Category: Kurzgeschichten

Die Rückkehr eines Kriegers

„Troja wurde bereits vor zehn Jahren vernichtet“, sagte einer der Männer, die vor der Hütte saßen. Es war ein schöner Tag, vom Meer wehte ein frischer Wind und zerzauste ihre Haare. Beide waren schon alt, aber während der eine, der gerade das Ferkel aufschnitt und seine Teile auf den Bratspieß spießte, durch sein Leben und seine Arbeit alt geworden ist, das Alter des anderen wirkte unecht. Er hatte zwar faltige Haut alter Männer und von Salz vertiefte Falten um die Augen und Mund, aber seine Augen, obwohl müde, zeugten von einem jüngeren Alter, als seinen grauen Haaren und dem Bart entsprachen. Er redete nur wenig, er beobachtete verträumt die Hügel der Insel, es lag also an dem anderen, die Konversation am Laufen zu halten.

            „Es ist schon zehn Jahre her“, setzte der ältere von ihnen fort, der Hirt namens Eumaios. „Trotzdem wird noch immer davon erzählt. Es war ein großer Krieg, einen solchen haben Griechen noch nie erlebt.“

            „Ein Krieg ist immer eine abstoßende Sache“, erwiderte der andere. „Es gibt Tote und Jammer. Abgeschlachtete Leute und niemand weiß, warum sie sterben mussten. Vergewaltigte Frauen und ermordete Kinder. Grausamkeiten, für die man sich bereits am Tag danach schämt, und diese Scham hält bis ans Ende seiner Tage an. Im Wahnsinn des Gemetzels der Schlacht wird man aber zu einem Tier, das seinen Trieb nicht beherrschen kann und tötet ohne nachzudenken.“

„Warst du also auch im Krieg?“ fragte Eumaios.

Der andere nickte. Er sagte nichts und senkte den Kopf.

„Du bist also ein Held,“ wollte der Hirt nicht locker lassen.

„Held?“ es schien, als ob sein Gast das Wort ausgespuckt hätte. „Helden sind die, die starben. Die müssen sich nicht mehr für ihre Taten schämen, über die darf man verherrlichende Sagen singen. Ich bin am Leben geblieben.“

Der Hirt war fertig mit seiner Arbeit. Er legte den Spieß mit Ferkelteilen über das Feuer, er legte große Holzscheite aus Lärche hinan und setzte sich näher zu seinem Gast. Er erkannte, dass es sich um einen unglücklichen, müden Menschen handelte und er tat ihm leid. Er hätte ihn am liebsten um die Schultern umarmt, um ihn zu trösten, er schreckte aber vor einer so großen Vertraulichkeit zurück. Er suchte nach den richtigen Worten.

„Krieg ist einmal Krieg“, sagte er dann. „Im Krieg tötet jeder um nicht selbst getötet zu werden. Es ist daher nicht notwendig sich deshalb zu grämen oder sich etwas vorzuwerfen. Es gibt andere Verbrechen, die man nicht verzeihen kann. Du solltest nicht daran denken.“

„Ich hatte viel zu viel Zeit zum Nachdenken“, lächelte der andere mit grauen Haaren und jungen Augen bitter. „Ganze sieben Jahre lebte ich bei einer Frau namens Kalypso am Ende der Welt nahe der Heraklessäulen. Ich hatte genug an Speise und Trank. Ich musste nicht arbeiten, ich durfte ganze Tage in der Sonne liegen, nur in der Nacht musste ich meine Gastgeberin lieben. Sie verlangte von mir nichts anderes.“

„Das ist eine schöne Geschichte“, lächelte der Hirt.

„Bei solchem Faulenzen muss man aber die Zeit irgendwie vertreiben und das tut man durch Nachdenken. Das Faulenzen ist nichts Gutes für jemanden, auf dessen Seele ein Verbrechen lastet. Deshalb flüchtete ich aus diesem Paradies und ertrank beinahe bei der Insel der Phäaken. Vielleicht sehnte ich mich nach dem Tod, als ich Kalypso verlassen habe, was sonst konnte ich in den Wellen des endlosen Ozeans suchen? Die Götter erlauben aber niemandem zu gehen, dessen Zeit noch nicht abgelaufen ist.“

„Vielleicht hast du noch eine Aufgabe auf dieser Welt“, sagte der Hirt, als er aber bemerkte, dass sein Gast ungeduldig und ablehnend den Kopf schüttelte, wechselte er das Thema des Gespräches.

„In welchem Krieg hast du gekämpft? Erzähle mir über dein Schicksal, bis das Fleisch fertig gebraten ist. Für einen Mann, der sein ganzes Leben zwischen seinen Schweinen verbracht hat, sind alle Erzählungen über fremde Länder verlockend und interessant. Auch wenn sie von Blut durchtränkt sind.“

„Ich war bei Troja“, sagte der andere. „Das reicht, um alles zu wissen.“

„Also bei Troja“, freute sich Eumaios. „Dort war auch unser König. Der größte aller Helden! Ohne ihn hätte man Troja niemals erobert, zumindest so wird es erzählt. Unser König Odysseus hatte schnelle Beine und ein noch schnelleres Denken. Sein Sohn watschelte noch, als er von den Boten des Königs Agamemnon ausgesucht wurde. Er wollte nicht in den Krieg ziehen. Er pflügte das Feld mit einem Pferd und einem Ochsen, so ein Gespann dachte er sich aus, um für einen Narren gehalten zu werden und er säte Salz in die Furchen. So sehr wollte er bei seiner jungen Frau und seinem kleinen Sohn zu Hause bleiben. Die königlichen Boten zwangen ihn aber zu gehen, sie durchschauten seine List, als sie sein Söhnchen in die Furche legten und er sein Gespann anhielt. Er wäre derzeit über vierzig Jahre alt.“ 

„Kam er nicht zurück?“ fragte der andere mit einer hohlen Stimme.

„Würde es auf Ithaka so aussehen, wie es aussieht, wäre er zu Hause? Ich kann dir zum Essen nur ein Ferkel anbieten, weil ich alle Mastschweine in die Stadt abliefern musste. Dort wird seit Wochen geprasst. Gut zwanzig Anwärter bewerben sich um die Hand unserer Königin Penelope, jeder von ihnen will aber vor allem an ihrer Seite König werden. Es ist eine Bande von Räubern und Betrügern und es gibt niemanden, der sie zähmen könnte“. Der Hirt wurde zornig, unterbrach aber seine Rede, als er bemerkte, mit welchem Blick ihn sein Gast anschaute.

„Odysseus hatte doch einen Sohn“, sagte der Fremde und seine Stimme zitterte.

„Ja, er ist da, aber ein Sohn ist nur ein Sohn, der Ehemann ist der Herr im Hause. Télemachos ist stark und tapfer. Wie sollte er aber die ganze Bande, die seinen Palast besetzte, vertreiben? Er hat doch keinen Beweis, dass sein Vater am Leben ist, um in seinem Namen handeln zu können. Der Augenblick ist nicht sehr weit, in dem Penelope einen der Freier zu ihrem Mann wählen muss. Sie kann mit ihrer Entscheidung nicht ewig zögern.“

„Sind alle so böse?“ zweifelte der Gast.

„Möglicherweise nicht“, sagte der Hirt. „Eurymachos hat Weisheit, Antinoos wieder Kraft und Sorglosigkeit. Vielleicht sind sie nur zu jung, um über das Leben und ihre Taten nachzudenken.“

„Viele Menschen mussten sterben, weil sie über ihre Taten nicht nachgedacht haben“, sagte der Fremde düster. „Es reicht manchmal nur so wenig und die Worte werden unmittelbar vom Tod gefolgt.“

„Deine Toten plagen dich“, bemerkte der Hirt und drehte langsam den Spieß.

„Nicht alle“, widersprach der Gast. „Die, die ich im Kampf getötet habe, stören meinen Schlaf nicht. Sie hätten mich getötet, wäre ich nicht geschickter als sie. Nur ein Toter plagt mich und lässt mich nicht schlafen. Eigentlich eine Tote.“

„Sie war also eine Frau“, sagte der Hirt. „Hast du sie aus Leidenschaft getötet?“

Der Gast schüttelte den Kopf. „Nein, so war es nicht. Ich tötete sie weder mit meinem Schwert noch erwürgte ich sie. Ich tötete sie mit einem Wort, aber umso furchtbarer war meine Tat. Weil ihr Sterben zu lange dauerte.“

„Erzähle mir deine Geschichte, Mensch“, bot ihm Eumaios. „Es kann dir helfen. Sicherlich hast du es vielmals der Frau erzählt, die dich sieben Jahre lang in ihrem Schoß versöhnen wollte. Erzähle es aber noch einmal einem bedeutungslosen Alten, weil die Gewissenbisse wie ein Becher mit Galle sind, der sich nach jedem Entleeren wieder füllt.“

„Sie hieß Iphigenia“, sagte der Fremde.

„So hieß auch die Tochter des gestorbenen Königs Agamemnon aus Mykene. Sie wurde in Aulis vor dem Feldzug nach Troja geopfert“, unterbrach ihn Eumaios.

„Das ist die, von der ich rede“, sagte der Gast still und in seinen Augen erschienen Tränen. Als ob er seine Erzählung nicht fortsetzen konnte, fragte er: „Agamemnon ist tot?“

Der Hirt nickte. „Schon seit zehn Jahren. Er wurde von seiner Frau Klytamnestra ermordet. Noch am Tag, als er von Troja nach Hause zurückkam.“

Der Fremde senkte den Kopf. „Ja“, sagte er. „So musste es enden. Sie begann ihn gerade damals zu hassen. Gerade in dem Augenblick, als ich ihr Kind dem Tod ausgeliefert habe. Sie dachte, er hätte das getan.“

„Ich verstehe dich nicht, Herr“, sagte der Hirt erstaunt.

„Wir waren zu dritt, als der Oberpriester der Göttin Artemis, Kauleas, die Prophezeiung verkündete. Furchtbare Prophezeiung. Agamemnon, Menelaos und ich hörten, dass Artemis nach der ältesten Tochter Agamemnons als Opfer verlangte. Nur so beginnt der Wind zu wehen, der uns nach Troja bringt. Wie schwuren alle drei, dass dieses Orakel niemand erfahren durfte. Und ich verriet es dem Heer.“

„Du kannst dir nicht vorstellen, was dort vor sich gegangen ist“, setzte der Fremde nach einer Weile des Schweigens fort. „Tausendzweihundert Schiffe und fünfzigtausend Männer drängten sich auf den Stränden von Aulis und warteten bereits seit Wochen auf einen günstigen Wind. Es gab Träumer unter ihnen, die nur nach Ruhm strebten, es gab dort Männer, die durch das Gold von Troja reich werden wollten. Es gab unter ihnen aber auch Männer, die nur das Verlangen nach Blut und Gewalt in den Krieg lockt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie bunt, schön, aber auch grausam jede Armee ist. Eine Armee aber, die nicht kämpft, hört auf, schön zu sein. Sie ist dann nur mehr grausam. Im Lager mehrten sich Verbrechen, jeden Tag starben Männer bei Streitereien und Schlägereien. Es gab keine Hoffnung auf Besserung, die Moral verfiel soweit, dass Soldaten sogar dem Oberbefehlshaber Agamemnon mit dem Tod drohten und ihn gleichermaßen wie seinen Bruder Menelaos und seine schöne Dirne Helena hassten. Und in diesem Moment kam Kauleas und bot eine Lösung an. Für den Tod von Iphigenia kommt der richtige Wind. Man muss nur ein Leben opfern, um später Tausende Leben zu vernichten.“

„Hast du ihm geglaubt?“ fragte der Hirt mit Furcht in seiner Stimme.

„Damals habe ich noch an Götter geglaubt“, antwortete der unechte Alte. „Ich war viel zu jung, um an ihnen zu zweifeln. Trotzdem habe ich damals, als Kauleas sein Orakel verkündet hatte, gezweifelt. Vielleicht zitterte seine Stimme von Genugtuung oder von schlecht verborgener Ungeduld. Für einen Augenblick hatte ich Gefühlt, dass nicht die Göttin Artemis, sondern er selbst nach dem Blut der Tochter Agamemnons verlangte. Er versteckte sich hinter der Göttin um dem größten aller Anwesenden zu schaden. So ein Mensch war er und heute bin ich mir schon so gut wie sicher, dass wir damals in eine Falle tappten und dass es nicht Artemis, sonder Kauleas selbst war, der Kinderblut fließen sehen wollte.“

„Du hast aber das Orakel dem Heer verraten. Warum, wenn zu Zweifel hattest?“

„Vielleicht nur, damit mich die Soldaten liebten. Vielleicht nagte beim Blick auf Agamemnons Ruhm Neid in mir. Finde die wahren Impulse für deine Taten! Wahrscheinlich habe ich Agamemnon gehasst, obwohl ich mir das nicht eingestanden habe, weil den Hass auf den Oberbefehlshaber darf man nicht einmal vor sich selbst eingestehen.“

„Es war so einfach“, setzte er fort. „Wenn der König seine Tochter opfern würde, käme der Wind. So habe ich das gesagt. Und die Armee begann von Begeisterung zu brüllen. Von Begeisterung, weil ich ihnen die Hoffnung gab, aber auch in der Erwartung einer grausamen Vorstellung, auf die sie begonnen haben sich zu freuen. Ich sah ihre Begeisterung, die ich mit meinen Worten ausgelöst hatte und ich kam mir mächtig wie ein Gott vor. So groß war dieser Moment.“

„Es war einfach“, erklärte er, „weil Iphigenia in diesem Augenblick nur ein unbekannter Name und die Begeisterung der Soldaten anwesend und spürbar war. Damals war ich überzeugt, dass ich richtig handelte. Es reichte der Applaus tausender Tölpel um mein Gewissen zum Schweigen zu bringen. Das Gewissen protestierte nämlich. Viel später verstand ich, wie sehr es sich gegen diese Tat wehrte.“

„Dann änderte sich aber alles“, sagte der Gast langsam. „ im Moment, als sie in das Lager gebracht wurde. Ein junges Mädchen, viel mehr noch ein Kind als eine Frau. Mit einem ahnungslosen kindlichen Blick voll mit fröhlicher Erwartung. Niemand sagte ihr, dass sie getötet wird. Ihr eigener Vater redete ihr ein, dass er sie vermählen wollte. Deshalb freute sie sich so sehr, weil ihr Bräutigam der schönste aller Griechen sein sollte. Achilles, der Sohn des Peleus.“

„Er war ein Trottel“, setzte der Fremde fort und spuckte ins Feuer. „Ich wusste es immer und vor Troja bestätigte er diese meine Ahnung hunderte Male. Er war aber genau der Typ, dessentwegen  Frauen ohnmächtig werden, wenn er sie anschaut. Frauen können nichts für die Unartigkeit  ihrer Gefühle. Sie besitzen keine Muskeln und keine Schwerter. Sie kämpften immer mit List und ihre Schwäche war ihre größte Stärke. Wir konnten der kleinen Iphigenia nicht übel nehmen, dass sie sich in den Schönling verliebte, der ihr nicht bestimmt war.“

„Furchtbar begann es zu werden, als sie die Wahrheit erfuhr. Plötzlich war hier ein wirklicher Mensch, weinend und klagend. Sie flehte ihren Vater um ihr Leben an, aber er konnte ihr es nicht mehr geben. Seit dem Moment, als ich den Willen der Götter der Armee offenbarte, war sie genauso tot, als ob ich ihr selbst die Kehle durchgeschnitten hätte.“

„Es war für alles zu spät“, sagte der Mann bitter. „Hundertmal wollte ich ihr helfen, sie befreien und wegbringen. Mein Herz brach bei dem Anblick ihrer Verzweiflung. Die gesagten Worte konnte ich aber nicht mehr zurücknehmen und hinter unserem Rücken wuchs die schrecklichste Naturgewalt, die einmal auf der Welt freigelassen wurde. Der menschliche Fanatismus und das Verlangen nach Blut, nach Grausamkeit. Fünfzigtausend Männer wollten sie bluten sehen, weil ich ihnen eine Entschuldigung für ihr Verbrechen angeboten hatte. Der Wille der Götter! Dadurch waren sie unschuldig und durften das Martyrium des Mädchens genießen. Hätte ich in diesem Moment zu ihnen gesagt, dass es alles Lüge sei, die Priester Kauleas frei erfunden hätte, hätten sie mich zerfleischt. Deshalb schwieg ich, als ihr der Opferkranz auf den Kopf gelegt und sie zum Altar geführt wurde. Ich schwieg und das Heer sah einen Anführer in mir. Den größten Verbrecher unter ihnen allen. Das versöhnte sie mit mir und deshalb vergötterten sie mich in diesem Augenblick.“

„Sie wurde getötet“, sagte er mit einer düsteren Stimme. „Das ist mein ganzes Verbrechen.“

Das Fleisch war fertig. Eumaios überreichte das beste Stück dem Gast und beide aßen still.

„Es ist eine große Geschichte“, sagte der Hirt, langsam das Fleisch kauend.

„Für alles zahlt man“, antwortete sein Gast. „Für den einen Augenblick des berauschenden Glücks vor einer tobenden Menschenmasse zahle ich mit zwanzig Jahren Irrfahren.“

„Was hast du vor, weiter zu machen?“ fragte Eumaios.

Was werde ich tun? dachte der Gast. Was soll ich tun? Ich dachte, ich wäre endlich nach Hause zurückgekehrt. Ich war so glücklich, als ich auf dem Ufer dieser Insel aufwachte und mir gesagt wurde, es wäre Ithaka. Ich dachte, ich werde zu meiner Frau gehen und meinen Sohn umarmen. So erträumte ich es. Und jetzt? Als ob das alles nur eine Täuschung wäre. Mein Sohn ist groß und fähig für sich selbst zu sorgen. Er braucht mich nicht mehr, wenn ich ihm die ersten zwanzig Jahre seines Lebens kein Vater war. Und meine Frau? Sie hat in ihrem Haus zwanzig Anwärter, meistens jünger und schöner als ich es bin. Sorglosere und unermüdlichere im Bett. Der Hirt sagte, sie wäre mir die ganzen zwanzig Jahre treu gewsen. Verdiente ich es überhaupt? Wenn ich zu ihr gehen würde, würde ich den ganzen Rest meines Lebens mit einem Schuldgefühl leben müssen. Was bedeute ich ihr noch? Eine Erinnerung? Oder nur einen Vorwand für ihre Angst zu wählen? Den weisen Eurymachos wählen, der verspricht, ein treuer Ehemann zu sein auch, wenn sie schon alt und nicht begehrenswert wird, oder den starken und sorglosen Antinoos, mit dem sie noch prachtvoll die letzten Jahre erleben könnte, in denen sie noch begehrenswert bleibt. Was soll ich dort tun? Welchen Platz habe ich in dieser Geschichte?

„Ich weiß nicht, Eumaios“, sagte er endlich. „Ich werde weiter durch die Welt irren. Wenn du für mich ein Boot besorgen könntest, würde ich auf das Festland segeln. Ich möchte weiterhin meine Heimat suchen. Und das Vergessen.“

„Du könntest auch hier bleiben“, meinte der Hirt. „Du bist kein schlechter Mensch und der zukünftige König Telemachos braucht Männer wie dich.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich habe hier nichts verloren. Ich fühle, dass hier getötet wird. Um die Brautschau der Königin wird Blut fließen. Möglicherweise tötet Telemachos die Freier, möglicherweise sie ihn. Ich habe hier nichts zu tun. Ich mag nicht mehr töten, ich kann nicht mehr gegen einen Menschen das Schwert erheben. Ich weiß, wie leicht es ist und ich möchte die Versuchung meiden. Der Becher mit Blut, das ich vergossen habe, ist bereits voll. Ich will nicht, dass er überlaufen würde.“

In der Umzäunung begannen Hunde zu bellen. Anders als bei seiner Ankunft, als sie ihn beinahe zerfetzten. Jetzt grüßten sie jemanden Bekannten und in ihrem Bellen konnte man Freude erkennen. Der Hirt stand auf und schaute nach dem Kommenden.

Es kommt offensichtlich ein guter Mensch, dachte der Gast. Hunde erkennen das Gute in einem Menschen, deshalb grüßen sie ihn so freundlich. Mich wollten sie umbringen. Aber – was Gutes tat ich schon in meinem Leben?

Der Hirt begann zu zittern und das Gefäß mit Wein fiel ihm aus den Händen zu Boden. „Télemachos“, rief er. „Prinz Télemachos.“

Der vorzeitig ergraute Mann erzitterte. Er kommt! Dem Schicksal kann man nicht entkommen. Wenn hier heute zufällig nicht dieser Junge erschienen wäre, hätte er ein Boot bestiegen und für immer diese Insel verlassen. Er fühlte, dass er das jetzt nicht mehr schaffen würde. Das Schicksal verfolgte ihn und er konnte keinen Vorsprung vor ihm gewinnen.

Der Junge stand vor ihm. Er war ein schöner, großer junger Mann mit noch etwas schmalen Schultern. Seine Barthaare begannen nur zu wachsen, er strahlte aber vor endlosem Selbstbewusstsein. Schaute ich auch so aus? dachte der Gast. Damals, als ich mit dem Gespann aus Pferd und Ochs pflügte und Salz in die Furche streute? Damals war ich auch noch schön und jung und wollte keinesfalls diesen Jungen und seine Mutter verlassen. Und damals belastete mich noch kein Verbrechen.

Er stand vom Fell auf, um den Prinzen Platz zu machen.

„Bleib sitzen, Fremder“, hielt ihn Télemachos mit einer Stimme an, der man nicht widersprechen konnte. „Ich setze mich woanders hin, es gibt hier genug Platz.“

Er ist selbstbewusst, dachte der Gast. Er lernte zu herrschen, er wird nicht mehr gehorchen können. Wozu bin ich also hier?

Sie saßen zu zweit beim Feuer, der Hirt lief irgendwohin weg, um neuen Wein zu holen. Telemachos erzählte beim Essen über die Verhältnisse im Palast und über seine erfolglose Fahrt nach Sparta zu König Menelaos mit der Bitte um Verstärkung. Der andere schwieg. Er hielt es für entbehrlich zu bemerken, dass Menelaos der gleiche Egoist blieb, wie er es immer schon war. Es drängten andere Worte aus ihm. Er versuchte sie mit dem ganzen Willen zu unterdrücken. Dann verlor er diesen Kampf. Er sprach.

„Télemachos“, sagte er. „Ich bin dein Vater Odysseus. Ich kehrte zurück.“

Der Junge erstaunte. Dann schaute er ihn ungläubig an. Odysseus bemerkte, dass er dabei seine Hand auf dem Schwertgriff hielt. Er ist misstrauisch, dachte er. Er lernte, misstrauisch zu sein. Er hatte niemals jemanden, der ihn beschützt hätte. Er lernte allein zu kämpfen, er braucht niemanden mehr.

Telemachos rührte sich nicht. Also musste sein Vater aufstehen. Er wandte sich zu ihm und umarmte ihn. „Ich bin dein Vater, Junge“, wiederholte er, seine Stimme war aber nicht mehr freudig und aus den Augen kamen keine Freudetränen. Er fühlte nur eine furchbare Müdigkeit.

Der Junge erwiderte die Umarmung nicht. Nur als sich der Vater von ihm entfernte, verbeugte er sich und sagte: „Sei willkommen.“

„Es ist gut, dass du gekommen bist“, sagte er dann. „ Es ist die höchste Zeit. Ich brauche deine Hilfe, weil wir endlich die Ordnung in unserem Palast widerherstellen müssen. Mit deiner Hilfe vertreibe ich alle die Freier, die sich dort breit machen. Wer sich wehren würde, den werden wir töten. Du bist zurück, alles kann also nach dem Recht ablaufen.“

„Es spricht Hass aus dir, mein Sohn“, sagte der Alte. „Hass, den nur die Jugend spüren kann. Jahre des Leidens stumpften solche Gefühle ab. Setzen wir uns und reden wir, ob man die Sache nicht anders erledigen könnte.“

Télemachos setzte sich nicht. In seinem Blick gab es Erstaunen, das rasch in Zorn überging.

„Willst du mir nicht helfen?“ fragte er noch verwundert, aber er setzte schon anders fort. Seine Stimme zischte. „Du hilfst mir! Du musst! Es ist deine Pflicht und ich erlaube dir nicht, ihr zu entgehen. Wir töten alle! Für alle Erniedrigungen, für alles Unrecht, das sie begangen haben. Mit deiner Hilfe schaffe ich das. Kein einziger wird überleben!“

„Ich mag nicht mehr töten“, sagte er still.

„Du musst aber“, erwiderte sein Sohn hart. „Sonst gebe ich bekannt, dass du zurück bist. Sie werden kommen, dich zu töten und dich dann für einen Betrüger zu erklären. Versuche nur mich abzulehnen und du wirst sterben. Mit mir wirst du wieder zum König. Du hast keine Wahl! Du hast sie nicht, seit du auf dieser Insel gelandet bist und seit ich dich erkannte.“

Odysseus staunte. So hat sich das also das Schicksal ausgedacht. Alles kommt zurück. Für alles zahlt man. Er gab damals dem Mädchen auch keine Wahl. Sie musste sterben, egal, wie sich die Sache entwickeln mochte. Sie wollte nicht sterben, sie musste es aber. Er will nicht töten, aber er muss. Alles kommt zurück, man kann nicht entkommen. Also gut, der Becher mit Blut soll zum Überlaufen gebracht werden.

„Gut, Junge“, sagte er langsam. „Gut. Ich komme mit dir.“

Siegreiche Rückkehr – Kurzgeschichte

AGAMEMNON I

               Soldaten marschierten durch ein langes Tal, das Mykene vom Meer trennte und sangen. Ihre Stimmung war gut, wie es schon so bei einem Heer, das vom siegreichen Krieg nach Hause zurück kehrt, üblicherweise ist. Besonders, wenn ein solcher Krieg ganze zehn Jahre gedauert hatte. Er beobachtete sie mit Stolz. Er führte sie zum Sieg, es ist sein Verdienst, dass die mitgeführten Wagen voll mit Beute waren. Ein beträchtlicher Teil der Beute ist übrigens noch auf den Schiffen geblieben, auf denen sie gestern zur Küste kamen. Die Soldaten verfielen in einen sonderbaren Rausch, der sie in der Nähe der Heimat, die sie zehn Jahre nicht gesehen haben, beherrschte. Sie konnten den Marschschritt nicht mehr halten, um so lauter jubelten sie ihrem großen König Agamemnon zu.

               Ihre Bewunderung umspülte ihn wie ein warmes Bad, sie floss über seinen Körper, über seine Arme, die er zu seiner Stadt, zu Mykene, deren mächtige Stadtmauern auf dem Horizont auftauchten, ausgestreckt hatte. Er liebte es immer, geliebt und geachtet zu werden. Deshalb zögerte er keinen Augenblick, als ihm griechische Könige die Führung des Straffeldzuges gegen das weitentfernte Troja angeboten hatten. Übrigens war Menelaos, der unglückselige und geschmähte König von Sparta, dessen Frau der wüste Prinz von Troja, Paris, entführt hat, sein Bruder. Damals ahnte er natürlich nicht, wieviel Leid dieser Krieg den Griechen und ihm persönlich bringen würde. Er verlangte nur nach Sieg, Beute und Ruhm, nach Brechen der Hindernisse. In jedem Mann ist ein Raubtier versteckt und dieses erwachte damals in ihm. Jetzt war die Geschichte endlich hinter ihnen. Troja wurde niederbegrannt, seine Bewohner getötet oder vertrieben. Die legendären Schätze des Königs Priamos wechselten in die griechischen Schiffe und er brachte jetzt einen beträchtlichen Teil dieses Schatzes als Geschenk seiner Frau und seinem Volk. Er hatte also einen guten Grund stolz zu sein.

               Trotzdem spürte er ein Gefühl der Enge in seiner Brust. Er versuchte es zu vertreiben, zu unterdrücken, es kehrte aber immer wieder zurück, besonders die letzten Tage war es sehr lästig gwesen. In der Schlacht vergisst man manche Dinge, aber sobald die Schlacht zu Ende ist und der Rausch des Sieges verblasst, beginnen einen lästige Gedanken zu plagen und es ist schwer, sie zu verdrängen.

               Seine Frau Klytamnestra hatte er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Das ist eine viel zu lange Zeit, um nicht mit Sorge der bevorstehenden Begegnung entgegen zu blicken. Als er sie damals verließ, war sie nicht mehr jung, sie hat bereits den Dreißiger überschritten. Wer wird ihm jetzt begegnen, wer wird ihn begrüßen? Wird es möglicherweise eine alte graue Frau mit einigen letzten Zähnen sein, von der er sich mit Ekel abwenden würde? Und die Kinder! Wie schauen seine Kinder aus? Orestes watschelte noch, als er ihn das letzte Mal sah. Er ist jetzt zwölf. Und seine älteren Schwestern, Elektra und Chrysostomis? Iphigenia wäre vierundzwanzig. Wäre… Vielleicht hätte sie ihn bereits mit Enkelkindern erwartet, nicht alle griechischen Jungen suchten den Tod in dem verrückten Krieg unter den Mauern von Troja. Iphigenia… Lieber nicht nachdenken, so eine Erinnerung tut auch noch nach zehn Jahren weh.

               Er ging mit seiner Gattin nicht in Gutem auseinander. Er wusste, dass er sie verletzt hatte, furchtbar verletzt, er hoffte aber, dass sie es verstand, dass er nicht anders handeln konnte. Dass er keine Wahl hatte. Als sie sich verabschiedete, verfluchte sie ihn. Weibliche Tücken haben aber keine lange Dauer und zehn Jahre ist eine verdammt lange Zeit. Die Zeit beruhigt die Gemüter, die Zeit heilt die Wunden und stillt die Schmerzen. Er kommt jetzt wie ein großer Sieger. Solche werden von den Frauen verehrt, solchen stürzen sich die Frauen zu Füßen. Er wird den Palast in der goldenen Rüstung des Königs Priamos betreten, umbeben von seinen Soldaten und wehenden Fahnen. Das Volk wird jubeln und Siegeschoräle singen. So bricht man den weiblichen Hass und verändert ihn zur Bewunderung. Klytamnestra wird keine Alternative haben als sich zu seinen Füßen zu stürzen, damit er sie erheben und an seine Brust schmiegen kann. Sie haben doch drei gemeinsame Kinder! Zur Sicherheit ließ er aber einen Teil der Beute in den Schiffen zurück. Besonders Kassandra. Sie ist so angenehm im Bett! Klytamnestra muss nicht unbedingt von ihr erfahren. Zumindest am Anfang nicht.

               „Alles wird gut sein“, versicherte sich der zurückkehrende König. „Alle wird wieder gut sein.“

                KLYTAMNESTRA I.

               Sie beobachtete die lange Schlange der Soldaten, die sich durch das Land schlängelte, durch die fruchtbare Ebene von Argolis und sich der Burg näherte. Sie beobachtete sie schon lange ohne Bewegung, der Wind zerzauste ihre Haare. Es war angenehm und vielleicht deshalb erschien in ihrem Gesicht ein zufriedenes Lächeln.

               „Er kommt zurück“, sagte Klytamnestra und in dem Satz war alles. Die Angst, der Hass und das eiskalte Verlangen nach Rache. Nein, so war es nicht. Die Angst fehlte. Sie fühlte sie nicht.

               „Vielleicht kommen sie ohne ihn“, sagte Aigisthos, der neben ihr stand. Er wollte sie um ihre Schulter umarmen, wie es seine Gewohnheit in der letzten Zeit war, er brachte aber den Mut dazu nicht auf. Der Gatte seiner Geliebten kehrte zurück. Der große König Agamemnon!

               „Wäre er nicht dabei, würden die Soldaten keine erbeuteten Fahnen tragen. Das hier ist ein triumphierendes Heer, mein Lieber. Mit einem triumphierenden Anführer an seiner Spitze. Die Götter sind gerecht. Sie brachten ihn nicht vor Troja um, sie liefern ihn meinen Händen aus. Hast du vielleicht geglaubt, dass die Götter unsere Rache an sich nehmen würden?“

               Ja, er dachte es. Er hoffte es, erkannte die Königin und fühlte Verachtung. Er ist ein Feigling. Allerdings darf er feige sein, er hat keinen Grund, meinen Mann zu töten. Sein Herz ist nicht durch Hass so durchtränkt wie das meine, nur durch Angst. Er fühlt sich als erwischter Ehebrecher und deshalb verliert er seinen Mut. Ich brauche aber seinen Mut nicht, ich habe selbst genug davon. Ich brauche nur seine Muskeln. So wie ich die ganzen Jahre seine Umarmung brauchte. Nur die Umarmung, nicht die Liebe! Ich pfeife auf die Liebe, nur das Verlangen musste gestillt werden, damit ich in meinem Herzen meinen Hass kalt und scharf bewahren konnte. Dafür habe ich dich gebraucht, Aigisthos, du warst ein gutes Werkzeug, ein konservierendes Werkzeug für meinen Hass. Jetzt wirst du zu einem vollstreckenden Werkzeug. Ich brauche keine Liebe, ich erlebte sie einmal und es war mehr als genug.

               Ich heiratete König Agamemnon nicht aus Liebe. Meine Eltern zwangen mich den größten aller hellenischen Könige zu heiraten. „Die Weise zu einem Weisen, die Schöne zu einem Schönen“, sagte damals mein Vater, als er mich mit Agamemnon und Helena, meine Schwester, mit seinem Bruder Menelaos verlobte. Helena, die Hure! Wegen ihrer Hurerei verlor ich meine Tochter und demnächst verliere ich auch meinen Mann. Nur weil sie ihre Oberschenkel nicht zusammendrücken vermochte, als sie der verdammte Looser Paris auf den Rücken legte. Meine Schwester! So ein Ekel!

Ich war Agamemnon eine gute Gattin, viel besser als Helena für Menelaos. Aber sie war schön und solchen Schönheiten wird alles verziehen. Uns, Weisen, wird nicht verziehen! Nicht einmal die Verbrechen der anderen!

Warum musste gerade ich leiden für ihre Hurerei? Warum? Warum sind Götter so ungerecht?  Sie nahmen mir meinen Mann, zehn Jahre verbrachte er in einem Krieg. Schon das allein ist grausam. Aber als er in den Krieg zog, wurde er nur mehr von meinem Hass verfolgt.

Der Priester Kauleas verlangte Opfer für einen erfolgreichen Ausgang des Krieges und das Opfer sollte unserer Tochter Iphigenia sein. Agamemnon lieferte ihm unser Kind aus. Die Priester schnitten ihr den Hals durch wie einem Vieh, wie einem Kalb mit warmen braunen Augen. Meine Älteste, mein Liebling, die ich mit meinen eigenen Brüsten stillte, obwohl das als unanständig galt. An ihrem Bett habe ich nächtelang gewacht, wenn sie krank war oder schlechte Träume hatte. Sie wurde gerade zur Frau, sie war verwirrt durch diese Verwandlung und suchte Sicherheit in meiner Umarmung. Sie wurde mir brutal entrissen und die Priester schnitten ihren langen schlanken Hals durch. Wie einem Vieh! Und er, ihr Vater ließ es zu! Das kann man nicht vergessen und das kann man nicht verzeihen, auch wenn er heute den Palast in der goldenen Rüstung des Königs Priamos unter lautenden Fanfaren betreten würde. Es interessiert mich nicht, dass er damals von seinen Soldaten zu seiner Tat gezwungen wurde, ich will mich nicht an seine Tränen erinnern, die ihm über das Gesicht flossen, als Iphigenia zum Altar geführt worden ist. Er opferte sie seinem Ruhm. Jetzt hat er ihn. Gerade deshalb darf er keinen Augenblick länger leben. Zumindest nicht so lange, um entdecken zu können, dass ich ganze zehn Jahre den armen Teufel Aigisthos in mein Bett gelassen habe. Ich habe meinem Mann die Hörner in aller Öffentlichkeit aufgesetzt und absichtlich ich habe den unbedeutesten von allen Kandidaten gewählt, damit meine Lust aus der Rache noch größer würde. Ja, richtig, die Lust aus Rache war größer als die Lust aus seiner Liebkosung, sie brachte mich immer regelmäßig und verlässlich zum Höhepunkt. Bin ich pervers? Vielleicht! Jetzt aber kommt der Moment der Entscheidung. Wer als der erste zuschlägt, wird siegen. Ich würde wetten, dass es in der ankommenden Armee Soldaten gibt, die über mein Verhältnis mit Aigisthos Bescheid wissen. Wir schickten doch nach Troja Soldaten und Lebensmittel, also Nachschub und Versorgung. Möglicherweise wissen es alle. Aber genauso würde ich wetten, dass es ihm niemand sagte. Alle wären halb tot vor Angst bei der Vorstellung, wie er reagieren würde. Alle haben Angst vor ihm. Immer hatten alle Angst vor ihm. Es gab Zeiten, als ich ihn auch fürchtete. Die sind vorbei. Es ist schon so lange her, so furchtbar lange her!

AGAMEMNON II

               Er betrat den Palast. Er trug die Rüstung des Priamos, die die Strahlen der abendlichen Sonne spiegelte. Das Volk vor dem Palast jubelte, der ganze Weg vom Löwentor bis zum Palast war voll mit jubelnder Menschenmenge, die Soldaten bliesen in ihre Hörner. Auf die Köpfe der königlichen Begleitung regnete es Blumen. Könnte sich ein Herrscher einen schöneren Empfang wünschen?

               Klytamnestra stand in der Mitte des Hofes. Sie kniete vor ihrem Mann nieder, damit er sie erheben und an seine Brust drücken konnte. Die Höflinge jubelten. Alles lief also genau so, wie er sich es vorgestellt hatte. Die innere Anspannung ließ langsam nach.

               Seine Gattin erkannte er sofort als er das Tor passierte. Sie wurde nicht alt, nicht soviel, wie er fürchtete. In den Haaren hatte sie zwar bereits einige graue Streifen, aber ihre Wangen blieben noch voll und ihre Zähne strahlten in einem schönen Lächeln. Ihre Arme waren noch immer fest, die Haut hing an ihnen noch nicht, sie umspannte ihre Muskeln. Die Königsgattin war noch würdig seiner Liebe und diese Tatsache erfreute ihn. Er musste doch seine zehnjährige Abwesenheit wieder gutmachen und er freute sich darauf. Kassandra wird lange Zeit verborgen bleiben, möglicherweise sogar für immer. Er wird seiner Frau zeigen, dass er nicht nur ein Mann auf dem Schlachtfeld, sondern auch im Bett ist. Im Bett werden alle Streitereien beglichen, dort verschwinden auch die letzten Kränkungen.

               „Alles wird gut sein“, sagte der König zu sich.

               Die Königin empfing ihn mit ausgewählten Worten und führte ihn einige Schritte zur Seite, wo die Kinder warteten. Das älteste Mädchen war schon beinahe eine Frau. Schön, ein bisschen ähnlich ihrer Tante Helena, dachte er. Das ist also Elektra. Er mochte sie, nicht aber so sehr wie Iphigenia. Sie war damals noch ein Kind und Iphigenia schon ein Mädchen, die zu ihrem Vater wie zu einem Mann und Beschützer aufschaute. Er liebte sie. Wird ihm sein Gewissen einmal verzeihen, dass er sie dem Tod ausgeliefert hat? Er konnte aber doch nicht anders!

               Er umarmte Elektra und sie sagte: „Papa, ich möchte…“ Sie konnte ihren Satz nicht vollenden. Klytamnestra führte ihn schon weiter. Er spürte den Unwillen, mit dem das Mädchen seine Hände losließ. Was wollte es ihm sagen? Sicherlich etwas Wichtiges. Das kann aber warten. Wir werden ab jetzt Unmengen an Zeit füreinander haben.

               Das zweite Mädchen war also Chrysostomis. Sie schaute auf den Boden, sie war ihrer Mutter ähnlich, im Gegensatz zu ihr schien sie aber schüchtern zu sein. Sie konnte sich eigentlich auf ihn nicht erinnern. Dafür war sie vor zehn Jahren noch zu klein. Er ist ein fremder Mann für sie. Das wird sich ändern, meine Töchterlein! Ich mache alles wieder gut, es gibt so viel, was ich wieder gut machen muss!

               Auch für Orestes muss ich zum Vater und Erzieher werden. Agamemnon stand vor einem zwölfjährigen Burschen. Gut gewachsen, mit einem düsteren aber direkten Blick. Ich werde dich unterrichten, mein Sohn. Unterrichten, wie man Kriege führt und wie man Frauen ins Gras und ins Bett legt. Nach ihrer Herkunft, weiß du, Junge? Es wird ein König aus dir werden. So einer, den Mykene noch nie hatte.

               „Ich habe für dich ein Bad vorbereitet, mein Herr “, sagte Klytamnestra. „Es bekommt dir nach der Reise sicherlich wohl.“

               „Sicher“, antwortete er zerstreut. Eigentlich wollte er nicht in das Bad, er wusste aber nicht, wie und warum er es ablehnen sollte. Er merkte, dass Elektra zusammenzuckte und ein Mann, der hinter den Kindern stand, blass wurde. Er hatte schon irgendwo diesen Kerl gesehen. Sicherlich war das jemand aus der Verwandtschaft, der nicht in Troja war.  Wer soll sich schon aber alle Gesichter merken? Es sind zehn Jahre vergangen, als er sie das letztemal sah. Er wird sie noch kennenlernen. Sie werden die Rechnungen von ihrem Wirtschaften ablegen. Agamemnon war ein strenger König. Er wird es wieder sein. Gleich, wenn die erste Begeisterung verblasst ist.

               Er ließ sich von seiner Gattin in den hinteren Trakt des Palastes führen, er gab einem Diener seine Kleidung und sein Schwert und trat in das Bad.

               KLYTAMNESTRA II

               Er betrat den Palast. Wie ich es erwartete. In der Rüstung unter Jubel und Gesang. Hielt er mich wirklich für so eine Dumme und Oberflächliche und hoffte, dass er mich dadurch beeindrucken konnte? Nehmt einem Mann die weibliche Gesellschaft weg und er vertrottelt. Obwohl, er war nie ganz ohne weibliche Gesellschaft. Zuerst Chryseovna, dann Briseovna und jetzt hat er auf einem seiner Schiffe die Dirne aus Troja namens Kassandra. Ich weiß alles, meine Leute sind verlässlich. Sie fürchten nicht, mir auch die bösen Nachrichten zu übermitteln. Er ahnt aber nicht, dass ich es weiß. Es ist gut so, so wird es alles einfacher sein.

Ich kniete in der Mitte des Hofes nieder und ließ mich von ihm erheben. Ich merkte eine freudige Überraschung in seinem Blick. Er erwartete ein altes Weib und fand eine Frau in der Blüte. Wenn du wüstest, mein geliebter verhasster Ehemann, wie viel Mühe es gekostet hat, um so auszusehen, wie es ist! Nicht nur meiner Mühe, nicht weniger musste sich dein Verwandter Aigisthos anstrengen, wenn er sich deine königliche Krone in meinem Bett verdienen wollte.  Es kostete ihn tatsächlich viel Schweiß. Das erfährst du aber nie.

Ich führte ihn zu den Kindern. Elektra hätte fast alles zunichte gemacht. Zum Glück ahnte ich das und führte ihn weg, noch bevor sie etwas Schreckliches und Schicksalhaftes sagen konnte. Sicher, Elektra verwandelt sich gerade in eine junge Frau. Deshalb erwartete sie die Rückkehr ihres Vaters als ob ihr Geliebter kommen sollte. Sie sehnt sich nach einem Mann und er ist einer. Deshalb hasst sie mich, weil ich auf ihn ein gesetzliches Vorrecht habe. Auf seine Liebe. Aber auch auf seinen Tod! Sie schaffte es ihn gerade nur ansprechen und ich zog ihn schon zu Chrysostomis. Wie furchtbar langsam lockerte sich die Umarmung des Vaters mit der ältesten Tochter! Mit der ältesten lebenden Tochter, musste ich mich erinnern. Die tatsächlich älteste lebt seit zehn Jahren nicht mehr! Aus diesem Grund wird er auch nicht mehr leben! Er verdient sich kein weiteres Leben!

Er stand vor Orestes. Die Götter wissen, woran er dachte. Es wirbelten sicherlich Pläne durch seinen Kopf, er hatte dort immer nur Pläne und nie Gefühle. In seinen Gedanken machte er sicherlich einen Kämpfer, König und Liebhaber aus ihm. Diesen Jungen wird er aber nicht erziehen! Nur ich! Er wird nicht einfach sein Orestes zu erklären, warum sein Vater sterben musste. Er erinnert sich nicht an die schrecklichen Umstände des Todes seiner Schwester. Er war damals nur ein Wickelkind, er verstand die verzweifelte Umarmung Iphigenias nicht. Jetzt bewundert er den Vater wie auch das ganze Volk. Zusätzlich hasst er Aigisthos und Aigisthos wieder ihn. Es wird anstrengend sein, diese zwei zu versöhnen. Ich muss meinem Sohn erklären, dass Aigisthos nur ein Werkzeug ist. Er muss mich verstehen, er ist doch mein Sohn!

„Ich habe ein Bad für dich vorbereitet, mein Herr“, sagte ich mit der ruhigsten und mit Liebe gefüllten Stimme, deren ich fähig war. „Es gereicht dir nach der Reise sicherlich zum Wohl.“

Er glaubte es. Der Ruhm blendete seine Augen so sehr, dass er glaubte, ich liebe ihn und sorge für sein Wohl. Vor einem Gastmahl gehört sich doch ein Bad zu nehmen! Und vor einer Liebesnacht sowieso! Die Götter sind doch gerecht. Sie machten ihn blind, als ich das am meistens brauchte.

Elektra zuckte zusammen, Aigisthos wurde blass. Nur jetzt verstanden alle, dass wir einen Weg ohne Rückkehr betreten haben. Aber niemand stürzte sich dem König zu Füßen, um ihn aufzuhalten und zu warnen. Er war zehn Jahre abwesend und zehn Jahre sind eine sehr lange Zeit. In dieser Zeit haben alle gelernt, mich zu fürchten. Ich zeigte Aigisthos, dass er mir folgen sollte.

Alle anderen schauten nur machtlos zu, wie ihr König und Held von mir in den hinteren Trakt des Palastes geführt wurde um seine Rüstung und sein Schwert abzulegen und das Bad zu betreten.

               AGAMEMNON III

               Plötzlich hat er alles verstanden. Vielleicht war es die Wirkung von Dampf, der aus dem Bad aufstieg, durch den man schwächer wird und die Instinkte die einschlafende Vernunft überwinden. Das Düstere in einem Menschen, das viel weiser und weitsichtiger als er selbst und sein Verstand ist, weil er das von Göttern bei seiner Geburt geschenkt bekommen hatte. Nach einem Moment, als sein Verstand, betäubt durch Ruhm und Beifall, für eine Weile eingeschlafen war, kam es Agamemnon vor, als ob jemand vor ihm den Nebel zerteilt hätte.

               Jetzt sah er alles klar. Wie konnte er nur der liebeswürdigen Stimme seiner Frau Glauben schenken? Hätte sie ihm mit einem schlecht verborgenen Hass angesprochen, dann wäre alles in Ordnung gewesen, nur unter solchen Umständen hätte er ruhig bleiben können. Der Hass hätte ihre Ohnmacht und seine Sicherheit bedeutet. Er glaubte aber dem Billigsten, was sich zum Glauben angeboten hat. Jetzt verstand er ihre erhaltene Schönheit. Nur ein regelmäßiges Liebkosen einer männlichen Hand konnte eine Frau so schön berhalten, wie Klytamnestra es war. Sogar mit dem Verlangen in ihrem Blick. Nach zehn Jahren ohne Mann wäre es schon längst verblast. Deshalb also der Mann! Aber ja, er war ein Verwandter, Aigisthos, so ein Niemand, deshalb konnte er ihn nicht sofort erkennen. Deshalb wurde er also so blass! Ging er nicht zufällig mit ihnen, als ihn Klytamnestra zum Bad führte? Aber sicher, er folgte ihnen. Agamemnon merkte es doch, nur er verstand damals noch keine Zusammenhänge. Jetzt befand er sich auf dem einzigen Platz in dem ganzen Palast, wo kein Soldat seine Leibwache zu ihm durfte und dazu gab er seine Kleidung und sein Schwert dem Diener vor der Tür. Wo ist übrigens der Bademeister und der Masseur? Ja, ihre Abwesenheit war die Tatsache, die den Nebel vor seinen Augen auseinander gerissen hat. Die ihn dazu brachte, zu kapieren, was sich hier abspielte. Der König ist doch im Bad nie allein! Nur wenn ihn jemand töten möchte!

               In diesem Moment erwachte in Agamemnon der Soldat. Er stürzte zur Tür, um sie mit dem Riegel zuzusperren. Die Mörder werden auf die Tür schlagen, sie werden die Tür ausbrechen müssen, dachte er, damit werden sie die Wachen alarmieren. Seine Leibgarde kommt zur Hilfe. Nein, es ist noch nichts verloren. Warum sollte er sterben, wenn er keine Lust dazu hat?

Der Riegel an der Tür fehlte. Mit einem erstaunten Blick betrachtete er die leere Stelle, wo er offensichtlich vor kurzem entfernt worden war. Er stützte sich mit Rücken an die Tür. Seine Füße rutschten auf dem nassen Boden. Er verstand, dass er die Türe so nicht geschlossen halten konnte. Er würde nur ein kleiner Stoß von außen reichen um ihn auf den nassen Boden fallen zu lassen, auf den Rücken wie einen machtlosen Käfer.

Das ist das Ende, fiel ihm ein. Das erste Mal im Leben fiel ihm so etwas ein. Nicht einmal unter den Mauern von Troja, nicht einmal als die Trojaner Griechen ins Meer trieben und Achilles mit seinen Leuten sich weigerte, sich der Schlacht anzuschließen. Nicht einmal damals dachte er, es wäre alles verloren.

Jetzt aber standen die Mörder hinter der Tür. Er hörte sie nicht, aber er spürte ihre Anwesenheit. Sie waren dort, sie sammelten nur den Mut, um in das Bad einzubrechen und ihm den kalten Stahl in den Körper zu jagen. Wer wird der erste sein? Aigisthos? Den könnte er eventuell noch einschüchtern und ihm die Waffe entreißen. Nein, Klytamnestra ist konsequent. Es kommt ein bezahlter Mörder ohne Gefühle und Interesse an dem Verbrechen. Er wird ihm das Schwert in den Körper treiben, dann sein Gold kassieren und gehen. Oder kommt sie selbst? Er fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Das doch nicht! Aber eigentlich warum nicht? Die Rache für Iphigenias Tod muss vollkommen sein. Sie ist ein Ungeheuer, dachte er über seine Frau. War ich aber kein Ungeheuer, als ich mit einem verlogenen Brief mein liebstes Kind zum Heer lockte, um es opfern lassen zu können?  Sie hätte Achilles heiraten sollen, habe ich ihr geschrieben. Sie kam mit großer Erwartung, sie freute sich so sehr auf ihren Bräutigam. Und dann kam die bittere Enttäuschung. Keine Hochzeit, dafür der Tod! Wem habe ich damals gedient? Warum sollte ich mich noch jetzt, in Angesicht des Todes, belügen? Ich habe nur mir selbst und meiner Sucht nach Ruhm gedient. Nur deshalb musste das unglückliche Mädchen sterben! Ein Blut aus meinem Blut! Ich rief damals, dass auf dem Altar auch mein Blut fließt. Es war eine Lüge. Es war nur ihr Blut, das meine wird demnächst und hier fließen.

Ein Versöhnungsgefühl drang in ihn ein. Warum nicht? Die Strafe ist gerecht. Für mich auch akzeptabel. Noch heute in der Früh habe ich mir Sorgen gemacht, wie ich mein Gewissen los werde, das meine Nächte zur Hölle macht. Also, die Lösung hat sich selbst angeboten! Der Tod ist eine Lösung. Zu sterben und definitiv Ruhe haben.  Keine Gewissenbisse, keine Pflichten. Sterben nach einem großen Sieg wie ein Held. Nicht wie ein schreiender Nackter, verfolgt von einer Herde Bewaffneter, sondern wie ein König, getötet in einem Moment der Erholung, versöhnt und großmutig.

Er wandte sich von der Tür weg und trat in die Badewanne. Er legte sich nieder und schloss seine Augen. Noch ein paar Augenblicke! Dann geht die Tür auf und die Mörder laufen ein. Er drückte seine Augenlider zusammen und wartete darauf, was jeden Moment kommen musste.

KLYTAMNESTRA III

Sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, wann der König alles verstehen würde. Seit dem Moment, als sich die Tür hinter ihm schloss, vergingen nur einige Augenblicke. Die Tür hatte auf der Innenseite keinen Riegel, man konnte sie nicht zusperren. Die Königin überließ nichts dem Zufall. Sie hielt das Schwert ihres Mannes in der Hand, es wurde ihr von dem Diener gereicht, der sich gleich danach entfernte.

Jetzt ging es nur mehr um eines, den Mut zur Tat zu gewinnen. Den Mut sich an die Tür anzulehnen und dann das Schwert in die Brust des mächtigsten Mannes Griechenlands zu jagen. Er war jetzt hinter dieser Tür nackt und machtlos, trotzdem jagte er ihr noch immer Angst ein. Eigentlich nicht noch immer aber schon wieder! Warum? Ist das die Angst, die einmal in der Vergangenheit zur Liebe wurde und diese wieder zum Hass? Und plötzlich verwandelte sich der Hass in die ursprüngliche Gestalt, aus der er hervorging – in die Angst vor dem großen Kämpfer.

„Gehen wir?“ fragte sie bereits das zweite Mal ungeduldig.

Aigisthos war todblass und seine Hand mit dem Dolch zitterte. Es war offensichtlich, dass er das nicht schafft. Sogar der unbewaffnete Agamemnon wäre im Stande, ihn zu überwältigen. Also muss es sie selbst tun! Die Götter verzeihen nichts, man kann sie nicht überlisten.

Wenn man eine Rache will, muss man sie auch vollziehen. Sie ist die Einzige, die den König tatsächlich hasst, deshalb muss sie auch selbst morden. Obwohl sie ihn, aber daran durfte sie nicht denken, gleichzeitig noch liebte. Sie zerschlug die Liebe in sich, diese überlebte aber trotzdem. Irgendwo im Vorhof ihrer Seele, ständig geschlagen, vertrieben, still und leidend, aber sie überlebte. Sie muss jetzt Augen und Ohren zumachen, um sie nicht zu sehen und nicht zu hören. Agamemnon hat sicher bereits alles verstanden, einer von ihnen musste also sterben. Warum sollte es sie sein? Es gibt Taten, die man niemals rechtfertigen kann, aber wenn sie getan werden müssen, darf man nicht zögern.

„Wenn wir ihn nicht töten, tötet er uns“, sagte sie und schaute Aigisthos direkt in die Augen.

„Ja“, sagte er und sie verstand, dass sie sich ab diesem Moment bis zum Lebensende gegenseitig hassen werden. Dafür, dass einer den anderen zu einem Verbrechen gezwungen hat, das sich in der Tiefe ihrer Seelen keiner von ihnen wirklich gewünscht hatte. Sie wird ihn für seine Schwäche hassen und er sie, weil sie seine Schwäre gesehen und verstanden hat. Nach dem Tod des Königs wird sich für beide ihr eigener Tod nähern. Fürs Überlegen war es aber bereits viel zu spät.

Klytamnestra stieß mit dem Fuß die Tür auf und mit dem Schwert in der Hand lief sie in den wohlriechenden Dampf, der aus der Wanne aufstieg.

Der Weg zur Macht

Ich habe mich entschieden, meinen Lesern einmal etwas anderes als ein Reisebericht anzubieten. Nämlich eine historische Kurzgeschichte aus dem Jahr 44 vor Christus, also ein kleines Beispiel meiner literarischen Tätigkeit. Natürlich ist der Text etwas länger, aber ich hoffe, dass er trotzdem Leser findet. Ich bitte um eine Rückmeldung, ob es Interesse um diese Art der Unterhaltung gibt. In zwei Wochen gibt es aber wieder einen Reisebericht – aus dem Heiligen Land.

Der Weg zur Macht

Apollonia, März im Jahr 44 vor Christus

Siehst du das, Marcus?“

Einer der drei Burschen, die auf der Mauer der Stadt Apollonia saßen, zeigte in die Mündung des Flusses Vhosa, die durch das Tal unterhalb der Stadt floss. Vom Meer her wehte eine kalte Briese. Sie machte frisch, zerzauste den Burschen die Haare, war aber nicht unangenehm. Sie waren alle keine zwanzig Jahre alt und sie strahlten vor altersbedingter Sorglosigkeit. Das Tal unter ihnen war voll blühender Bäume, das Land um den Fluss Vhosa war das fruchtbare Hinterland der Stadt.  Es war März, die Bäume blühten, die Felder wurden grün. Die Natur war im Aufwachen und sie versprach ein gutes Jahr.

„Was?“ fragte der zweite.

„Ein Schiff.“

Jetzt wunderte sich auch der dritte. „Na und? Schiffe kommen ständig hier her,  Apollonia ist ja der Ausgangspunkt der Via Egnatia. Die Ware wird hier seit Jahrhunderten umgeladen.“

               „Das ist aber kein Frachtschiff“, erklärte der erste. „Es ist eine Kriegsgaleere.“

               Der andere legte die Hand auf die Stirn, um seine Augen vor der Sonne zu schützen und schaute eine Weile in die Ferne. „Du hast recht, Gaius“, sagte er dann. „Was will sie hier?“

               Der dritte der Burschen zuckte mit den Schultern. „Ist das nicht egal? Es ist Frieden und eine Galeere bringt nicht zu viel Soldaten her. Das wird uns die Langweile auch nicht vertreiben.“

               „Es ist nicht egal, Gaius“, korrigierte ihn der erste, der auch Gaius hieß. „Vielleicht bringt sie eine wichtige Nachricht.“

               „Hast du vergessen, Gaius“, lächelte Marcus, „dass sich Gaius Cilnius Meacenas für Politik nicht interessiert?“

               „Gaius Oktavianus interessiert sie aber um so mehr“, sagte Gaius Oktavianus. „Und ich hoffe, dass Marcus Vipsanius Agrippa das gleiche tut.“

               „Na ja“, stimmte Agrippa unwillig zu. „Einmal werde ich mich damit beschäftigen müssen. Jetzt gibt es für mich aber noch die Zeit des Studiums,  politische Intrigen können noch warten. Ich habe es nicht eilig. Meine Lage ist anders, als deine, Gaius. Mein Vater ist kein Herrscher über Rom.“

               „Meiner sehr wohl“, sagte Oktavianus. „Manchmal bringt er mich zur Verzweiflung.“

               „Warum, bitte?“ wurde jetzt Maecenas aufmerksam, obwohl er sich bisher bei der Debatte seiner Freunde eher langweilte.

               „Na gut, er kennt sich in der Kriegsführung gut aus, aber die Politik macht er eben wie ein Heerführer auf dem Schlachtfeld. Direkt und brutal. Einfach ungeschickt. So geht es nicht.“

               „Wieso nicht?“ wunderte sich Agrippa. „Sein Wahlkampf vor vierzehn Jahren, als er das erste Mal zum Konsul gewählt wurde, ist auch heute noch ein Vorbild für die Führung eines politischen Kampfes.“

               „Ein negatives Vorbild“, grinste Oktavianus. „Seine politischen Gegner mit Fäkalien zu überschütten ist unter jedem Niveau. Und das hat einen lebenslangen Hass zur Folge.“

               „Er wurde zum Diktator auf Lebenszeit“, erinnerte Agrippa. „Mehr kann man nicht erreichen.“

               „Man kann“, sagte Oktavianus langsam und streckte den Rücken. „Man kann ein neues System der Regierung aufbauen. Ein dauerhaftes System, das die Stabilität und Macht nicht nur für dich, sondern für die ganze Familie sichern kann. Natürlich auch für den Staat, über den du herrschst. Für ganze Generationen. Das kann er aber nicht.“

               „Wie meinst du das?“ fragte Agrippa. „So müsste er König werden. Aber eine Königskrone werden ihm die Römer nie gönnen.  Rom ist und bleibt eine Republik. Wer sich zum König krönen lassen möchte, wird schlecht enden, da bin ich mir sicher.“

               „Da hast du recht“, stimmte Oktavianus zu. „Ist aber die Krone wirklich das Wichtigste?“

               „Ich verstehe nichts“, sagte Maecenas. Das Schiff näherte sich dem Hafen. Sie sahen, dass am Bug ein Mann in der Uniform eines Offiziers stand.

               „Schau. Wenn du einen Frosch ins heiße Wasser wirfst, springt er heraus, um sich zu retten. Wenn du ihn aber ins kalte Wasser legst und dann langsam das Wasser wärmst, wird er im kochenden Wasser krepieren ohne den Zeitpunkt zu bemerken, an dem er bereits zu Tode verurteilt war und keine Chance mehr hatte, sich zu retten. Genauso musst du das mit der Demokratie machen, also mit ihren Trägern, mit den Herren Senatoren. Sie dürfen nicht merken, dass sie ihre Macht verlieren, dann werden sie dir noch applaudieren. So etwas kann aber der Vater nicht.“

               „Du stellst die römische Demokratie in Frage?“ erstaunte Agrippa. „Willst du sie vielleicht sogar abschaffen?“

               „Hast du das Gefühl, lieber Marcus, dass sie sich wirklich bewährt hätte? Ein Bürgerkrieg folgt dem anderen, es gibt Tausende toten Legionären! Anstatt das Reich an seinen Grenzen zu schützen, neue Gebiete zu erobern und Rom mit Sklaven zu versorgen, schlachten sie sich gegenseitig ab. Teuer bewaffnet und teuer ausgebildet. Glaubst du, wir könnten uns so etwas auf Dauer leisten? Seit Jahrzehnten kennt Rom nichts anderes als Krieg.“

               „So war es doch immer“, sagte Agrippa. „Der Tempel des Gottes Janus war in der ganzen Geschichte Roms nur fünfmal geschlossen.“

               „Allerdings kämpften die römischen Legionen damals auf fremdem Gebiet. Und das fremde Land versorgte sie. Heute kämpfen sie auf römischem Gebiet und plündern es. Hast du es nicht hier in Epiros gesehen? Wie lange ist es her, als hier Vater gegen Pompeius gekämpft hat? Vier Jahre! Hast du das Gefühl, dass sich das Land vom Krieg erholt hätte? Das muss ein Ende haben! Wenn ich zum Herrscher werde, wird es Frieden geben. Meinen Frieden! Weil ich ihn allen diktieren werde. Damit sich die Menschen endlich ihren Feldern und ihrem Handwerk widmen könnten.“

               „Glaubst du, du könntest nach deinem Vater sein Nachfolger im Amt des Diktators werden?“

               Oktavianus sah Agrippa nachsichtig an. „Natürlich nicht. Der Titel ist nicht erblich. Sollte ich so etwas anstreben, wäre ich schnell ein toter Mann.“

               „Also wie willst du…?“

               „Erinnerst du dich an den Priester? Als wir nach Apollonia gekommen sind?“

               „Natürlich kann ich mich erinnern“, antwortete Agrippa. „Sein Name war Theón. Als er dich gesehen hat, fiel er vor dir auf die Knie und prophezeite dir eine große Zukunft.“

               „Also, ich habe nicht die Gewohnheit, Prophezeiungen auf die leichte Schulter zu nehmen. Hinter ihnen stehen die Götter und sie bestimmen die menschlichen Schicksale.“

               „Wer glaubt schon heutzutage an Götter?“ lächelte Maecenas. „Sie sind nur mehr Objekte für Bildhauer und Maler, nichts mehr.“

               „Ich glaube an sie“, antwortete Oktavianus trocken. „Möglicherweise bin ich der letzte. Aber gerade deshalb werde ich zum Hochpriester – Pontifex maximus.“

               „Pontifex maximus?“ schüttelte Agrippa den Kopf. „Ein Amt ohne Bedeutung und verbunden mit vielen Pflichten.“

               „Und deshalb will es keiner. Ich werde also bei meiner Bewerbung keine Konkurrenz haben, zumindest keine, die ich ernst nehmen müsste“, lächelte Oktavianus.

               „Warum willst du dich um so etwas Entbehrliches bewerben?“ wunderte sich Maecenas. „Hast du nichts Wichtigeres zu tun?“

               „Schon. Natürlich habe ich das. Oder ich werde es haben. Ich darf aber nichts vernachlässigen. Ich werde es einmal brauchen, dass die Priester, die Haruspices, nach meiner Anweisungen prophezeien. Glaubt mir, das hilft wirklich.“

               Das Schiff legte gerade im Hafen an. Die Männer am Bord warfen die Taue hinaus, Männer auf der Mole ergriffen sie und zogen das Schiff zum Ufer.

               „Seit mir Theón die glänzende Zukunft vorausgesagt hat, bemühe ich mich die Pfeiler der Macht zu identifizieren. Es war übrigens die Idee des Vaters, mich gerade hierher, nach Apollonia, für mein Studium zu schicken, und die war nicht schlecht. Wir haben hier viel gelernt und unsere Lehrer gaben uns genug Raum für eigene Initiativen und Zeit zum Nachdenken. Was braucht also ein Mensch um herrschen zu können?“

               „Geld“, sagte Maecenas. „Ohne Geld kannst du keine Wahl gewinnen. Wenn du im Amt des Ädils keine ordentlichen Spiele veranstaltest, kannst du das Amt eines Prätors oder Konsuls vergessen.“

               „Im Prinzip hast du recht“, stimmte Oktavianus zu. „Zumindest bei der ersten Wahl sind große finanzielle Opfer unentbehrlich. Ich hoffe, dass mir mein Vater eine große Erbschaft hinterlassen wird. Er bereicherte sich mehr als genug einerseits in Gallien und andererseits indem er die Besitzungen der Pompeius- Anhänger konfiszierte.“

               „Das Geld wirst du immer brauchen“, sagte Agrippa.

               „Das Geld liegt in den Provinzen“, sagte Oktavianus. „Die Senatoren sind bereit, sich gegenseitig sogar zu töten, um zu Prokonsuln oder Proprätoren zu werden, um zumindest für ein Jahr eine reiche Provinz wie Achaia, Asia oder Hispania verwalten zu dürfen.“

               „Eben“, sagte Maecenas. „Sie könnten dich deshalb  töten“

               „Ich überlasse ihnen die reichen Provinzen gerne“, sagte Oktavianus. „Hast du aber schon einmal jemanden gesehen, der gerne Prokonsul in Gallien, Pannonien, Dalmatien oder Thrakien werden möchte? Geschweige in Belgien oder Lusitanien? Wenn ich an die Macht komme, werde ich mich opfern und die Verwaltung dieser unattraktiven Provinzen übernehmen, die sonst keiner will. Ich könnte sie sogar alle auf einmal verwalten. Es ist zwar viel Arbeit für wenig Geld, aber aus jeder Provinz kommt etwas. Wenn ich sie vernünftig verwalte, bringen sie alle zusammen mehr als jede einzelne der reichen, aber dauernd geplünderten Provinzen. Und weil ich sie nicht nur für ein Jahr haben werde, müsste ich das Geld nicht so brutal herausquetschen, wie das die Herren Prokonsuln tun. Und die Senatoren werden mir noch dankbar sein, dass sie nicht hingehen müssen.“

               „Zur Erhalt der Macht brauchst du eine Armee“, wandte Agrippa ein „Ohne Soldaten wird das Geld nichts bringen.“

               „Wo sind die römischen Legionen stationiert?“ fragte Oktavianus.

               Agrippa musterte ihn mit einem überraschten Blick und sein Gesicht erstrahlte: „In den Grenzprovinzen.“

               „Richtig. Und wer ist der Oberbefehlshaber dieser Legionen?“

               „Der Provinzverwalter“, sagte Agrippa mit Lachen. „So bleiben beinahe alle Legionen unter deinem Kommando.“

               „So ist das“, sagte Oktavianus zufrieden. „Ich mag keinen Krieg. Mein Vater liebt ihn, ich habe aber dafür kein Talent. Und kein Verständnis.“

               „Ich bewundere deinen Vater“, sagte Agrippa bedachtsam. „Er ist ein Militärgenie.“

               „Könntest du einspringen und meine Legionen anführen, Marcus?“ fragte Oktavianus scherzhaft.

               „Das mache ich für dich gerne“, lachte jetzt auch Agrippa. „Was würde ich für einen echten Freund nicht tun?“

               „Du wirst mich aber niemals verraten, oder?“

               „Nur im Fall, dass du die Republik gefährdest.“

               „Dann habe ich keine Angst. Die Republik bleibt. Der Senat wird weiter tagen, die Volksversammlungen werden wieder eingeführt. Konsuln, Prätoren und so weiter werden weiter gewählt. Das Leben wird wie in den letzten Jahrhunderten weitergehen. Ich werde aber keine Unruhen in den Straßen und keine meuchlerischen Angriffe auf die Kandidaten dulden.“

               „Was die Spezialität deines geehrten Vaters Gaius Julius Caesar war“, bemerkte Maecenas. „Seinem Kollegen im Konsulamt, Bibulus, hat er das Leben zur Hölle gemacht, sodass sich dieser nicht mehr traute, sein Haus zu verlassen. Was ihm fast zum Schicksal wurde. Als Bibulus im Bürgerkrieg dann das Kommando über die Kriegsflotte des Pompeius übernommen hat, sah es mit Caesar und seiner Armee nicht besonders gut aus. Alle Versuche, die Soldaten hierher, nach Epirus zu verfrachten, waren zum Misserfolg verurteilt, solange der hasserfühlte Bibulus die Flotte kommandierte.“

               „Aber Bibulus starb, Vater konnte über das Meer nach Epirus übersetzen und da ihn Pompeius bei Dyrrhachion nicht zu vernichten vermochte, vernichtete er Pompeius bei Pharsalus. Die Götter stehen immer auf der Seite der Starken und Entschlossenen.“

               Aus dem Schiff im Hafen stieg ein Mann in der Uniform eines Offiziers. Er eilte bergauf zum Stadttor. In der Hand hielt er eine Papyrusrolle.

               „Der kommt mit einer wichtigen Nachricht“, meinte Maecenas, der ihn aufmerksam beobachtete.

               „Sicher eine schlechte Nachricht“, meinte Oktavianus. „Möglicherweise gibt es wieder einmal eine Steuererhöhung. Oder gibt es wieder einen Aufstand der Illyrer. Wer weiß? Mit guten Nachrichten hat es niemand eilig. Nur die schlechten, keine Ahnung warum, müssen so hektisch zugestellt werden.“

               „Wir werden es erfahren“, sagte Agrippa. „Jetzt würde mich aber interessieren, wie du den Senat beherrschen willst.“

               „Erstens werde ich Geld haben. Sehr viel Geld aus den armen Provinzen. Mit dem Befehlshaber beinahe aller Legionen wird auch niemand wirklich einen Streit anfangen wollen. Wenn dazu die Prophezeiungen mir gegenüber sehr günstig und meiner Gegnern im Gegenteil sehr ungünstig sein werden, werden sich weitere Provokateure lieber zurückziehen.  Wie ihr wißt, baute mein Vater seine Partei im Senat aus, die ihm blind gehorcht und abstimmt, wie er es befiehlt. Er brachte sogar Gallier in den Senat, die nicht einmal des Lateins mächtig waren und diese sind ihm natürlich auf Leben und Tod ergeben. Ich habe vor, diese Praxis fortzusetzen. In den Senat müssen viele unqualifizierte Menschen aufgenommen werden. Die sind dann treu und dankbar, dass sie  überhaupt dort sitzen dürfen. Das Wichtigste ist es allerdings, zu jedem Problem, zu jedem Gesetzentwurf, als Erster sprechen zu dürfen. Ich glaube, ich lasse über dieses Privileg für mich abstimmen, solange die Partei meines Vaters noch intakt sein wird. Stellt euch vor, wie viele Pflichten ich haben würde. Das Amt des Pontifex maximus, die Verwaltung so vieler Provinzen und ich wäre der Kommandant so vieler Legionen! Gesetze, Steuer, Versorgung der Armee, der Bau der Lager, der Straßen und die Wasserversorgung für die neuen Städte! Kann ich dann noch Zeit haben, im Senat zu sitzen und mir das Geschwätz der Gesetzgeber anzuhören? Die Senatoren müssen mir erlauben, zu jedem Problem als erster zu sprechen, damit ich dann die ehrenwerte Kurie verlassen könnte.“

               „Es wird sicher solche geben, die gegen dich argumentieren würden. Gleich, wenn die Tür der Kurie hinter dir zufällt.“

               „Das schon“, sagte Oktavianus und seine Augen wurden plötzlich eng wie Augen eines Raubtiers. „Aber nicht lange.“

               „Dann wird dir aber nur noch die Königskrone fehlen.“

               „Die sicher nicht“, sagte Oktavianus überzeugt. „Nicht ein bisschen. Ich brauche keinen Titel „Rex“, ich will unsichtbar herrschen. Niemand muss es wissen, dass gerade ich regiere. Offiziell wird der Senat regieren, wie es immer schon so war. Und natürlich das römische Volk, um es nicht zu vergessen. Das aber wirklich nur in Ausnahmefällen, sollten die Senatoren nicht gehorsam sein. Einen unsichtbaren Herrscher kann doch niemand hassen. Weil er ihn nicht sieht! Den Menschen wird es aber besser gehen und sie werden schon wissen, wem sie ihren Wohlstand zu verdanken haben.“

               „Irgendeinen Titel muss du aber haben“, sagte Agrippa unzufrieden.

               „Zum Beispiel „Princeps“ also „Der erste“, schlug Maecenas vor.

               „Der erste Bürger oder der erste Senator?“

               „Darüber sollten die Menschen nachdenken“, sagte Oktavianus mit Begeisterung in der Stimme. „Ich werde es ihnen nicht erklären. Vielleicht bin ich dann nur einfach der erste, der im Senat reden darf. Danke, Gaius, das ist eine geniale Idee.“

               „Gern geschehen“, murrte Maecenas. „Den Göttern sei Dank, wir reden nur theoretisch, ich komme mir vor, wie bei einem Seminar beim Lehrer Selenus. Dein ungeliebter Vater lässt dich an Regierungsgeschäfte nicht so bald kommen. Er ist ein Mann in voller Kraft, er kann in Rom noch gut zwanzig Jahre geistern.“

               „Dann werden wir halt noch ein bisschen studieren“, lächelte Oktavianus. „Ich habe es nicht eilig. Mein Lieber, die Geduld gehört zu den wertvollsten Eigenschaften eines Herrschers. Ich besitze genug davon.“

               „Ich nicht“, sagte Maecenas unzufrieden. „Ich langweile mich hier. In Rom, dort gibt es Statuen, Gallerien, Feste, dort gibt es das Leben. Und hier…?“

               „Ein Fieber, ein Sturz vom Pferd oder ein Seesturm und es kann alles vorbei sein“, sagte Agrippa. „Geduld bedeutet ein Spiel mit dem Schicksal.“

               „Hast du die Prophezeiung von Theón vergessen?“ sagte Oktavianus streng. „Die Götter sagten mir eine große Zukunft vor, daher schicken sie mir kein blödes Fieber.“

               „Junge Herren, junge Herren!“

Unter der Mauer stand ein Sklave außer Atem. Er gehörte Oktavianus. „Ihr sollt sofort ins Buleterium kommen.“

               „Wir?“ wunderte sich Maecenas.

               „Also gemeint ist vor allem Herr Gaius Julius Caesar Oktavianus. Es wurde mir aber gesagt, ihr sollt alle kommen.“

               „Wer hat es gesagt?“

               „Die Männer aus dem Gemeinderat. Ein Bote aus Rom ist gekommen.“

               „Schlechte Nachrichten?“ fragte Oktavianus.

               „Wahrscheinlich“, nickte der Sklave. „Wie wisst ihr es?“

               „Habe ich das nicht gesagt?“ grinste Oktavianus. „Gute Nachrichten haben Zeit. Der Bote hatte es für eine gute Nachricht verdammt eilig.“

               Sie stiegen von der Mauer herunter. Zur Agora und dem Buleterion war es nicht weit. Sie gingen an der Stadtbibliothek vorbei, wo sie sich die Bücher ausleihen konnten und um das Odeon, wo sie den Vorträgen zuhörten. Sie passierten den Portikus des Buleterions. Im Gebäude wurden sie bereits von den aufgeregten Ältesten der Stadt erwartet.

               „Junger Herr“, stieß der Podesta aus. „Herr Gaius. Euer Vater, der ehrenwerte Gaius Julius Caesar…“

               „Was ist mit ihm? Schickt er ein Schiff für mich? Soll ich nach Rom…?“

               „Euer Vater, der ehrenwerte Gaius Julius Caesar;“ wiederholte Podesta, „ist tot.“

               Eine Weile herrschte im Raum eine Totenstille.

               „Wie starb er?“ fragte Oktavianus mit heiserer Stimme.

               „Er wurde ermordet. Bei der Tagung des Senats im Pompeiustheater. Er wurde beschuldigt, die Demokratie vernichten zu wollen und dann wurde er erstochen.“

               Oktavianus sah Agrippa an und zischte so, dass es nur sein Freund hören konnte: „Habe ich das nicht gesagt?“

               „Hier ist die Nachricht;“ sagte einer der Ältesten und überreichte Oktavianus eine Schriftrolle, die offensichtlich der Offizier gebracht hatte, der etwas seitlich an der Wand stand. „Ihr sollt nach Rom reisen und die Erbschaft Eures Vaters übernehmen.“

               „Seine politische Erbschaft?“

               „Das natürlich nicht“, beeilte sich der Offizier, der bisher geschwiegen hatte, mit der Antwort. „Dem Gesetz folgend übernahm der Führer der Reiterei, „Magister Equitum“  Marcus Antonius die Macht bis zur nächsten Wahl. Es geht um den Familienbesitz. Er ist groß und braucht dringend einen Verwalter.“

               Oktavianus verbeugte sich.

               „Ich danke Euch für die Nachricht, obwohl sie mir natürlich keine Freude machen konnte. Ihr habt das aber sicher erwartet, dass sie mir keine Freude bereiten würde. Ich bitte um die Möglichkeit mich zurückzuziehen, um meinen Schmerz privat überwinden zu können.

               „Fahrt Ihr mit mir nach Rom?“ fragte der Offizier.

               Oktavianus schüttelte den Kopf.

               „Ihr werdet sicherlich in Rom benötigt und ich muss noch meine Sachen packen und mich für die Abreise vorbereiten. Ich brauche dafür eine bestimmte Zeit. Macht Euch keine Sorgen, Legat, fahrt zurück nach Brundisium. Ich komme gleich, wenn ich kann.“

               „Wir waren bereit, Euch nach Italien mitzunehmen. Wir könnten auf Euch warten“, sagte der Offizier unzufrieden. „ So lautet unser Befehl.“

               „Wer hat Euch diesen Befehl gegeben?“ wollte Oktavianus wissen.

               „Magister Equitum Marcus Antonius.“

               „Für seine Sorge sagt ihm in meinem Namen Dank. Ich habe es aber mit der Rückkehr nicht eilig. Ich kenne Marcus Antonius, er kann sicher mit der politischen Erbschaft meines Vaters gut umgehen. Das Geld und die Güter meines Vaters laufen nicht weg, wenn ich in Apollonia noch ein paar Tage länger bleibe.“

               „Aber…“ wandte der Offizier ein.

               „Ich danke Euch“, sagte Oktavianus und verließ den Raum.

               Die drei Freunde standen vor dem Gebäude.

               „Bei allen Göttern!“ rief Maecenas. „So eine Tragödie!“

               „So würde ich das nicht nennen“, sagte Oktavianus trocken. Als ihn seine Freunde überrascht ansahen, setzte er fort: „Sprechen wir nicht von einer Tragödie, sondern von einer Chance. Von einer großen Chance.  Sie kam früher als ich dachte, ich hätte gerne noch zwei oder drei Jahre gewartet. Aber sie ist da. Man muss sie ergreifen. Geht ihr in die Sache mit mir?“

               „Warum wolltest du nicht mit der Galeere nach Italien fahren?“ fragte Agrippa. „Es wäre bequem und sicher gewesen.“

               „Kennst du den Offizier?“ fragte Oktavianus.

               Als Agrippa verständnislos den Kopf schüttelte, sagte er: „Eben. Wer konnte ihn schicken? Möglicherweise Marcus Antonius, wie er selbst behauptet. Oder die Väter Senatoren, die meinen Vater umgebracht haben. Wer von dieser beiden Parteien könnte Interesse haben, dass ich sicher und gesund in Brundisium lande?“

               Agrippa schluckte leer.

               „Ich sehe, du verstehst“, lächelte ihn Oktavianus an. „Keiner von ihnen. Entweder würde ich während der Überfahrt über den Bord fliegen oder ich würde gleich nach der Landung in Brundisium getötet. Ich sage nicht, dass es zwingend so sein müsste, aber es ist viel zu wahrscheinlich, um solche Möglichkeiten nicht in Erwägung zu ziehen. Ich kenne die aktuelle politische Lage in Italien nicht. Ich weiß nicht, wie weit ist es gelungen, den Hass des Volkes gegen meinen Vater zu wecken. Das Volk ist launenhaft, einmal liebt es dich, um dich gleich wieder zu hassen. Solange ich meine Lage nicht kenne, will ich lieber unsichtbar bleiben. Wir kaufen eine ganz normale Bordkarte für das nächste Schiff. Wie drei ganz normale Reisende. Dann werden wir sehen.“

               „Du bist genial“, sagte Agrippa erstaunt. „Das hätte mir nie eingefallen. Du hast ganz bestimmt recht.“

               „Ich freue mich auf Rom“, sagte Maecenas. „Ich hatte bereits große Sehnsucht nach Rom mit allen seinen Kulturschätzen.“

               „Jemand muss sich auch um die Kultur kümmern, nicht wahr?“ lachte Oktavianus. „Die Blüte der Kultur wirkt auf das Volk positiv und verstärkt seine Liebe zum Herrscher. Überlassen wir Gaius diese Arbeit, was sagst du, Marcus? Du musst mir mit den Legionären helfen.“

               „Damit du Princeps werden kannst?“ fragte Agrippa.

               „Genau. Aber dorthin führt ein langer und möglicherweise auch blutiger Weg. Bis mein Frieden herrschen wird, wird noch viel Blut fließen müssen. Ich habe mir das nicht so vorgestellt, aber sie wollten es so. Diejenigen, die meinen Vater ermordet haben. Sie müssen bestraft werden, damit reduziert sich aisch auch die Anzahl der oppositionellen Senatoren. Eigentlich ist das keine schlechte Lösung.“

               Agrippa schaute den Freund mit Bewunderung in seinem Blick an. „Gaius, wenn du der „Prinzeps“ wirst, werde ich gerne dein „Secundus“ sein.“

               „Gemeinsam bauen wir dann ein neues Rom auf, Marcus. Wir drei. Ein neues Rom und eine neue Welt. Eine bessere, als die, in der Menschen bis heute leben mussten. Das ist eine große Aufgabe, eine echte Herausforderung. Wir schaffen es aber. Wir haben sehr viel Zeit dafür.“

               Die Burschen reichten sich die Hände.

               „Schwören wir“, sagte Oktavianus. „Schwören wir, dass wir uns gegenseitig niemals verraten. Dass wir immer Seite an Seite stehen und uns gegenseitig helfen werden. Nach den Möglichkeiten und den Fähigkeiten jedes einzelnen von uns, die uns die Götter geschenkt haben.“

               Agrippa und Maecanas zitterten, als sie ihrem Freund in die Augen blickten. Sein Blick war scharf wie ein Messer und kühl wie Eis. Es war aber ein Blick, dem man nicht Widerstand leisten konnte.

               „Wir schwören“, kam ihnen über die Lippen.

               Oktavianus lächelte zufrieden. „Also dann an die Arbeit. Wir packen. Auf der anderen Seite der Adria gibt es viel zu tun.“