenden und nichts ahnenden Patienten anstecken, die dort auf eine Untersuchung aus anderen Gründen warten. Schon die Tatsache, dass sie im Warteraum eines Krankenhauses sitzen, zeugt davon, dass es sich nicht um gesunde Leute handelt, und das Virus kann sich austoben. Viele unsere Patienten verfallen in Rahmen der Grippeinfektion ins Delirium, also in einen Verwirtheitzustand.  In dem toben sie, sie verweigern jede Therapie, sie spucken, schlagen herum und versuchen zu flüchten. Viele können diesen Zustand nicht einmal mit Hilfe von Medikamenten überwinden. Sie stürzen, brechen sich den Oberschenkel oder erleiden eine intrakraniale Blutung – die Prognose ist dann ziemlich hoffnungslos. Wir haben keine Kapazität, alle diese Patienten auf der Intensivstation zu behandeln und dort zu warten, bis sich ihre Verwirrtheit und der Zwang zur Bettflucht beruhigt. Die gerontologische Abteilung der Psychiatrie ist sinnlos zu kontaktieren, die systemisierten Betten reichen sogar in den normalen Zeiten nicht aus und die Krankenschwestern aus diesen Abteilungen wurden aus Verzweiflung auf die infektiösen Abteilungen zur Hilfe überstellt, wo sie sich schnell selbst angesteckt haben.

               Es ist ein ziemlich verzweifelter Kampf, mancher deliranter Zustand bessert sich nicht einmal nach Wochen, eine Normalisierung des psychischen Zustandes erleben also viele von diesen Patienten nicht mehr. Die Grippe räumt also die Seniorenheime konsequenter als es Covid tat. Viele Patienten, die stationär aus anderen Gründen waren, steckten sich bei dem Besuch ihrer Verwandten an. In den Zeiten vor Corona wurde in so einer Situation einer Epidemie ein Besuchsverbot erlassen. Aus dem höher eingeführten Grund traut sich das jetzt niemand – es wird allerdings darüber bereits seit Wochen nachgedacht…

               Natürlich fallen unserer Krankenschwestern krankheitsbedingt aus, auf der Intensivstation erkrankten an Grippe fast zugleich acht von ihnen, die übrigen arbeiteten praktisch ohne freie Tage um die Ausfälle zu kompensieren. Ich ziehe den Hut ab vor ihnen. Auch einige unsere Kollegen hat es erwischt.

               Die politische Hexenjagd gegen Impfungen von Herrn Kickl und Frau Belakowitsch brachte ihre Früchte. Ungefähr acht Prozent der Bewohner von Österreich sind gegen Grippe geimpft. (Ehrlich zugegeben, vor der Coronazeiten war es nicht viel besser) Ich gebe zu, dass ich im Fall der heurigen Grippeimpfung auch anfangs skeptisch war. Das Vakzin wird aus den Stämmen der isolierten Viren aus der letzten Saison mit der Berücksichtigung der erwarteten Mutationen produziert. Woher sollten die Produzenten das Material für ein wirksames Vakzin in zwei Jahren ohne Grippe gewinnen?

               Ich habe einige wichtigen Details übersehen. Es gab doch ein Paar Grippefälle. In Wien gab es in der gesamten Saison 2021/2022 3000 Fälle, in Berlin waren es 743 Fälle. Interessant war die Karte von Deutschland. Im Westen gab es die Grippe kaum, die meisten Grippefälle gab es in Ostdeutschland mit Schwerpunkt Sachsen.

               Was mir wirklich entgangen ist, war die Grippeepidemie im Sommer 2022 in Australien. Dort gibt es nämlich Winter, wenn es bei uns Sommer gibt und es ist nur die Frage, ob sie dort in der Entwicklung des Virus ein halbes Jahr vor uns (dann wirkt die aus dortigen Viren gewonnenes Vakzin gut) oder hinter uns (dann wirkt es eben nicht) sind. Heuer waren die Australier offensichtlich vor uns.

               Der Verlauf der Epidemie in Australien war nämlich fast identisch mit der derzeitigen Entwicklung bei uns. Die Epidemie fing früher als üblich an und erreichte ihren Gipfel bereits Ende Mai und Anfang Juni (normalerweise ist es Ende Juli). Sie betraf 212 573 Menschen (ein Jahr früher war es 435 Fälle in dem ganzen Land mit 25 Millionen Einwohnern). In dem gesamten Land starben in Zusammenhang mit der Grippe 246 Menschen, in den Krankenhäusern wurden 1581 Menschen aufgenommen, davon 6,5% auf die Intensivstationen. Im Jahr 2019, also ein Jahr vor dem Ausbruch der Covid-Pandemie, war es noch schlimmer. Es erkrankte ein viertel Million Menschen und 590 davon starben. Also man konnte das Material für die Vakzin für den Winter 2023 bei uns sehr wohl finden. Das aktuelle Vakzin hat nach Angaben des Hygieneinstitut eine Antigenkompatibilität (also gewährleistet den Schutz) gegen 97,4% der Influenza A Fälle (Typ H1N1) und 93,9% gegen den Typ H3N2. Die Fälle, die wir behandeln, sind ausschließlich Influenza Typ A, was der heurigen Statistik entspricht. Es gab Jahre, als diese Übereinstimmung lediglich 15% ausmachte, so ein Vakzin schützte natürlich nicht. Heuer ist die Situation günstig, leider bekamen die Impfgegner Gehör, was zu Folge hunderte Tote hat. Die niedrigen Totenzahlen in Australien wundern mich, sollte es so gehen wie bisher wird Australien in dieser Disziplin sogar von unserem Bezirk mit 80 000 Einwohnern eingeholt. In Australien waren aber vor allem Kinder und Jugendliche krank, bei uns sind das die Senioren, fragen Sie nicht warum.

               Damit die Lage in den Krankenhäusern nicht zu einfach wäre, hat jemand einen dreifachen diagnostischen PCR-Test aus den Schleimhäuten erzeugt, also gleichzeitig für Covid, Influenza und RSV Virus – Respiratorisch Synzytial Virus. Dieses haben wir nie bevor getestet und die Kranken mit diesem Virus nicht isoliert. Jetzt müssen wir das machen. Also getrennt müssen die Patienten mit Covid, die mit Influenza und die mit RSV liegen. Wie wir das mit unseren 60 Betten für 80 000 Einwohner machen sollen, sagt uns niemand. Zwischenzeitlich hatten wir kein einziges Zimmer für Patienten ohne Viren. In einem befreundeten Krankenhaus hat der Direktor entschieden, dass man verschiedene Infektionen nicht mischen darf, dafür aber ganz wohl die Geschlechter. In einem Zimmer liegen also Männer mit Frauen – aber mit dem gleichen Virus. Herr Direktor glaubt wahrscheinlich, dass seine Klientel keine unanständigen Gedanken mehr hat und im Falle der Erkrankung dann schon überhaupt nicht. Er könnte sich ziemlich irren, zumindest nach der Erzählung einer meinen guten Bekannten, die Direktorin in einem Seniorenheim ist. Das müssen wir aber dem Schicksal überlassen, die Viren lassen keine Alternative zu.

               Bereits seit Jahren gibt es ein Medikament, dass die Vermehrung von Viren blockieren und damit die Dauer der Erkrankung verkürzen und die Symptome lindern kann. Bei vielen immun geschwächten Alten könnte es das Leben retten. Man muss dazu aber rechtseitig kommen.  Das Medikament muss man binnen ersten 48 Stunden ab den ersten Symptomen verabreichen, sonst wirkt es nicht. Was nicht so einfach ist. Man muss es zum Hausarzt schaffen, der muss den Test haben und machen und dann das Medikament Tamiflu verschreiben.

               Also entschied ich mich den Schutz gegen das heimtückische Virus in eigene Hände zu nehmen. Man kann nämlich gleich vier Verteidigungslinien bilden.

  1. Der Respirator. Wenn die FFP-Masken zwei Jahre lang verlässlich gegen Grippe schützen konnten, schaffen sie das auch jetzt. Ich empfehle ihre Benutzung allen gefährdeten Menschen. Natürlich ist das Internet bereits voll mit den Informationen über ihre Schädlichkeit, wie man die eigenen Gifte im Körper hält, weil man sie nicht ausatmen kann. Ich trage die FFP2 Maske in der Arbeit (ich gebe zu, dass meine Begeisterung dafür sich in Grenzen hält, sie wirkt aber, also ist sie zu akzeptieren). Ich nehme sie in die Straßenbahn oder in den Bus mit und beobachte, ob jemand in meiner Nähe hustet oder rote Augen hat. Dann setze ich sie an.
  2. Der Sliwowitz war immer ein guter Schutz vor Infektionen, natürlich der von eigenen Zwetschen gebrannte und er muss über fünfzig Prozent Alkohol haben. Das überwindet kein Virus. Natürlich handelt sich um ein Stamperl und nicht um eine Flasche täglich. Die Flasche übersteht das Virus zwar nicht, der Patient aber auch nur schwer.
  3. Die Impfung. Heuer wahrscheinlich doch wirksam. Die, die an die Verschwörungstheorien von Frau Belakowitsch glauben, kann ich beruhigen. Es handelt sich um kein RNA-Vakzin, vor dem die Verschwörungstheoretiker eine panische Angst haben, weil sie um ihre DNA fürchten. Obwohl genau diese Leute diese Änderung eher als eine Chance betrachten sollten. Es ist ein Vakzin der alten Schule. Auch die Nebenwirkungen mit hohem Fieber und Muskelschmerzen, die bei älteren Vakzinen häufig waren, treten heutzutage kaum auf.
  4. Wenn man dann noch Tamiflu von der Apotheke abholen könnte, wird es nicht schaden das zur Hand zu haben, sollte plötzlich ein hohes Fieber eintreten eventuell auch mit einem Kollaps und kurzer Bewusstlosigkeit.

Durch diese Barrieren kommt das Virus nicht durch, ähnlich wie die Russen bei Bachmut, zumindest glaube ich daran. Ich warne allerdings davor, die Verteidigung nur auf die Linie zwei zu reduzieren.

Ich halte euch die Daumen, dass das Virus euch meidet.