Wie alle anderen Kommunen erklärte Lucca nach dem Tod der letzten Markgräfin von Toskana Mathilde im Jahr 1165 ihre Unabhängigkeit. Und wie alle anderen Kommunen wurde sie sofort in die Kämpfe um die Macht und das Geld in der Region verwickelt. Im Jahr 1314 wurde Lucca für eine kurze Zeit von dem mächtigen Nachbarn Pisa beherrscht, dann aber übernahm die Macht in der Stadt Castruccio Castracani. Zuerst half er zwar den Pisanern seine Stadt einzunehmen, er verfolgte aber dabei seine eigenen Ziele. Zwei Jahre später stellte er sich dem pisanischen Stadtverwalter und wurde von ihm sogar eingesperrt. Die Bevölkerung von Lucca holte ihn aber aus dem Gefängnis und er wurde zum Herrscher der Stadt. Als ein überzeugter Ghibellin, also ein Anhänger der kaiserlichen Macht, entschied er sich richtig für die Unterstützung des Kaisers Ludwig IV. von Bayern bei seinem Feldzug nach Italien. Dank dieses Verbündeten beherrschte er nicht nur Pistoia und für eine kurze Zeit sogar Pisa, am wichtigsten war die Einnahme von Carrara, wo bis heute der schönste Marmor abgebaut wird. Man sieht es in Lucca auf jedem Schritt. Seine unzähligen Kirchen sind mit Marmorfassaden geschmückt und im Inneren mit Säulen. Mit Marmor sparte man hier wirklich nicht – letztendlich hatte man es nur für den Preis der Arbeit ohne Zuschlag erwerben können. Das Ergebnis war, dass zum Beispiel die Kirche San Michele mit ihrer Fassade wie eine etwas übertrieben geschmückte Sahnetorte ausschaut.

Bei dem Blick auf jede weitere mit weißem Marmor (aber auch gelblichem oder grauem, wer sollte schon so viele Fassaden aufrechthalten?) strahlende Fassade zahlreicher Kirchen in der Stadt kann ein informierter Mensch nicht widerstehen, sich an den berühmten Condotiere Castracani zu erinnern, dass er davon vielleicht in seinem Grab Schluckauf bekommen müsste.

               Castracani starb im Jahr 1328 unmittelbar nachdem er die Florentiner bei Pistoia in die Flucht geschlagen hatte und Lucca musste um seine Stellung fürchten, besonders aber um seine Marmormienen. Die Stadt wählte eine Lösung, die sich nicht gerade als die glücklichste erwies. Lucca bat um Schutz den tschechischen König Johann von Luxemburg, der gerade dabei war, im Norditalien ein kleines Imperium zu errichten und aus Lucca machte er sogar die Hauptstadt seiner städtischen Konföderation. Damit war zumindest ein Problem von Lucca erledigt, nämlich die Überschüsse des Stadtbudgets. Die waren definitiv dahin. Seinen Sinn konnte allerdings dieser königliche Schutz schon erfüllen. Es ist doch klar, dass eine reiche und wehrlose Stadt mögliche Angreifer viel mehr als eine zwar ausgeplünderte, aber bis auf die Zähne bewaffnete, lockt. Johann von Luxemburg litt bekanntlich an permanenten finanziellen Problemen, er verkaufte seine italienischen Städte und behielt lediglich Lucca. Lucca blieb luxemburgisch bis zum Jahr 1369. Damals erkaufte sich die Stadt von dem Johanns Sohn Kaisers Karl IV. für 100 000 Gulden die Freiheit und wurde zu einer freien Republik. Der wissenschaftliebende Kaiser Karl (in Zusammenarbeit mit Papst Urban V.) schenkte der Stadt wie eine Kirsche auf der Torte auch das Recht eine Universität zu gründen. Lucca verstand dieses Privilegium nicht ganz, weil die Universität wurde – für eine sehr kurze Zeit – lediglich im Jahr 1790 gegründet. Karl schrieb sich in die Geschichte der Region um Lucca auch anders ein – und zwar durch Gründung der Burg Montecarlo ungefähr 13 Kilometer östlich von Lucca. Heute ist die Burg nur eine Ruine, aber unter ihr wuchs eine Stadt, die zum Zentrum des Weinanbaus in der nordwestlichen Toskana wurde. Den Wein habe ich ausprobiert und er ist durchaus trinkbar.

               Lucca blieb eine freie Republik bis zum Jahr 1797, es wurde also nicht ein Teil des toskanischen Großherzogtums der Familie Medici und anschließend der Habsburger. Dadurch konnte es leider nicht von der Reformen Franz Stephans und seines Sohnes Leopold profitieren.

               Im Jahr 1804 krönte sich Napoleon Bonaparte zum Kaiser. Mitglieder seiner Familie bekamen Prinzentitel mit Ausnahme seiner Schwestern Karoline und Elisa, verheiratet Bacciochi. Beide Damen machten dem frischgebackenen Kaiser so eine Szene, dass er schnell verstand, dass er einen falschen Weg gewählt hatte und er entschied sich mit ihnen zu versöhnen. Karoline wurde an der Seite ihres Mannes des Generals Murat die Königin von Neapel und Elisa zur Herzogin von Lucca. Elisa nahm die Sache in die Hand und sorgte dafür, dass die ein bisschen zurückgebliebene Stadt neue Impulse für ihre Entwicklung bekam. Neben der Züchtung von Seidenraupen und damit verbundener Seidenproduktion, reformierte sie das Schulwesen, gründete den bis heute existierenden Botanischen Garten und holte nach Lucca den jungen, noch unbekannten, aber sehr talentierten Nicolo Paganini. Nach dem Fall Napoleons übernahmen die Macht über Toskana und Lucca Bourbonen, die neue Herzogin Marie Luisa setzte aber die Arbeit ihrer Vorgängerin nahtlos fort. Lucca verdankt also seine Entwicklung in eine moderne Stadt diesen zwei Damen.

               Lucca ist ein liebes Städtchen zwischen Bergen, die es von drei Seiten umgeben. Die Stadtmauer tut es dann von allen vieren. Die Stadtmauer wurde im sechzehnten Jahrhundert gebaut, als der alte mittelalterliche Mauerring (von dem zwei Tore übrigblieben) nicht mehr den Anforderungen entsprach, die die Einführung der Artillerie verlangte. Und weil die Stadt niemandem mehr einer Belagerung wert war, erlitt die neue Mauer keinen Schaden. Nicht einmal dann, als die Stadt für offen erklärt wurde. Auf dem Glacis, also in der Entfernung eines Kanonenschusses, durfte nicht gebaut werden. Nach Öffnung der Städte wurden gerade diese Grundstücke zu den wertvollsten für den Bau neuer Stadtviertel. Nicht so in Lucca. Die Mauer blieb unversehrt (wenn wir nicht ein neues Tor Porta Elisa zählen, die Napoleons Schwester in die Mauer schlagen ließ) und wurde zum Park umgewandelt.

Ein Spaziergang auf der Mauer um die ganze Stadt herum ist ein schönes Erlebnis, auf der bis zwanzig Meter dicken Mauer wurden Bäume eingepflanzt, die Schatten spenden und es gibt hier sogar Restaurants – wir sind in Italien, natürlich. Das Glacis ist ein Teil dieses Parks, ohne Bäume mit einem breiten Ring von Rasen Man kann also in Lucca wirklich sehen, wie so eine Befestigung in der Zeit des Barocks ausgesehen und wie sie gedient hat.

               Also Lucca, das sind, wie ich bereits erwähnte, vor allem Kirchen. Angeblich gibt es einhundert von ihnen hier. Ich zählte sie nicht, diese Zahl hat aber auch ihre Vorteile. Zahlreiche der Kirchen sind geschlossen oder zu Museum oder Bibliothek umgebaut, vor jeder Kirche muss aber logisch zumindest ein kleines Plätzchen (oder ein großer Platz) sein und auf jedem Platz in Italien dann eine Trattoria, Osteria oder zumindest eine Bar. Also keine Angst, vor Hunger oder Durst stirbt man in Lucca sicher nicht.

               Die größte Kirche in der Stadt ist natürlich die Kathedrale, die dem heiligen Martin gewidmet ist.

Es ist ein atemberaubendes – natürlich mit Marmor bekleidetes – Gebäude mit einem hohen Campanile, den man besteigen kann. Wirklich schöne Aussichten gibt es aber von dem Campanile nicht, weil die Fenster mit einem dicken Gitter verschlossen sind – die Stadt kann man von hier nicht fotografieren, zu diesem Zweck besitzt Lucca andere Türme. (Es ist der Uhrturm und der Turm Guinigi – aber darüber später) In der Kathedrale ist die größte Attraktion das Kreuz „Volto Santo“, seine Fertigstellung wird dem heiligen Nikodemus zugeschrieben.

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Das Kreuz stammt zwar nachweislich aus dem elften Jahrhundert, diese Tatsache stellt aber seiner Verehrung kein Hindernis dar. Am 13. September wird das Kreuz durch die Stadt in einer feierlichen Prozession getragen, gekleidet in einem Gewand aus silbernem vergoldetem Schmuck und mit Diamanten, diese Artefakte kann man in dem Kathedralmuseum sehen (es gibt eine gemeinsame Eintrittskarte für die Kathedrale, das Museum und den Campanile). Aus den Bildern, die auf den Wänden der Kirche hängen (die Kirchen von Lucca sind von außen fantastisch, in ihrem Inneren aber relativ bescheiden geschmückt, auf den kahlen Wänden gibt es nur Bilder aus der Zeit der Renaissance oder dem Barock) ist das wertvollste „Das letzte Abendmal“ von Tintoretto. In dem linken Schiff gibt es ein Grabmal von Ilaria del Caretto. Diese junge Dame war die Gattin Paolo Guinigis, sie starb im Jahr 1406 im Alter von 24 Jahren bei einer Geburt. Der trauende Gatte ließ für sie von dem größten damaligen Meister Jacoppo dela Quercia ein Grabmal aus Marmor herstellen (anders geht es in Lucca nicht) und setzte seine Platzierung auf die Stelle, die aller meisten Prestige versprach – also in der Kathedrale – durch.

               Paolo Giunigi war nämlich kein armer Schlucker. Im Jahr 1400 gelang es ihm, die Macht in der Stadt an sich zu reißen und für weitere dreißig Jahre die republikanische Verfassung außer Kraft zu setzen. An die Familie Guinigi erinnert einerseits ihr Palast, in dem es heutzutage die örtliche Pinakothek gibt (Museo Nazionale di Villa Guinigi), und andererseits der Aussichtsturm „Torre Guinigi“ (der sich nicht im Palast befindet, sondern in Casa Guinigi im Stadtzentrum). Für sechs Euro darf man auf 240 Stufen auf seine obere Plattform steigen, wo überraschenderweise große Bäume wachsen, die während des Fotografierens der Stadt aus der Vogelperspektive Schatten spenden.

Guinigi verteidigte die Stadt im Jahr 1429 gegen anrückende Florentiner, während sein Sohn Ladislaus eine Hilfe des Entsatzheeres unter der Anführung des zukünftigen Herrschers von Mailand, damals aber noch Condottiere, Francesco Sforza holte, die die Stadt rettete. Allerdings ist das die Undankbarkeit, die die Welt beherrscht. Es folgte ein Volksaufstand, Guinigi wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Bürger trauten sich nicht ihn hinzurichten, er starb zwei Jahre später in einem Gefängnis in Pavia.

               Das Zentrum des bunten Treibens des Lebens in der Stadt ist die „Piazza Napoleone“ mit dem Herzogspalast. Obwohl Lucca eine Republik war, hat es irgendwie vorbeugend im sechzehnten Jahrhundert einen Palast für einen Herrscher gebaut. Das kam gut an, als die Herrschaft in der Stadt Elisa Bonaparte und nach ihr Maria Luise von Bourbon übernahmen. Heute gibt es hier den „Palazzo della Provincia“, also eine Verwaltungszentrum.

               Nur ein paar Schritte entfernt gibt es die wahrscheinlich schönste Kirche in Lucca „San Michele in Foro“. Der Kult des Erzengels Michael haben germanische Stämme betrieben, vor allem die Langobarden. Lucca liegt tatsächlich auf der Geraden zwischen dem Kloster Saint Michelle in der Bretagne und der Grabstätte der langobardischen Könige in Monte San Angelo in Apulien. San Michele spielte also in Lucca, ähnlich wie in Pavia, die wichtigste Rolle und übertraf damit die Bedeutung der Kathedrale. Die Kirche wurde auf dem ehemaligen römischen Forum zwischen den Jahren 1070 und 1383 gebaut (davon trägt sie ihren Namen) und man sparte mit Marmor wieder einmal nicht. Im Inneren kann man die Kanzel von Andrea della Robia bewundern (der sich an der Dekoration der ursprünglichen Fassade des Doms in Florenz beteiligte) oder ein Bild von Filippino Lippi links von der Apsis.

               Wenn jemand noch Lust hat, kann man weitere Kirchen Besuchen. Zum Beispiel San Frediano (mit einem atemberaubenden byzantinischen Mosaik an der Fassade der Kirche, einem großen romanischen Baptisterium und einem Triptychon aus Marmor „Madona mit Kind und Heiligen“ von Jacoppo della Quercia. Die erste Kirche auf dieser Stelle ließ der heilige Fredianus bauen, ein Mönch aus Irland, der in Lucca zum Bischof wurde (er starb im Jahr 580). In Lucca gibt es einen ziemlich morbiden Brauch, dass in fast jeder Kirche unter dem Altar eine Leiche eines Heiligen oder Seligen als heilige Reliquie ausgestellt wird. San Frediano hat mit der Leiche seines Bischofs nicht genug, deshalb gibt es hier auch noch die Reliquie der heiligen Zita. Zita war eine einfache Magd, die in den Jahren 1212 – 1272 in Lucca lebte. Sie machte sich durch ihre Pflege der Kranken und Schwachen berühmt, nicht umsonst trägt ein Altersheim in der Nähe von San Frediano ihren Namen.

               Eine weitere besuchswerte Kirche ist „San Francisco“ am Rande der Stadt oder „Santa Maria Forisportam“ (der Name deutet an, dass die Kirche außerhalb der mittelalterlichen Mauer lag, was das naheliegende Tor des heiligen Gervasius mit zwei erhaltenen Türmen der damaligen Stadtbefestigung und ein Kanal, der heute durch die Stadt fließt, aber damals ein Teil der Befestigung war, beweisen.

Nicht nur von der Kirchen lebt ein Mensch. Lucca hat viel mehr zu bieten. Aber darüber in zwei Wochen.

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